FDPEuropäische Union

EU braucht jetzt kraftvolle und konstruktive Führung

Alexander Graf LambsdorffAlexander Graf Lambsdorff plädiert für einen Europäischen Konvent
11.07.2016

Mit Blick auf die politische Orientierungslosigkeit in London und Brüssel nach dem Brexit-Votum fordert der Vizepräsident des EU-Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff, mit Nachdruck einen Europäischen Konvent. Es brauche dringend "ein Zusammentreffen von nationalen Regierungen, Europaparlamentariern und nationalen Parlamentariern", sagte er dem "Handelsblatt". Es solle ein öffentlicher Reformkongress sein und kein technisches Treffen hinter verschlossenen Türen, betonte der Freidemokrat. Er ist überzeugt: "Wir brauchen eine Debatte, welches Europa wir in Zukunft wollen."

Dass eine solche Generaldebatte bislang nicht stattfindet, belegt aus Lambsdorffs Sicht mangelnde Tatkraft und Überzeugung beim EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker. "Juncker steckt in einem Dilemma", gab der Freidemokrat zu bedenken. "Wenn er als politischer Kommissionspräsident Visionen skizziert, schlägt ihm aus den Mitgliedstaaten oft harte Ablehnung entgegen, besonders aus Berlin. Auf der anderen Seite ist es aber seine Aufgabe, die EU dahin zu bringen, wo die Bürger sie erwarten." Der Versuch von Juncker sowie der Bundeskanzlerin, den Ball möglichst flach zu halten, sei nämlich nicht das, was die Bürger wollten: Eine offene Diskussion darüber, "wie es 25 Jahre nach Ende des Kalten Kriegs mit Europa weitergehen soll", so Lambsdorff.

Der Freidemokrat erläuterte seine Vision für die EU: "Europa muss die Aufgaben bewältigen, für die wir es haben. Im Binnenmarkt gelingt das gut, in der Handelspolitik gerät das aber gerade in Gefahr, weil anti-marktwirtschaftliche Linkspopulisten Erfolge feiern." Lambsdorff verlangte ein Ende der Symbolpolitik, beispielsweise bei der Terrorabwehr. Hier seien die nationalen Sicherheitsbehörden immer noch in ihren Zuständigkeiten gefangen, konstatierte er. "Deswegen muss Europol zu einer echten Ermittlungsbehörde mit eigenen Kompetenzen gemacht werden", forderte Lambsdorff. Ein zweites Beispiel sei der gemeinsame Schutz der Außengrenzen: "Frontex reicht da nicht, denn auch diese Organisation hat keine eigene Handlungsbefugnis."

Lesen Sie hier das gesamte Interview.

Graf Lambsdorff, wer die Bemerkungen von EU-Kommissionschef Juncker nach dem Referendum hörte, musste den Eindruck gewinnen, es könne nicht schnell genug gehen, dass Großbritannien die EU verlässt. Ist Strafe und Abschreckung eine kluge Strategie in dieser tiefen europäischen Krise?

Ich halte überhaupt nichts von Bestrafungsaktionen. Großbritannien ist nach wie vor gerade einmal 33 Kilometer von Calais, vom europäischen Kontinent entfernt, ist nach wie vor enger Freund, Verbündeter und Nato-Alliierter. Wir müssen gut und fair miteinander umgehen, das heißt, das demokratische Votum respektieren und den wirtschaftlichen Schaden minimieren.

Also so tun, als wäre nichts geschehen? Warum gab es denn dann so viele harte Worte gegen Großbritannien in Brüssel?

In Brüssel arbeiten ja nicht nur Roboter und kein Land hat so viele Extrawürste bekommen wie Großbritannien. Zuletzt handelte David Cameron in nächtelangen Verhandlungen  vor dem Referendum noch weitere Zugeständnisse aus, und dann haben doch stumpfe Populisten den Sieg davongetragen. Die Geduld mit England war einfach am Ende. Das mag die eine oder andere unkluge Bemerkung am Tag nach dem Referendum erklären.

Trägt Juncker eine Mitschuld am möglichen Brexit?

Juncker hätte den Brexit nicht verhindern können. Auftritte in England im Vorfeld des Referendums etwa waren ja nicht einmal erwünscht. Da trägt die Bundeskanzlerin mit ihren Alleingängen in der Flüchtlingspolitik mehr Verantwortung als der Präsident der Kommission. Juncker wegen des Brexit zum Rücktritt aufzufordern, trifft den Falschen. Da könnte man ebenso gut den Papst oder den Bundestrainer zum Rücktritt auffordern.

Sie haben zuletzt als Reaktion auf den Brexit einen europäischen Konvent gefordert. Was genau stellen Sie sich da vor?

