20.11.2018FDPFDP

LINDNER-Gastbeitrag: Eine zweite Chance für Jamaika

Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner schrieb für der „Welt“ (Dienstag-Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag.

Nach dem Rekordsommer kündigen sich in Deutschland frostige Tage an – nicht nur meteorologisch, sondern auch ökonomisch. Mehr als ein Jahrzehnt lebte Deutschland gut von der Reformdividende eines Gerhard Schröder, einem niedrigen Außenwert des Euro und einem Zins nahe null. Doch der größte Teil des wirtschaftlichen Hochplateaus könnte leider hinter uns liegen. Zum ersten Mal seit 2015 ist die deutsche Wirtschaftsleistung innerhalb eines Quartals geschrumpft. Wer heute Stahl bestellt, bekommt ihn morgen geliefert. Vor einem halben Jahr betrug die Wartezeit noch einige Monate. Das internationale Umfeld ist unsicher geworden, die Alterung der Gesellschaft schreitet voran, die Digitalisierung ändert alles in rasendem Tempo, der Klimawandel ist eine spürbare Realität, und die Migrationsfrage hat die politische Landschaft verändert. Eine neue Konfliktlinie beginnt unser Land zu spalten – zwischen denjenigen, die Wandel und Fortschritt kaum abwarten können, und den anderen, die sich von Vielfalt, Globalisierung und Digitalisierung bedroht fühlen.

Die politischen Debatten entkoppeln sich von der Lage im Land. Sie kreisen um Fahrverbote für moderne Dieselautos, die Karriere von Herrn Maaßen oder Subventionen wie das Baukindergeld.Trotz des Fachkräftemangels versprechen die Sozialdemokraten den Beschäftigten jedes Jahr einen Monat bezahlten Urlaub aus der Staatskasse. Trump und Macron senken die Steuern und stärken die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften, bei uns wollen die Grünen die Steuern um 30 Milliarden Euro erhöhen – um auch denjenigen Transferleistungen zu zahlen, die nicht arbeiten wollen. Das wäre ein Verarmungsprogramm für unser Land, das im Übrigen den Gedanken der Fairness mit Füßen tritt.

Unser Land hat große Potenziale. Trotz aller Herausforderungen wird es nie wieder leichter sein, das Modell Deutschland neu zu erfinden und den Menschen Sicherheit im Wandel zu geben. Mit einer Kamelle-Mentalität und Fantastereien jenseits der ökonomischen und technischen Vernunft werden die Chancen an uns vorbeigehen. Wohlstand kommt eben nicht vom Staat, Strom nicht schlicht aus der Streckdose und Fleisch nicht einfach aus der Kühltheke – Deutschland muss aus der Wohlfühlstagnation aufwachen.

Den Erneuerungsdruck und die wachsende Ungeduld von Millionen Menschen in der Mitte der Gesellschaft konnte man am Ergebnis der letzten Bundestagswahl ablesen. Viele haben danach auf ein Ende der großen Koalition gesetzt und auf ein innovatives Jamaika-Bündnis gehofft. Heute vor einem Jahr haben wir, die Freien Demokraten, die Sondierung beendet, denn ein Erneuerungsprojekt war damals nicht erreichbar. Die Kanzlerin amtierte bereits zwölf Jahre. Regierungschefs in diesem Stadium ihrer Amtszeit denken lieber an das, was sie politisch hinterlassen möchten, als an das, was politisch angepackt werden muss. Die Verletzungen zwischen ihr und Horst Seehofer waren greifbar. Und hinter den Kulissen zog bei den Grünen in der Finanzpolitik Jürgen Trittin die Fäden. In der Europa-, der Bildungs-, der Finanz-, der Energie- und der Einwanderungspolitik war die Konstellation völlig verkantet. Dennoch wollte Frau Merkel die Grünen aus taktischen Gründen mit großen Zugeständnissen für das „bürgerliche Lager“ einkaufen – auf Kosten der FDP. Wir wurden für unsere konsequente Haltung hart kritisiert. Im Laufe eines Jahres konnte man aber sehen, wie sich Frau Merkel und Herr Seehofer aneinander gerieben haben. Die Grünen haben sich selbst als linke Partei bezeichnet – und die Selbsteinordnung von der Flüchtlingspolitik bis hin zum jüngsten Kamelle-Vorschlag von Robert Habeck bestätigt. Unser Nein zu einem Bündnis in dieser Konstellation war deshalb auch im Rückblick betrachtet richtig.

