FDPFlüchtlingspolitik

Deutschland wirft Europarecht über Bord

Wolfgang KubickiWolfgang Kubicki übt scharfe Kritik an der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung
16.10.2015

Im Interview mit der "Welt" hat FDP-Vize Wolfgang Kubicki die Entwicklung der Flüchtlingskrise analysiert. Er kritisierte den Kurs der Kanzlerin und warnte, dass Deutschland mit der Entscheidung, die Dublin-Verordnung zu missachten, gegen europäisches Recht verstoße. "Dank des herzlichen Einfalls der Bundeskanzlerin, die Arme auszubreiten und die Flüchtlinge zunächst aus Ungarn bei uns willkommen zu heißen, haben wir keinen Überblick mehr", konstatierte er.

"Selbst bei den behördlich erfassten Flüchtlingen geht uns auf dem Weg von Bayern in andere Bundesländer fast die Hälfte verloren", gab Kubicki mit Blick auf die chaotische Lage zu bedenken. Für ihn ist es die dringlichste Aufgabe der Politik, Maßnahmen zu ergreifen, um den Flüchtlingsstrom abebben zu lassen. "Wenn uns das nicht gelingt, verlieren die Menschen das Vertrauen in die demokratischen Institutionen. Das wäre dann eine Demokratiekrise", mahnte er.

Einarbeitung braucht Zeit und Geduld

Kubicki sprach außerdem über die Bemühungen von Politik, Wirtschaft und Helfern um die erfolgreiche Eingliederung der Flüchtlinge in die Gesellschaft. Die beste soziale Integration gelinge, wenn die Flüchtlinge arbeiten, unterstrich er. "Viele Betriebe zeigen eine große Bereitschaft, Flüchtlinge so der Lebenswirklichkeit näher zu bringen. Denen sollten wir nicht mit Aufforderungen begegnen, den Mindestlohn von 8,50 Euro zu zahlen", stellte der Freidemokrat klar. Schließlich seien Flüchtlinge auch nicht vom ersten Tag an als Mitarbeiter voll einsetzbar. Kubicki berichtet: "Ein befreundeter Bauunternehmer wollte einen syrischen Architekten einstellen. Jetzt stellt er fest, dass er ein Jahr braucht, den Syrer umfassend einzuarbeiten. Der muss erst einmal die deutschen Baunormen verstehen. Vom Konzept der energetischen Sanierung hat der auch noch nie gehört."

Lesen Sie hier das gesamte Interview.

Herr Kubicki, können Sie sich vorstellen, in Ihrer Villa mit Ostseeblick Flüchtlinge aufzunehmen?

Zunächst einmal lebe ich nicht in einer Villa, sondern in einem hart erarbeiteten Einfamilienhaus. Wenn wir einen Katastrophenfall hätten, könnte ich mir das vorstellen. Aktuell wäre das aber keine sinnvolle Lösung. Wir würden damit wieder besondere Bilder in die weite Welt senden: Flüchtlinge ziehen in wunderschöne Häuser. Damit würden wir den Zustrom in unser Land weiter verstärken. Das Gegenteil müssen wir tun.

Kennen Sie FDP-Politiker, die Flüchtlinge unterbringen?

Nein. Das ist auch nicht Aufgabe von Politikern. Wir müssen den Menschen, die langfristig bleiben, Integrationsmöglichkeiten bieten.

Die private Aufnahme von Flüchtlingen wäre doch eine effiziente Integrationsmaßnahme.

Dann müsste ich aber auch darüber nachdenken, Obdachlose in mein Haus aufzunehmen. Hier geht es nicht um mitmenschliche Individualleistungen, sondern um eine Kollektivleistung. Und da sehe ich als dringlichste Aufgabe, den Flüchtlingsstrom abebben zu lassen. Wenn uns das nicht gelingt, verlieren die Menschen das Vertrauen in die demokratischen Institutionen. Das wäre dann eine Demokratiekrise.

Zeigen wir den Flüchtlingen schon rechtzeitig genug, welche Regeln hier herrschen?