Wir brauchen eine Debatte, welches Europa wir in Zukunft wollen. Die Europäischen Verträge müssen nach dem Brexit in jedem Fall geändert werden, allein wegen der veränderten Stimmengewichtung im Rat. Der Konvent ist das dafür vorgesehene Zusammentreffen von nationalen Regierungen, Europaparlamentariern und nationalen Parlamentariern. Es gibt in der politisch interessierten Öffentlichkeit gerade jetzt eine große Nachfrage nach Teilhabe, Transparenz und demokratischer Debatte. Deswegen will die FDP einen Konvent als Reformkongress und nicht als technisches Treffen hinter verschlossenen Türen.

Juncker erweckt den Eindruck, dass er eben genau dieses nicht will, sondern dass er möglichst schnell wieder zur Arbeitsebene zurückkehren möchte und den Austritt der Briten möglichst schnell zu verhandeln.

Ja, und das war auch die Reaktion der Bundeskanzlerin: den Ball möglichst flach halten, und so tun, als wäre nichts gewesen. Was Juncker und Merkel hier wollen, ist aber nicht das, was die Bürgerinnen und Bürger wollen, nämlich eine offene Diskussion darüber, wie es 25 Jahre nach Ende des Kalten Kriegs mit Europa weitergehen soll.

Wie sieht denn ihre Vision von Europa aus?

Europa muss die Aufgaben bewältigen, für die wir es haben. Im Binnenmarkt gelingt das gut, in der Handelspolitik gerät das aber gerade in Gefahr, weil anti-marktwirtschaftliche Linkspopulisten Erfolge feiern, gerade hier in Deutschland. Ganz wichtig ist, dass endlich die Symbolpolitik aufhört. Beispiel Terrorismusbekämpfung: Die nationalen Sicherheitsbehörden sind immer noch in ihren nationalen Zuständigkeiten gefangen. Glauben Sie, eine Polizeibehörde in Bratislava, Braunschweig oder Brindisi weiß, wo genau sie anrufen soll, wenn sie eine Bedrohungslage erkannt hat? Das dauert im Zweifel alles viel zu lang. Deswegen muss Europol zu einer echten Ermittlungsbehörde mit eigenen Kompetenzen gemacht werden.

Eine Art europäisches FBI also?

Ja, es geht um die originäre gemeinschaftliche Zuständigkeit bei Ermittlungen zur Bekämpfung von Terror und organisierter Kriminalität. Ein zweites Beispiel für ein Ende der Symbolpolitik ist der gemeinsame Schutz der Außengrenzen. Frontex reicht da nicht, denn auch diese Organisation hat keine eigene Handlungsbefugnis. Trotzdem verkauft Thomas de Maizière ein paar mehr Stellen dort als sicherheitspolitischen Durchbruch. Das meine ich mit Symbolpolitik: Viel Gerede, zu wenig Substanz.

Wie beurteilen Sie den Auftritt Junckers nach der Brexit-Entscheidung? Unser Eindruck war, dass er nichts von der visionären Stimmung vermittelte, die Sie uns hier gerade skizzieren.

Nun, Juncker steckt in einem Dilemma. Wenn er als politischer Kommissionspräsident Visionen skizziert, schlägt ihm aus den Mitgliedstaaten oft harte Ablehnung entgegen, besonders aus Berlin. Auf der anderen Seite ist es aber seine Aufgabe, die EU dahin zu bringen, wo die Bürger sie erwarten.

Aus unserer Sicht häufen sich die verbalen Entgleisungen Junckers. Das zeigt auch seine jüngste Bemerkung im Zusammenhang mit dem kanadisch-europäischen Freihandelsabkommen, die nationalen Parlamente seien ihm „schnurzegal“.

Die Bemerkung war in der Tat hochgradig ungeschickt. Aber sein eigentliches Problem ist, dass die EU-Mitgliedstaaten sich zu oft weigern, auch dort Kompetenzen für den gemeinsamen Erfolg zusammen zu legen, wo es sinnvoll ist.

Vielleicht handeln die Regierungschefs auch so, weil ihre Wähler nicht wollen, dass Brüssel alles bestimmt?

Darum geht es nicht. Ich will als Liberaler doch nicht, dass die Kommission alles kontrolliert. Aber gerade in Fragen der äußeren und inneren Sicherheit gibt es breiteste Unterstützung in der Bevölkerung dafür, diese Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Dafür brauchen wir mehr europäische Kompetenz. Und bei aller Kritik an Juncker: Seine Kommission hat in ihrer bisherigen Amtszeit keine Schlagzeilen mit Olivenölkännchen, Glühbirnenverbot und Toilettenspülungen produziert. Junckers von Frau Merkel eingesetzter Vorgänger Barroso glänzte andauernd mit solchem Quatsch. Aber die jetzige Kommission steigt in unsinnige Detailregulierung gar nicht erst ein. Das ist ein Fortschritt, den die FDP immer wieder gefordert hat.