Die Freien Demokraten waren und sind aber bereit zur Übernahme von Verantwortung. Das zeigen wir in drei Bundesländern, in denen wir mit CDU, SPD und Grünen regieren. Unsere Bedingungen sind damals wie heute klar: erstens ein faires Miteinander in einer Koalition, damit alle Partner ihre Ideen einbringen können. Ziel muss es sein, dass jeder der Beteiligten Kernprojekte verwirklichen kann. Am Ende muss jeder Partner guten Gewissens vor seine Wählerschaft treten können. Und zweitens ein echter Aufbruch für unser Land, der die Selbstblockade überwindet.

Eine Jamaika-Koalition haben wir nicht prinzipiell abgelehnt, sondern nur in der spezifischen politischen Konstellation des vergangenen Jahres – seit dem November 2017 sind die politischen Verhältnisse ins Rollen geraten. CDU und CSU werden in Kürze neue Parteiführungen haben, die Grünen haben bereits eine neue. Die Zeit des Blicks zurück ist damit für uns beendet. Von der großen Koalition ist ein Aufbruch nicht mehr zu erwarten. Eher drohen Rückschritte. Deutschland hat nicht die Zeit, jahrelang auf einen politischen Neustart zu warten. Besser heute als morgen braucht dieses Land eine andere Regierung – vor oder nach neuen Wahlen.

Es wird aber immer schwieriger sein, eine lagerübergreifende Regierung zu bilden als eine Koalition, die aus zwei ähnlich gelagerten Kräften besteht. Dieser Mühe werden sich künftig die politischen Akteure aber möglicherweise öfter unterziehen müssen. Wenn Annegret Kramp-Karrenbauer oder Friedrich Merz oder Jens Spahn uns zu Gesprächen einladen, würden wir die Einladung nicht ablehnen.

Wenn es gelänge, unterschiedliche Perspektiven zu verbinden, könnte etwas Innovatives entstehen. Auch wir Freie Demokraten sehen zum Beispiel den Klimaschutz als Menschheitsaufgabe. Die Erderwärmung wird sich aber nicht effizient mit Quoten, Verboten und Subventionen nur in Deutschland stoppen lassen, so wie das den Grünen vorschwebt. Vorzeitiges Braunkohleaus, Fahrverbote, eine E-Auto-Quote und ein Verbot des Verbrennungsmotors bis 2030 drohen unsere Wirtschaftskraft zu schwächen, ohne dass in globaler Perspektive etwas erreicht würde. Schon jetzt haben wir die höchsten CO2-Vermeidungskosten der Welt, bleiben aber bei den Klimazielen zurück – damit sind wir das abschreckende Beispiel. Wir sollten neu denken: Nicht Politiker, sondern Ingenieure sollten entscheiden, welche Technologien zum Einsatz kommen. Mit synthetischen Kraftstoffen zum Beispiel werden sich Verbrennungsmotoren klimaneutral betreibenl assen. Wir müssen das marktwirtschaftliche Instrument des CO2-Zertifikatehandels in Gang bringen und nutzen. Und wir sollten weltweit mehr Verantwortung für Klimaschutz übernehmen – durch Technologietransfer und den Schutz des Regenwalds als die grüne Lunge unseres Planeten.