Teilweise tun wir das. Es gibt entsprechende Initiativen, die hier wichtige Arbeit leisten. Aber angesichts der Masse an Flüchtlingen, die in so kurzer Zeit in unser Land kommen, versagen wir bereits bei der Aufnahme. Nicht alle Flüchtlinge kennen unsere Rechtsregeln. Viele kommen aus traditionell antisemitischen, homophoben Gesellschaften. Die beste soziale Integration gelingt, wenn die Flüchtlinge arbeiten. Viele Betriebe zeigen eine große Bereitschaft, Flüchtlinge so der Lebenswirklichkeit näher zu bringen. Denen sollten wir nicht mit Aufforderungen begegnen, den Mindestlohn von 8,50 Euro zu zahlen.

Arbeitsintegration ist ein allmählicher Prozess

Da warnen Kritiker schon vor einem Sonderarbeitsmarkt.

Es handelt sich bei Flüchtlingen zunächst nicht um Menschen, die produktive Arbeit verrichten, sondern die lernen müssen. Sie werden allmählich in den Zustand gebracht, produktiv zu sein. Es ist absurd zu glauben, die Flüchtlinge seien als Mitarbeiter vom ersten Tag an voll einsetzbar. Ein befreundeter Bauunternehmer wollte einen syrischen Architekten einstellen. Jetzt stellt er fest, dass er ein Jahr braucht, den Syrer umfassend einzuarbeiten. Der muss erst einmal die deutschen Baunormen verstehen. Vom Konzept der energetischen Sanierung hat der auch noch nie gehört.

Welcher Anfangslohn wäre angemessen?

Diese Frage stellt sich nicht. Die Unternehmen, die Flüchtlinge aufnehmen, sollten dafür zunächst steuerlich entlastet werden oder Lohnzuschüsse für das erste Jahr erhalten.

Wissen Sie eigentlich, wie viele Flüchtlinge in diesem Land sind?

Nein. Dank des herzlichen Einfalls der Bundeskanzlerin, die Arme auszubreiten und die Flüchtlinge zunächst aus Ungarn bei uns willkommen zu heißen, haben wir keinen Überblick mehr darüber, wer alles über die grüne Grenze kommt. Selbst bei den behördlich erfassten Flüchtlingen geht uns auf dem Weg von Bayern in andere Bundesländer fast die Hälfte verloren.

Wenn man Innenpolitiker in diesen Wochen sprechen hört, könnte man meinen, es werde bald der Notstand in diesem Land ausgerufen.

Ich will keine Katastrophenszenarien malen, das hilft nicht weiter, und doch muss ich sagen: Wir befinden uns in der Vorstufe zum logistischen Notstand. Wir haben kaum noch Unterbringungsmöglichkeiten, kaum noch Betreuungsmöglichkeiten. Allein die medizinische Versorgung stellt uns vor kaum lösbare Probleme. In unserer Not haben wir in Schleswig-Holstein das Schloss Salzau zur Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert. Die Flüchtlinge werden dort nun reichlich Fotos mit ihren Handys machen und die zu ihren Verwandten nach Syrien oder Mali schicken. Die denken nun, hier leben wir alle in Schlössern. Ich will grundsätzlich werden: Deutschland bricht gerade Europarecht. Deutschland verstößt gegen die Dublin-III-Verordnung, wonach wir jeden Flüchtling in das Land zurückschicken müssten, aus dem er nach Deutschland eingereist ist. Momentan kann sich aber jeder Flüchtling aussuchen, in welchem Land er leben möchte.

Die Kanzlerin meint, dagegen könne man nichts tun.

Das finde ich lustig. Diese Politik in Birkenstocksandalen gepaart mit moralischer Überheblichkeit ist unangebracht. 25 der 28 EU-Staaten machen eine völlig andere, restriktivere Asylpolitik als wir. Das ist auch nicht menschenrechtswidrig. Und wir wundern uns, dass alle Flüchtlinge zu uns wollen.

Die Stimmung verändert sich

In der Unionsfraktion ist schon von "Regierungsabwahl" die Rede. Ist der Vertrauensverlust in die Kanzlerin schon so dramatisch?