Sie sagen, die verbalen Entgleisungen spielen keine wichtige Rolle. Die Bürger sehen das offenbar anders. Vor allem seine Weigerung, gegen Frankreich ein Defizitverfahren zu starten mit der lapidaren Begründung, weil es „eben Frankreich“ sei,  offenbart ein sonderbares Rechtsstaatsverständnis, oder?

Da haben Sie vollkommen recht. Diese Aussage war völlig daneben und das habe ich auch genauso gesagt. Sie ist überhaupt nicht zu vereinbaren mit der Rolle der EU-Kommission als Hüter der Verträge. Was sollen denn Länder wie Lettland, Portugal oder Irland denken, die sehr harte Zeiten durchgemacht haben, um die Stabilitätsziele zu erreichen? Das war eine Äußerung, die das Vertrauen in der Verlässlichkeit der Kommission und die Rechtsstaatlichkeit der EU schwer beschädigt hat.

Offensichtlich hat ein solches Verhalten wenig Folgen für Juncker. Größere Widerstände aus dem Parlament hat es nicht gegeben.

Diese Haltung Junckers ist doch genau der Grund, warum seine Kommission nicht die Stimmen der FDP bekommen hat. Es war gerade die Entscheidung, den französischen Finanzminister Pierre Moscovici, der für alles stand, nur nicht  für Haushaltsdisziplin,  zum Währungskommissar zu machen, die dafür ausschlaggebend war, dass wir dieser Kommission unsere Zustimmung verweigert haben. Aber Juncker hat die Mehrheit des Parlaments hinter sich – sowohl die Christdemokraten als auch die Sozialdemokraten.

Wie das milliardenschwere Juncker-Programm gezeigt hat, ist der EU-Kommissionschef ein Freund keynesianischer Nachfragepolitik …

Juncker war schon immer ein Sozialdemokrat in christdemokratischem Gewand. Dazu passt die neueste Forderung von SPD-Chef Sigmar Gabriel nach üppigen Ausgabenprogrammen für südeuropäische Staaten. Da haben sich zwei getroffen.

Ist nicht ein Grund für den Reputationsverlust der EU das selbstherrliche Auftreten ihrer Eliten wie Jean-Claude Juncker im Falle von Ceta?

Ceta ist wirklich das falsche Beispiel, denn es ist eindeutig ein EU-Abkommen. Die Handelspolitik der letzten Jahrzehnte war wie die Binnenmarktpolitik so erfolgreich, weil sie gemeinschaftlich organisiert war. Beides gehört sachlogisch auch zusammen. Schließlich kann ja nicht Frankreich das eine, Deutschland aber ein anderes Handelsabkommen mit Kanada abschließen, wenn wir in einem Binnenmarkt miteinander verbunden sind.

Nun hat Juncker gerade doch einen Rückzieher gemacht und nun erklärt, dass die nationalen Parlamente zustimmen sollen. Wie kommt es zu dieser Wende?

Weil ausgerechnet der deutsche Bundeswirtschaftsminister das lautstark verlangt hat. Das zeigt, welche Panik in der SPD herrschen muss. Eine Renationalisierung der Handelspolitik würde absehbar schweren Schaden für die Handlungsfähigkeit der EU und für unseren Wohlstand nach sich ziehen. Was sollen denn die Kanadier denken, dass jetzt das Regionalparlament von Südbelgien in der Hand hat, ob ein mit der EU ausgehandeltes Abkommen in Kraft tritt oder nicht? Bei der Handelspolitik haben wir eine klare Kompetenzzuordnung, dann sollten auch wir uns an die Regeln halten.

Große Probleme mit Juncker haben Länder, die nicht das alte Kerneuropa sind. Ist Juncker noch der Richtige, um etwa Osteuropa in die EU einzubinden?

In Osteuropa hätte ich von Juncker mehr Präsenz und Engagement erwartet, um dort die Politik der Kommission zu erläutern. Das hat er weitgehend seinem Vize Frans Timmermans überlassen.

Und ist er auch der Richtige und hat er genügend Kraft, um die langfristigen institutionellen Reformen einzuleiten?

Das werden die nächsten Monate zeigen. Es ist klar, dass die EU jetzt kraftvolle und konstruktive Führung braucht. Bei Juncker sehe ich manchmal die Kraft nicht und in den nationalen Hauptstädten fehlt der konstruktive Geist. Es ist höchste Zeit, dass sich alle Beteiligten am Riemen reißen und nach vorne schauen, sonst gerät unser Kontinent in allerschwerstes Fahrwasser.

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