14.04.2019FDPFDP

BEER-Interview: Die EU hat mehr Baustellen als nur den Brexit

Die FDP-Generalsekretärin und Spitzenkandidatin der FDP zur Europawahl, Nicola Beer, gab dem „SWR“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Alfred Schmit.

Frage: Nun ist dies die Woche, da sich Großbritannien und die Europäische Union geeinigt haben auf eine weitere Verschiebung in Sachen Brexit. Wie gut stehen denn die Chancen, dass im Europawahlkampf bis Ende Mai noch von etwas Anderem geredet wird, als überhaupt nur noch vom Brexit?

Beer: Also meines Erachtens müssen wir uns da wirklich aktiv drum kümmern. Die Europäische Union hat noch mehr Baustellen, als nur den Brexit. Natürlich, jeder möchte einen harten Brexit vermeiden. Das hätte sehr schlechte, sehr negative Folgen. Nicht nur für Großbritannien, auch für die Europäische Union. Aber wir müssen ja insgesamt schauen, wie wir diese Europäische Union besser aufstellen. Dass die Briten gehen wollen, hat ja Ursachen, und das merken wir ja jetzt auch. Wir driften ja auch ansonsten auseinander, die Europäische Union droht von innen zu erodieren. Und da müssen wir dringend darüber reden, wie wir durch Reformen schneller entscheidungs- und handlungsfähig werden, wie wir uns auf die großen Fragen konzentrieren. Und auch wieder neue Aspekte angehen, wie zum Beispiel als ganzer Kontinent endlich wieder für Chancen und für Innovation zu stehen.

Frage: Glauben Sie denn, dass die Bundesrepublik, und vor allem die Kanzlerin Merkel, eine gute Position vertreten haben?

Beer: Also ich finde an und für sich, dass dieses Verlängerungsspiel schon zu lange geht - jetzt haben wir die Situation. Ich kann nachvollziehen: Das Einzige, wofür man momentan eine Mehrheit bekommt, ist, einen harten Brexit zu vermeiden. Deswegen gibt man hier immer weiter nach, aber letztendlich haben wir immer noch nicht gesehen, wofür diese Verlängerung jetzt dienen soll. Ich finde, es ist jetzt wirklich Führungsaufgabe - sowohl von Theresa May, als auch von Herrn Corbyn - in Großbritannien sich über die parteitaktischen Spielchen, die sie momentan haben, hinwegzusetzen, und uns schlicht auch zu sagen, wohin sie jetzt wollen. Geht es jetzt darum, noch einmal den Theresa-May-Deal abzustimmen, geht es darum, sich doch - und da ist ja ein großer Teil des britischen Unterhauses eigentlich dafür -eine Zollunion zu machen, also einen noch weicheren Brexit, als Theresa May das möchte? Oder will man sich - und das ist die andere große Hälfte des Parlaments - doch in einem zweiten Referendum die Möglichkeit geben, dass die Bevölkerung noch einmal abstimmt, welche dieser drei Varianten sie haben möchte, ob sie gegebenenfalls sogar da verbleiben will? Wir müssen mal schauen, wenn es wirklich noch zur Europawahl käme - Theresa May hat ja vor, also sie hat schon viel vor, vor der Europawahl noch ihren Deal durchzubringen - aber wenn es zur Europawahl käme, dann wäre das gegebenenfalls auch Gelegenheit für die Britinnen und Briten, quasi eine Abstimmung zu machen über die Zukunft Großbritanniens. Das müsste man dann sehen, wie das ausgeht.

Frage: Wo würden Sie denn anfangen? Sie haben eben gesagt, es muss auch Reformen geben in der EU. Was wäre auf Ihrer Prioritätenliste weit oben?

Beer: Es wäre weit oben, dass wir schneller entscheiden, dass wir schneller zu Ergebnissen kommen. Wenn ich mit Bürgerinnen und Bürgern rede, dann spiegeln die mir immer, ja wir sehen, da sind viele Gespräche. Ihr eilt von Gipfel zu Gipfel, vor allem von Krise zu Krise, aber hinten kommt nix bei raus, was mir in meinem Alltag weiterhilft. Ich denke, das müssen wir ändern. Dazu gehört, die Kommission zu verkleinern, dazu gehört, dass das Parlament endlich selbst Initiativen vorlegen kann und nicht darauf warten muss, dass die Kommission ihnen was zum Debattieren gibt. Dazu gehört auch, dass wir mehr Mehrheitsentscheidungen brauchen im Rat. Und ganz ehrlich, ich würde mich gerne auch als zukünftige Europaabgeordnete auf einen der Standorte - entweder Straßburg oder Brüssel - konzentrieren, lieber politische Arbeit, als permanentes Kofferpacken.