Ich merke, dass die Stimmung sich massiv verändert. Die Deutschen verlieren ihr Vertrauen in den Rechtsstaat, in unsere Fähigkeit, Probleme zu lösen. Das Gefühl der Überforderung stellt sich ein.

Steht Merkels Wiederwahl 2017 auf dem Spiel?

Wenn Frau Merkel so weitermacht, erreicht sie das Jahr 2017 gar nicht mehr als Kanzlerin. Wenn die Landtagswahlen 2016 für die Union nicht gut ausgehen und die Stimmung in der Bevölkerung sich weiter verschlechtert, wird die Union sich nach einer Alternative umsehen. Dann wird man Angela Merkel stürzen. Die Unions-Abgeordneten mit ihren vermeintlich sicheren Wahlkreisen merken jetzt schon: Nichts ist mehr sicher. Irgendwann werden diese Politiker panisch. Die Umfragen zeigen schon in diese Richtung. Die Gefühlslage wird dann sein: Die Merkel muss weg, die hat uns das eingebrockt. Auch wenn es so nicht stimmt, wird es dieses Ventil geben. Schon bis Weihnachten werden sich die politischen Prozesse weiter verschärfen.

Vor allem bei der Frage des Familiennachzugs.

Das ist das nächste Problem. Der Familiennachzug ist verfassungsrechtlich garantiert. Wir können ihn nicht verhindern, nur zeitlich verzögern. Die Familien haben in der Regel ihre Söhne vorgeschickt, weil sie am besten bei Kräften sind. Wir müssen wirklich überlegen, ob wir den Nachzug auf ein Minimum begrenzen: auf Ehepartner nach mindestens einem Jahr Ehe und gemeinsame Kinder.

Schwarz-Rot nutzt jedenfalls die enorme Aufmerksamkeit für die Flüchtlingskrise, um unbeschadet ihre Vorratsdatenspeicherung zu beschließen. An diesem Freitag stimmt der Bundestag über das Gesetz ab. Was bedeutet es für die Deutschen?

Den Deutschen wird vorgegaukelt, dass ihnen mehr Sicherheit gegeben wird, was allerdings Unsinn ist. Offenbar glaubt die Koalition, dass Terroristen so dumm sind, sich ausschließlich mit Kommunikationsmitteln auszutauschen, die die Behörden überwachen. Dieses Gesetz wird auch unser Kommunikationsverhalten verändern. Traut sich ein Mandant noch, beim Strafverteidiger Wolfgang Kubicki anzurufen? Oder ist das schon ein Hinweis darauf, dass der Mandant eine Straftat begangen hat? Der Europäische Gerichtshof hat erklärt, dass es bei Berufsgeheimnisträgern gar nicht zu einer Speicherung kommen darf. Dass diese Regierung das ignoriert, fordert eine Klage geradezu heraus. Diesen Rechtsbruch mit Ansage werde ich persönlich bekämpfen.

Der Strafverteidiger Kubicki persönlich klagt in Karlsruhe?

Selbstverständlich. Ich bin als Anwalt betroffen - und als Abgeordneter, der Immunität genießt. Ich muss mir ernsthaft überlegen, ob ich noch mit Journalisten telefonieren kann. Ich kann mir nicht mehr sicher sein, ob diese Kommunikationsdaten irgendwann gegen mich verwendet werden. Und welcher Informant kann noch mit Journalisten telefonieren?

Es ist der zweite Versuch, eine Vorratsdatenspeicherung einzuführen. Der Gesetzentwurf von Justizminister Heiko Maas verpflichtet Telekommunikationsunternehmen, die Telefon- und Internetverbindungsdaten aller Bürger zehn Wochen lang zu speichern. Wie lange wird diese Regelung wohl Bestand haben?

Vielleicht können wir die Vorratsdatenspeicherung schon im Rahmen eines einstweiligen Anordnungsverfahrens stoppen, bis die Hauptverhandlung erfolgt. Danach werden sich die Karlsruher Richter sicher noch zwei, drei Jahre damit befassen. Denkbar ist auch, dass die Richter das Gesetz offenkundig verfassungswidrig finden und eine Klage schnell entscheiden.

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