FDPFluchtursachen

Islamischen Staat gemeinsam bekämpfen

Alexander Graf LambsdorffAlexander Graf Lambsdorff
06.10.2015

Die Flucht ist nur ein Symptom, die Ursache sind die Konflikte in den Heimatländern der Menschen. FDP-Präsidiumsmitglied Alexander Graf Lambsdorff plädiert im Interview mit der "Landeszeitung für die Lüneburger Heide" für ein international koordiniertes Vorgehen gegen den IS: "In der Tat können wir nicht über Fluchtursachen debattieren ohne die Bereitschaft, den Islamischen Staat zu bekämpfen." Waffenlieferungen an die kurdischen Peschmerga-Kämpfer lehnte der Vizepräsident des Europaparlaments allerdings ab.

Lambsdorff verdeutlichte, dass der effektive Kampf gegen den IS in Syrien ohne den Russland und den syrischen Machthaber Baschar al-Assad nicht möglich sei. "Also müssen wir eine Übereinkunft mit dem Kreml anstreben, damit dieser seinen Verbündeten in die Lage versetzt, den IS zu besiegen. Gleichzeitig muss Assad aber auch dazu bewegt werden, seine Unterdrückungspolitik gegenüber der eigenen Bevölkerung zu beenden." Die vielen geflohenen Syrer müssten die Perspektive bekommen, in ein Land zurückzukehren, in dem die Menschenrechte respektiert würden, führte er aus.

Waffen an die Peschmerga-Kämpfer zu liefern, sieht Lambsdorff sehr kritisch: "Die Erfahrungen etwa aus Afghanistan lehren, dass derartige Waffen nach einer gewissen Zeit nahezu zwangsläufig in die falschen Hände geraten." Stattdessen sollte eine Allianz aus Deutschland, England, Frankreich und den USA sich an der Bekämpfung des IS aus der Luft beteiligen. "Jedes militärische Vorgehen muss aber grundsätzlich eingebettet sein in einen politischen Prozess, sonst bleibt die dauerhafte Stabilisierung der Region Illusion", unterstrich der Freidemokrat.

Europa kann sich weiterentwickeln

Lange hätten in der europäischen Flüchtlingspolitik nationale Egoismen regiert. "Der Schock, der dieses Denken nun hinweggefegt hat, ist so stark, dass die Nationalstaaten noch keine Strategie angesichts der neuen Herausforderungen haben", verdeutlichte Lambsdorff. Er kritisierte jedoch, dass "in einer solch sensiblen Angelegenheit wie der Verteilung der Flüchtlinge nun einzelne Mitgliedstaaten niedergestimmt wurden". Wenn Solidarität erzwungen werden müsse, helfe dies weder den Flüchtlingen noch den Helfern.

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Mit dem EU-Sondergipfel wird die Flüchtlingskrise zur Chefsache. Zu spät?

Alexander Graf : Dieser Gipfel kam definitiv zu spät. Wir haben eine große humanitäre Krise, die ja nicht erst vor kurzer Zeit ausgebrochen ist, sondern die schon seit Monaten, wenn nicht Jahren schwelt. Zur Rettung Griechenlands sind Gipfel um Gipfel einberufen worden, aber in der Flüchtlingskrise stand die Bundesregierung bis zur letzten Minute auf der Bremse.

Viele Länder klagen über Belastungen, ohne von der Zuwanderung wirklich betroffen zu sein. In den Syrien-Treuhandfonds, aus dem die Türkei mit zwei Millionen Flüchtlingen nun Geld erhält, haben bisher aber nur Italien und Deutschland eingezahlt. Fehlt der Krämergemeinschaft EU das Herz?

Graf Lambsdorff: Der EU der egoistischen Nationalstaaten fehlt ganz sicher das Herz. Der EU der Institutionen, also Kommission und Parlament, fehlt es dagegen nicht. Und es fehlt auch nicht den vielen Helfern in Deutschland und anderen Ländern, die anpacken, um den ankommenden Flüchtlingen zu helfen.

Schon im Sommer segneten die Minister den Plan der EU-Kommission zur Verteilung von 40 000 Flüchtlingen ab. Warum hinkt das Europa der Mitgliedsländer hinter dem Europa der Institutionen so hoffnungslos hinterher?

Graf Lambsdorff: Das liegt darin begründet, wer in dieser Frage den Ton angibt - und das sind die Innenminister. Deren Denken ist noch zu sehr von der Vorstellung geprägt, dass nur ins Land gelassen wird, wem das ausdrücklich erlaubt worden ist. Das ist in einer Ära großer Wanderungsbewegungen ein veraltetes Denken, wie wir ja alle gerade sehen können.