Frage: Wenn man sich anschaut, wie stark das Thema geflüchtete Menschen die vergangenen Wahlkämpfe in den zurückliegenden Jahren bestimmt hat, warum ist das diesmal so im Hintergrund?

Beer: Also ich erlebe das nicht so, dass das für Menschen im Hintergrund ist. Ich glaube, es ist jetzt in der Berichterstattung durch den Brexit verdrängt, aber ich werde in nahezu jedem Termin darauf angesprochen, und ich merke auch, wie sehr die Menschen da im Detail daran interessiert sind. Und das ist ja genau eine der großen Aufgaben, die jetzt so ein bisschen aus dem Blick gerät, und vor allem eben auch eine der großen Aufgaben, worauf die Europäische Union sich eigentlich konzentrieren sollte, weil das können wir nur gemeinsam lösen. Und die Menschen, denen ich begegne, die finden es eben völlig unhaltbar, dass nach wie vor Menschen im Mittelmeer ertrinken, aber was eben auch damit zusammenhängt, dass wir keine gemeinsame Migrationspolitik haben, die das abstellt. Wir haben ja noch nicht mal jetzt mit dem Abstellen von Sophia die gemeinsame Seenotrettung an dieser Stelle. Und da wollen die Menschen eine Lösung. Die wäre ja auch einfach, wenn nicht gerade wir Deutschen 2015 so viel Porzellan zerbrochen hätten. Ich hoffe sehr darauf, dass wir nach der Europawahl hier noch einmal den Tisch leer machen und neu anfangen, zu sortieren. Ein System, das klarstellt, es ist da für politisch religiös Verfolgte, für Bürgerkriegsflüchtlinge, aber eben auch die dritte Säule klar regelt - nämlich für qualifizierte Einwanderer. Und das ist ja momentan der Bereich, der fehlt. Da haben wir mit der Blue Card nur ein sehr untaugliches Mittel für Akademiker. Das reicht nicht, Akademiker mit einem Vertrag und hohem Anfangsgehalt. Sondern es gibt ja ganz viele andere, die hier sich etwas aufbauen wollen. Und gleichzeitig suchen wir eben auch Fachkräfte in anderen Bereichen. So das ist der eine Punkt. Und damit verbunden dann eben auch ein Aufbau von Frontex. Da ist jetzt was beschlossen worden, dass man gemeinsam europäische Außengrenzen sichern will, aber das ist viel zu spät. Also wenn wir heute 2019 erst über 2027 reden. Mit Verlaub, die Menschen erwarten da ein schnelleres Handeln der Europäischen Union, weil sie eben auch sicherstellen wollen, dass die Binnengrenzen offenbleiben. Schlagbäume zwischen Österreich und Bayern, das ist wirklich lächerlich. Das widerspricht jedem europäischen Gedanken, und das muss abgestellt werden, dass sowas nochmal aufkommen kann.

Frage: Sie sind Ende Januar von Ihrer Partei mit guter Mehrheit gewählt worden, aufgestellt worden für diesen Posten. Zuvor war der Spiegel mit einer Geschichte gekommen zu Jahresbeginn, Sie hätten möglicherweise Sympathien für den ungarischen Regierungschef Orban. Das haben Sie dann dementiert auf dem Europaparteitag. Was bedeutet denn eigentlich Nähe? Und wo ist denn der Unterschied zwischen vielleicht freundschaftlichen Beziehungen nach Ungarn und zu Menschen, die Orban möglicherweise nahestehen und zu einer möglichen Nähe zur Orban selbst?

