22.05.2019FDPFDP

BEER-Interview: Freiheit geht durch staatliche Bevormundung verloren

Die FDP-Spitzenkandidatin zur Europawahl und stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Nicola Beer gab dem Wahlmagazin "Das kleine Einmaleins der Europawahlen" das folgende Interview. Die Fragen stellten Dina Körzdörfer und Lucius Maltzan. Das Interview wurde auch auf Focus Online veröffentlicht.

Frage: Frau Beer, wie geht es Europa?

Nicola Beer: Momentan ist die EU in keiner guten Verfassung. Europa könnte es sicherlich besser gehen. Mir tut weh zu sehen, wie die einzelnen Staaten auseinander driften: große und kleine, Nord und Süd, Ost und West. Die großen Errungenschaften des Kontinents – Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Wohlstand für alle sind aktuell bedroht. Ich will zusammen mit den Freien Demokraten im Europaparlament etwas dagegen tun, weil ich glaube, dass wir Europa durch Reformen wieder gut aufstellen können.

Frage: In Ihrem Wahlprogramm heißt es, Europa solle sich in verschiedenen Geschwindigkeiten entwickeln. Haben Sie nicht Angst, dass dadurch neue Gräben in Europa entstünden?

Beer: Es stimmt, wir wollen ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten. Das bedeutet: Wir nehmen verschiedene Projekte in Angriff, für die sich einzelne Mitgliedsstaaten schon einmal zusammenschließen können, ohne dass wir gleich alle 27 überzeugen müssen. So können diejenigen, die nicht gleich mitmachen wollen, nicht alle anderen aufhalten. Wir haben solche Projekte ja schon: Nehmen Sie den Schengen-Raum oder die Eurozone als Beispiele. Genauso könnten wir zum Beispiel bei der Verteidigung oder bei der Innovationspolitik mit bestimmten Projekten vorangehen. Dabei gilt: Jeder kann jederzeit dazustoßen, und diejenigen, die den Anfang machen, überzeugen hoffentlich auch bald die anderen.

Frage: Sie fordern unter anderem einen Konvent bis 2020, der eine europäische Verfassung ausarbeiten soll, eine EU-Armee und eine europäische Außenministerin. Das klingt, als sollte die EU langsam zum vollwertigen Staat werden.

Beer: Wir wollen ein föderales, dezentrales Europa. Ich hänge sehr an dem europäischen Motto „Einheit in Vielfalt“. Das bedeutet: Einigkeit in den großen Fragen, aber keine Vereinheitlichung. Gerade die regionale Ebene möchten wir wieder verstärkt zur Geltung kommen lassen. Dafür braucht es aber ein gemeinsames europäisches Bewusstsein, gerade wenn wir in Bereichen wie Außen- oder Verteidigungspolitik voranschreiten wollen. Was könnte uns da besser helfen als eine intensive Diskussion unter den Bürgerinnen und Bürgern über unsere Werte, Prinzipien und Handlungsmaximen?

Frage: Glauben Sie aber wirklich, dass dafür eine Bereitschaft besteht? In ganz Europa haben Bewegungen Zulauf, die jede Form eines europäischen Superstaates vehement ablehnen.

Beer: Aber das ist ja genau die Frage, die die Bürgerinnen und Bürger am 26. Mai zu entscheiden haben: Gibt es etwas, was wir wirklich gemeinsam machen wollen? Haben wir bestimmte Politikfelder – Migration, Klima- und Energiepolitik, äußere und innere Sicherheit, Freihandel, innovatives Europa – wo wir gemeinsam stärker sind? Dieses Gemeinsame müssen wir auch auf eine gemeinsame Grundlage stellen: Eine Verfassung, die unseren Wertekompass bildet und unsere Entscheidungen prägt. Gleichzeitig müssen wir das europäische Parlament stärken und die EU-Kommission verkleinern, um Europa grundlegend neu aufzustellen.

Frage: Nun haben Staaten im Allgemeinen aber nicht nur eine Verfassung und ein Parlament, sondern auch eine einheitliche Steuerpolitik und ein gemeinschaftlich organisiertes Sozialsystem. Die FDP lehnt das ausdrücklich ab. Weshalb?

Beer: Wir haben in den europäischen Verträgen die Grundlagen festgelegt. Meines Erachtens ist es zum Beispiel nach wie vor besser, wenn man bedürftige Menschen vor Ort unterstützt, bis sie wieder Fuß fassen können. Ich glaube, die europäische Ebene ist da schlicht zu weit weg. Wir machen das in Deutschland ja auch bewusst auf kommunaler Ebene und nicht national. Außerdem wäre es viel zu kompliziert, die sehr unterschiedlichen Systeme zu vereinheitlichen. Genauso befürworte ich den Wettbewerb in der Steuerpolitik, wenn er denn auf eine klare, faire Grundlage gestellt ist. Dazu fordern wir zum Beispiel eine gemeinsame Bemessungsgrundlage bei der Körperschaftsteuer. Aber dann wollen wir einen Wettbewerb der Steuersätze, wie es ihn auch in Deutschland zwischen den verschiedenen Bundesländern gibt, und bloß keine Zentralisierung oder gar ein Recht der EU, direkt Steuern zu erheben.