Der Schock, der dieses Denken nun hinweggefegt hat, ist so stark, dass die Nationalstaaten noch keine Strategie angesichts der neuen Herausforderungen haben. In den letzten Wochen war zu erleben, wie kopflos etwa die Bundeskanzlerin und Innenminister Thomas de Maizière handelten.

An Europas Südgrenzen zur Dritten Welt zeigt sich schon länger, dass das Dublin-System nicht krisentauglich ist. Wieso wurden entsprechende Warnungen so lange ignoriert?

Graf Lambsdorff: Athen und Rom haben schon vor Jahren gesagt, dass dieses System, wonach jeder Flüchtling dort registriert werden und bleiben muss, wo er in Europa ankommt, im Fall einer echten Krise nicht praxistauglich ist. Dies wurde von den Freien Demokraten, aber auch von SPD und Grünen ebenfalls erkannt. Aber CDU und CSU verweigerten sich bis zuletzt der Realität, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist -ja sogar Einwanderung braucht. Außerdem haben die Unionsparteien in der Bundesregierung über Jahre das Gebot europäischer Solidarität gegenüber den Südstaaten der Union verletzt, die die Hauptlast der ankommenden Flüchtlinge zu bewältigen hatten. Wie gesagt, Rom und Athen haben schon lange darum gebeten, Dublin zu überarbeiten, aber aus Berlin wurde ihnen die kalte Schulter gezeigt.

Entlarvt die Flüchtlingskrise die Untauglichkeit des Einstimmigkeitsprinzip auf Regierungschef-Ebene?

Graf Lambsdorff: Grundsätzlich ist das Einstimmigkeitsprinzip natürlich ein Hindernis, um angesichts akuter Krisen schnell zu Entscheidungen zu kommen. Ich halte es dennoch für falsch, dass in einer solch sensiblen Angelegenheit wie der Verteilung der Flüchtlinge nun einzelne Mitgliedstaaten niedergestimmt wurden. Erzwungene Solidarität hilft weder den Flüchtlingen noch den Helfern.

Warum wurden verbindliche Quoten nicht schon vor Wochen, sondern erst jetzt mit qualifizierter Mehrheit im Ministerrat beschlossen?

Graf Lambsdorff: Von Seiten der EU Zwang auszuüben, bedeutet gerade für die ost- und mitteleuropäischen Staaten einen dramatischen Eingriff in ihre Souveränität, wie sich jetzt an der Empörung in Prag, Bratislava, Bukarest und Budapest ablesen lässt. Hier mag die Erinnerung an den bloßen Satelliten-Status im Sowjetimperium noch mitschwingen. Deswegen hat die FDP vorgeschlagen, dass die Staaten, die bereit sind, sich in der Flüchtlingskrise zu engagieren – also Italien, Schweden, Österreich, Deutschland und viele andere - auf freiwilliger Basis einen Quotenschlüssel festlegen.

Dies würde den anderen Staaten die Chance eröffnen, sich diesem System anzuschließen, sobald es ihnen politisch möglich ist. Wenn sich neue EU-Mitglieder dieser "Koalition der Willigen" freiwillig anschließen könnten, käme die EU um die Gefahr eines Zerwürfnisses herum.

Stacheldraht, Tränengas und Armee an den Grenzen. Verrät Europa sein humanistisches Erbe?

Graf Lambsdorff: Es ist richtig, dass unsere Außengrenzen geschützt werden müssen und es ist auch nachzuvollziehen, dass die Flüchtlingsbewegung manche Staaten überfordert hat. Dennoch versteht sich Europa als Quell der Menschenrechte. Und das kann in der aktuellen Situation nur heißen, dass es oberste Priorität haben sein muss, Menschen zu retten, zu schützen und menschenwürdig zu versorgen. Gerade Ungarn hat aber teilweise Maßnahmen angeordnet, die mit den im EU-Vertrag niedergelegten Werten nicht vereinbar sind.

Die Türkei, Jordanien und der Libanon schultern seit Monaten vier Millionen Flüchtlinge. Europa legt bereits bei einigen Hunderttausenden die Errungenschaft der Reisefreiheit auf Eis. Ist Europa eine Schönwettergemeinschaft?

Graf Lambsdorff: Die syrischen Nachbarstaaten beherbergen die Flüchtlinge bereits seit Jahren, schon seit 2012. So gewährt die Türkei den Syrern auf ihrem Territorium auf vorbildliche Weise Schutz. Allerdings werden die Menschen nur untergebracht, sie haben keine Perspektiven auf Bildung oder auf Integration auf dem Arbeitsmarkt, deshalb ziehen sie weiter. Hauptziel ist Europa. Diese Herausforderung müssen wir auch in stürmischer See bewältigen, als Schönwettergemeinschaft haben wir in der sich wandelnden Welt des 21. Jahrhunderts keine Zukunft.