Beer: Also meines Erachtens ist es ein großer Unterschied, ob ich Sympathien für eine Regierung hege - das tue ich im Falle der Regierung Orban nicht - oder ob ich Sympathien für Ungarinnen und Ungarn, für Mittelosteuropa hege. Ich bin auch ganz persönlich noch davon beeinflusst. Die Familie meiner Mutter stammt aus Dresden, ich kenne noch die Erzählungen von Flucht und Vertreibung. Ein Teil der Familie ist dann in der späteren DDR eben geblieben in Dresden. Wir haben Päckchen geschickt, ich weiß, wie eingeschränkt die Kommunikation war. Das, was ich dann immer miterlebt habe, waren dann eben die älteren Tanten, die nachdem sie eben in Rente gegangen waren, dann rüber durften und hier von meiner Familie aufgenommen wurden. Von daher war das für mich einen Riesenglücksfall, als die Mauer fiel. Und man muss dazu sagen, dass diese Mauer in Deutschland nicht gefallen wäre, wenn wir nicht den Kampf der Polen gehabt hätten, der Solidarnosc. Wenn wir nicht den Mut der Ungarinnen und Ungarn gehabt hätten, die Grenzschussanlagen abzubauen. Oder auch der Tschechen damals, die DDR Flüchtlinge in die Botschaft zu lassen und dann auch wieder rauszulassen. Also deswegen haben wir gerade diese Erweiterung nicht nur Deutschlands, sondern auch der Europäischen Union, den Mittelosteuropäern zu verdanken. Und da treibt mich schlicht um, warum gerade jetzt das immer weiter auseinanderdriftet. Also ich sehe da einfach eine Spaltung in dem Blick auf die Europäische Union. Und das möchte ich gerne wieder ändern. Die waren so euphorisch 2004 beim Beitrittsprozess. Wir haben ja hier auch aus Deutschland Partnerschaften gehabt mit bestimmten Regionen in Mittelosteuropa, haben den Verwaltungsaufbau begleitet, haben gedacht, so - jetzt ist wirklich alles erreicht. Und eben fällt die Kommunikation auseinander, eben gibt es immer mehr Spaltung und zu wenig Brücken. Und die Brücken möchte ich gern bauen. Ich glaube, da braucht es einen zivilgesellschaftlichen Dialog, da braucht es aber erst mal Hinhören. Deswegen, wenn ich in Ungarn oder Polen unterwegs bin - ich frage erst einmal, um zu verstehen, aus welchem Blickwinkel da manche Entscheidungen auch betrachtet werden. Und dann eben in die Diskussion zu kommen. Hans-Dietrich Genscher hat das mal genannt, sich in die Schuhe des anderen zu stellen. Und es hat nichts damit zu tun, dass man die Meinung des Anderen eins zu eins übernimmt. Aber es hat was damit zu tun, zu verstehen, wo er herkommt, wie er draufblickt. Und aus dieser Perspektive heraus dann eben besser eine gemeinsame andere Lösung zu finden, als das, was er sich vielleicht jeweils vorstellt.

Frage: Nun haben viele diese Europawahl im Mai jetzt als Schicksalswahl bezeichnet. Was daran ist denn eigentlich schicksalhaft, wenn wir jetzt mal den ganzen Komplex Brexit außen vor lassen, der ja eine eigene – nun ja – Verhandlungssache ist?

Beer: Also ich glaube, dass es eine Richtungsentscheidung ist. Wir sehen momentan, dass die EU von innen her zerbröselt. Das hat zwei Gründe: das eine ist sicherlich die Attacke der Populisten, der Nationalisten rechts wie links. Ich meine, wir haben in Italien eine Regierung mit Rechts- und Linksnationalisten. Und auf der anderen Seite ist es aber auch der Stillstand, den die faktische Große Koalition Schwarz-Rot in Brüssel produziert hat, also Europäische Volkspartei und Europäische Sozialisten. So, und dagegen gibt es eine Möglichkeit, nämlich Reformen, eine Reformagenda für die Europäische Union nach der Europawahl. So, und genau diese Richtungsentscheidung muss man treffen. Haben wir den Mut, haben wir die Kraft, diese Reformen anzugehen? Das wird schwierig, das ist nicht leicht, da werden wir auch an die europäischen Verträge ranmüssen. Aber ich glaube, die Sache Europa ist es wirklich wert - mir jedenfalls ist sie so viel wert - dass ich wirklich alle Mühe dransetze, alle Leidenschaft, alles Engagement, um genau diese Reformen voranzutreiben.

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