Frage: Der Freihandel, eine weitere Säule des Liberalismus, steht von links wie rechts unter Beschuss. Wie erklären Sie sich das?

Beer: Das ist die Wende rückwärts, der Drang zur nationalen Abschottung. Ohne Zweifel hat der Freihandel allen innerhalb Europas und unseren Freihandelspartnern Vorteile und Wohlstand gebracht – ganz gleich, ob es sich um Industrie-, Schwellen- oder Entwicklungsländer handelt. Wir beseitigen Barrieren, indem wir Zölle abschaffen und unsere Standards gegenseitig anerkennen. Gleichzeitig gelingt es uns in Europa, unsere Standards zu exportieren. Die wiederum transportieren aber auch unsere Werte, sei es zu Rechtsstaat, Demokratie, Arbeitsschutz oder Umweltschutz. So ermöglichen wir ein besseres Leben – egal, mit wem wir Handel treiben.

Frage: Die Energiewende und den Atomausstieg verurteilt die FDP als „deutschen Alleingang“ und wünscht sich stattdessen eine europäische oder gar eine globale Strategie. Gleichzeitig ist fraglich, ob das in naher Zukunft realistisch ist. Könnte es nicht auch wertvolle Zeit vergeuden, darauf zu warten?

Beer: Nein, das glaube ich nicht. Es macht ja keinen Sinn, immer wieder immer mehr Geld in falsche Instrumente zu investieren, nur weil sie gerade politisch en vogue sind. Es ist nicht Aufgabe der Politiker, sondern der Ingenieure, der Wissenschaftler und letztlich des Marktes, ein Urteil über die Tauglichkeit einer Technologie zu fällen. Deswegen unterstütze ich Instrumente wie den europaweiten CO2-Zertifikatehandel, den wir dringend auf weitere Sektoren wie Wärme oder Verkehr ausdehnen sollten. So bekommt klimaschädliches Verhalten einen Preis. Das gilt auch für den Kohleausstieg: Es wäre deutlich sinnvoller, mit Steuergeldern Emissionszertifikate aus dem Markt zu kaufen, statt dieses Geld den Kraftwerksbetreibern zu geben. Denn diese bauen die ganze Anlage anderswo in Europa wieder auf, produzieren also weiter dieselben Emissionen und werden dafür auch noch entschädigt. Und zu guter Letzt sollten wir viel mehr global in Klimaschutzmaßnahmen investieren: Das ist viel effektiver als alle Versuche, hierzulande auf den letzten Metern noch umweltfreundlicher zu werden.

Frage: Muss man eine Expertin oder ein Experte sein, um sich zum Klimaschutz eine Meinung zu bilden?

Beer: Nein. Aber es braucht mehr als das durchschnittliche Wissen eines Politikers, um neue Technologien zu schaffen, die noch wirksamer sind als die jetzigen.

Frage: Das bezweifelt wahrscheinlich niemand. Viele junge Menschen vermissen aber den politischen Ehrgeiz.

Beer: Ich glaube, die Ziele sind schon ehrgeizig. Nehmen Sie das Pariser Klimaschutzabkommen! Wichtig wäre es aber, in Europa gemeinsam aufzutreten und auch anderswo die Modernisierung zu unterstützen. Das bringt dem weltweiten Klima mehr, als wenn Deutschland allein den Musterschüler spielt.

Frage: Themawechsel: Migration. Sie betonen oft den Unterschied zwischen Flucht mit Anspruch auf Asyl und andersartiger Migration. Auch das Dublin-Abkommen wollen Sie ersetzen. Wenn wir uns das jetzt verbildlichen: Ein Migrant kommt an der italienischen Küste an. Was passiert mit ihm, wer ist zuständig?

Beer: Ich möchte schon verhindern, dass jemand erst einen Schlepper bezahlen muss, in ein Boot steigt und sich auf die gefährliche Überfahrt macht. Wir brauchen ein klares System, das zwischen drei Dingen unterscheidet: Asyl, also individuelle politische oder religiöse Verfolgung – zum Beispiel ein Menschenrechtler, der nach Deutschland flieht, weil er zuhause verfolgt wird; Kriegsflüchtlinge, die ein Recht auf befristete Aufnahme haben; und wirtschaftliche Zuwanderung, die nach einem Punktesystem ablaufen sollte. Solch ein System mit klaren Kriterien und Regeln könnte auch aus den Herkunfts- und Transitländern betrieben werden und würde die Verfahren für echte Asylanten und Kriegsflüchtlinge entlasten. Denn mit dem Punktesystem schaffen wir eine legale Einreisemöglichkeit für die große Gruppe derer, die sagen: „Also politisch verfolgt bin ich nicht, aber bislang war das mein einziges Törchen nach Europa. Wenn ich aber meine Qualifizierung unter Beweis stellen könnte, dann versuche ich es lieber auf sicherem Wege.“ Auch Menschen, die noch keinen garantierten Arbeitsvertrag im Ankunftsland haben, sollen dann kommen können, solange sie während der Jobsuche keine Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Keine der drei Gruppen müsste dann noch einen Schlepper finanzieren.