Erzwingt die neue Völkerwanderung westliches Engagement, um das Blutvergießen in Syrien zu beenden - entweder mit Assad als Verbündetem im Kampf gegen den IS oder mit Assad als abzusetzendes Hindernis für eine Stabilisierung?

Graf Lambsdorff: In der Tat können wir nicht über Fluchtursachen debattieren ohne die Bereitschaft, den Islamischen Staat zu bekämpfen. Und der nüchterne Blick auf die Realität zeigt: Die einzigen Feinde des IS, die derzeit Bodentruppen in der Region haben, sind die Syrer, gestützt von Russland. Also müssen wir eine Übereinkunft mit dem Kreml anstreben, damit dieser seinen Verbündeten in die Lage versetzt, den IS zu besiegen. Gleichzeitig muss Assad aber auch dazu bewegt werden, seine Unterdrückungspolitik gegenüber der eigenen Bevölkerung zu beenden. Die vielen Geflohenen müssen die Perspektive bekommen, in ein Land zurückzukehren, in dem die Menschenrechte respektiert werden. Im Moment gibt es da wenig Anlass zu Hoffnung. Aber ohne Assad wird ein Sieg über den IS nicht möglich sein.

Die derzeit effektivsten IS-Feinde haben sie nicht genannt, die Kurden. Die FDP ist aber gegen die Waffenlieferungen an die Peschmerga. Die USA räumten aber gerade selbst ein, dass ihre Luftschläge verpuffen...

Graf Lambsdorff: Wir haben uns kritisch zu diesen Waffenlieferungen geäußert, weil die Erfahrungen etwa aus Afghanistan lehren, dass derartige Waffen nach einer gewissen Zeit nahezu zwangsläufig in die falschen Hände geraten. Aus unserer Sicht wäre es sinnvoller, uns zusammen mit den USA, England und Frankreich an einer Bekämpfung des IS aus der Luft zu beteiligen. Was die Ausbildung von Peschmerga nicht ausschließt. Jedes militärische Vorgehen muss aber grundsätzlich eingebettet sein in einen politischen Prozess, sonst bleibt die dauerhafte Stabilisierung der Region Illusion.

Nun räumt auch die CDU ein, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Kommen nun legale   Zugangswege für Arbeitsmigranten und entsprechende Qualifizierungsprogramme für Südosteuropa?

Graf Lambsdorff: Das ist absolut notwendig. Von den Wirtschaftsverbänden und mittelständischen Betrieben wissen wir um den enormen Bedarf an Fachkräften. Nun gebe ich mich nicht der Illusion hin, dass der aus Albanien Zugewanderte umstandslos sofort als Fachkraft eingesetzt werden kann. Deshalb bedarf es auch einer gewissen Geduld, entsprechende Ausbildungsprogramme einzurichten. Eine fluchtartige, ungeordnete Zuwanderung würde derartige Bemühungen natürlich untergraben. Deshalb fordert die FDP seit langem ein Einwanderungsgesetz und ich freue mich, dass die Union nach zwanzig Jahren endlich Einsicht zeigt.

Sind die Reaktionen der Europäer zu kurzatmig, um den länger währenden Flucht- und Migrationsbewegungen gerecht zu werden?

Graf Lambsdorff: Wenn wir ehrlich sind, hat niemand in Wissenschaft, Publizistik oder Politik stimmige Konzepte, wie wir mit einer Globalisierung umgehen sollen, die von solchen Migrationsbewegungen geprägt wird. Deshalb bedarf es einer breiten Diskussion darüber, wie diese Migration so gesteuert werden kann, dass sie den Interessen der flüchtenden Menschen gerecht wird, aber auch unseren - und das, ohne dass unsere Bevölkerung überfordert wird. Auch die FDP hat dafür kein Patentrezept. Aber eines ist klar: Die Vogel-Strauß-Politik, zu bestreiten, dass Deutschland Einwanderungsland ist, und die Regelung von Zuwanderung zu verweigern, weil man an der Illusion festhält, dass das Dublin-System funktioniert, ist an ihr Ende gekommen.

Wie werden Historiker über Europa urteilen: Geplatzter Traum oder Erfolgsgeschichte?

Graf Lambsdorff: Wir haben es in der Hand, Europa zur Erfolgsgeschichte zu machen, wenn wir die Entscheidungsstrukturen zu einem "Europa der zwei Geschwindigkeiten" modernisieren, wenn wir eine Region des Wohlstands und sozialen Ausgleichs bleiben und wenn es uns gelingt, unsere humanitären Werte in praktische Politik umzumünzen, gerade auch angesichts der Flucht- und Migrationsbewegungen.

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