Oder das Beispiel Europa: Emmanuel Macron sollte nicht länger auf eine Antwort aus Deutschland warten. Nahezu befreit hat die Bundeskanzlerin jetzt die Vision einer gemeinsamen Armee begrüßt – das ist richtig und überfällig. Aber nicht nur in der Außen- und Sicherheitspolitik brauchen wir mehr europäische Gemeinsamkeit, sondern auch in der Währungsunion. Klare und durchgesetzte Fiskalregeln sowie finanzpolitische Eigenverantwortung sind einerseits nötig, andererseits Investitionen in die wirtschaftliche Konvergenz innerhalb der Euro-Zone. Eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung, wie SPD und Grüne – und vielleicht auch Friedrich Merz – sie wollen, finanziert im Zweifel nur die Wahlversprechen von Rechts- und Linkspopulisten in Europa. Aber wir Freie Demokraten sind offen über einen Fonds zu sprechen, der konkrete und vorwiegend privatwirtschaftliche Investitionen in Zukunftstechnologien fördert. Der Bau einer Batteriefabrik in Kalabrien könnte damit genauso angeschoben werden wie neue Glasfaserkabel in Südspanien.

Auch wenn Angela Merkel nicht mehr Bundeskanzlerin ist, sind nicht automatisch alle Fehlentwicklungen in der Migrationspolitik korrigiert. Die Bundesregierung hat „Eckpunkte“ für die Fachkräftezuwanderung vorgelegt. Sie gehen nicht weit genug. Wir warten weiterhin auf den Entwurf eines Einwanderungsgesetzes, das klar zwischen Asyl, (Bürger-)Kriegsflüchtlingen und Einwanderung in den Arbeitsmarkt unterscheidet. Deutschland soll seine humanitären Verpflichtungen ernst nehmen, wir müssen aber auch wie jedes klassische Zuwanderungsland Zuwanderer selbst aussuchen dürfen. Denn wir brauchen qualifizierte Zuwanderung, wollen wir nicht bis 70 oder 80 arbeiten. Wir brauchen Bewegung auf allen Seiten. Auch die Grünen wollen ein Einwanderungsgesetz – das geht aber nur, wenn wir es schaffen, Menschen ohne Schutzanspruch schneller abzuschieben. Wenn sie die Maghreb-Staaten endlich als sichere Herkunftsländer anerkennen, dann kommen wir einem Konsens in Sachen Einwanderung schon näher, der auf Weltoffenheit und besseres Management, aber nicht auf Abschottung setzt. Deutschland braucht solche Trendwenden. Hin zum lebensbegleitenden Lernen und einem Bildungssystem, das digitaler und zwischen den 16 Ländern vergleichbarer ist. Nach Jahren der immer höheren Belastung durch Steuern, Abgaben und Bürokratie ist es Zeit für Entlastung – fangen wir mit der Abschaffung des „Solidaritätszuschlags“ an. Wir brauchen einen Sozialstaat, der auch für die Enkel gerecht ist und der Sicherheit mit Flexibilität verbindet. Die Liste dessen, was liegen geblieben ist, ließe sich fortsetzen.

Wenn die Welt sich ändert, müssen wir uns in ihr ändern. Darauf muss eine Regierung mit einem echten Aufbruch reagieren. Ich weiß nicht, ob es die Voraussetzungen dafür in naher Zukunft gibt. Die FDP wäre aber bereit, ein Erneuerungsprojekt unter veränderten Rahmenbedingungen zu prüfen. Und warum nicht auch das Regieren neu denken? Der Regierungsstil Angela Merkels hat die Ressorts im Bund systematisch entmachtet. Vielleicht wird eine Folge uneindeutiger Mehrheitsverhältnisse sein, dass dem Ressortprinzip stärker Geltung verschafft wird, dass Minister also eigenständiger in ihrem Bereich gestalten können.

Angesichts der globalen Herausforderungen wäre es an der Zeit, Koalitionsfragen zu profanisieren. Es kann nicht jedes Mal um eine neue politische Epoche gehen. Es stellt sich die nüchterne Frage, ob Gutes für das Land und seine Menschen bewirkt werden kann.

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