Frage: Stichwort qualifizierte Einwanderung: Europa würde natürlich enorm davon profitieren, sich weltweit die besten Bewerber herauszupicken. Könnte dieses System die Not in manchen Herkunftsländern nicht weiter verschärfen?

Beer: Es soll ja nicht das Einzige bleiben, was Europa tut. Wir wollen auch mit der Entwicklungszusammenarbeit vor Ort Perspektiven und Chancen schaffen. Außerdem ist es nicht ausgeschlossen, dass sich positive Effekte für die Herkunftsregionen ergeben: Wer hier Erfahrungen sammelt und Erfolg hat, könnte danach auch wieder etwas im Heimatland auf die Beine stellen. Letztendlich glaube ich, dass man Menschen nicht aufhalten kann, die sich vorgenommen haben, ihr Glück fern der Heimat zu suchen. Wir müssen daher auf beiden Seiten agieren: Zum einen die Entwicklungsperspektiven in den Herkunftsländern steigern, zum anderen die Möglichkeit bieten, sich hier etwas aufzubauen – sei es, um dauerhaft zu bleiben, sei es, um ins Heimatland zurückzukehren.

Frage: Gibt es Grenzen des Wachstums?

Beer: Es kommt darauf an, wie man Wachstum gestaltet. Wir wollen Wachstum ökologisch, ausgewogen und nachhaltig erwirtschaften. Dann brauchen wir diesem Wachstum auch keine Grenzen zu setzen.

Frage: Ist der Liberalismus in unserem gegenwärtigen Wirtschaftssystem schon ausgereizt?

Beer: Derzeit haben wir ein gutes Sicherheitsnetz aufgespannt. Es gibt aber durchaus noch Bereiche, wo man den Anspruch noch ein bisschen erhöhen kann, sich nicht auf den Lorbeeren anderer auszuruhen. Außerdem müssen wir viel mehr in Qualifizierung investieren, damit Menschen während ihres Berufslebens mehrmals die Tätigkeit wechseln können. Wir sehen ja, dass die Veränderungen am Arbeitsmarkt getrieben durch die Digitalisierung immer schneller und häufiger werden. Das bedeutet auch für den Einzelnen, sich darauf einstellen zu müssen, dass eine Ausbildung oder ein abgeschlossenes Studium nicht mehr für 40 oder 45 Jahre Erwerbstätigkeit reichen.

Frage: Nicht alle können sich für diese raschen Veränderungen wappnen. Ist die ständige Beschleunigung ein Mitgrund für die neuen Unsicherheiten über die eigene Identität, Globalisierungsskepsis, Heimatlosigkeit und Entwurzelung?

Beer: Man kann dieser Gefahr sehr wirksam begegnen. Es sollte nicht mehr darauf ankommen, ob ich mir Bildung leisten kann. Stattdessen müssen wir ein zweites Bildungssystem des lebenslangen Lernens einrichten, das jedem die Chance auf neue Qualifizierungen bietet. Das könnte zum Beispiel über die Arbeitgeber geschehen. Auch ein steuerlich begünstigtes System des Bildungssparens wäre eine Möglichkeit. Warum bezuschussen wir das Bausparen, aber nicht das Bildungssparen? Wir stellen uns da Lebensarbeitszeitkonten vor: Da kann man Überstunden oder Urlaubstage investieren, um sich dann einen Auslandsaufenthalt oder eine Weiterbildung leisten zu können. Auch vermögensbildende Leistungen des Arbeitgebers oder Steuervergünstigungen würden helfen.

Frage: Letztlich nützen diese Vorschläge aber doch nur einem gewissen Teil der Gesellschaft.

Beer: Nein, ich will damit eben alle erreichen! Und wenn ich zeige, dass ich meines Glückes Schmied bin, dann sehen auch Arbeitgeber: Aha, es lohnt sich, in meine Mitarbeiter zu investieren, weil sie in fünf Jahren schon eine ganz andere Aufgabe in meinem Unternehmen ausführen werden.

Frage: Haben Sie Verständnis für jemanden, der 45 Jahre alt ist, in zwei befristeten Teilzeitverträgen steckt, zwei Kinder großzieht und der Zukunft nicht mit diesem Optimismus entgegensieht?

Beer: Sicher. Aber ich würde jederzeit mit dieser Person darüber diskutieren, dass sie am besten über Qualifizierung und Fortbildung aus ihrer Lage herauskommt.

Frage: Das könnte sie?

Beer: Das könnte sie, weil ich daran glaube, dass jeder Mensch Potential hat.

Frage: Schafft der Liberalismus sich selbst ab?

Beer: Nein, auf gar keinen Fall! Es gibt jeden Tag Anlässe, für Freiheit, Fortschritt und Frieden einzutreten. Gerade Freiheit kann schleichend verloren gehen durch Bevormundung und durch staatliche Eingriffe. Man muss sich immer wieder bewusst machen, dass man für diese Freiheiten kämpfen muss.

 

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