12.11.2017FDP

LINDNER-Interview: Aus Jamaika kann etwas werden

Der FDP-Parteivorsitzende und Vorsitzende der Fraktion der Freien Demokraten im Deutschen Bundestag, Christian Lindner, gab dem SPIEGEL (aktuelle Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten Christoph Schult und Michael Sauga:

 

Frage: Herr Lindner, dürfen wir Sie zu einem kleinen Ratespiel einladen?

Lindner: Bitte sehr.

Frage: „Wir wollen die Elektromobilität voranbringen; wir wollen die Erfolgsgeschichte der Energiewende ausbauen und setzen uns für einen verantwortungsbewussten Ausstieg aus der Kohlekraft ein“?

Lindner: Ich weiß nicht, wer der Autor dieser Sätze ist. Aber ich kann mir die Aussage zu eigen machen.

Frage: Die Sätze stammen aus dem Koalitionsvertrag der neuen Landesregierung in Kiel, an der auch die FDP beteiligt ist. In den vergangenen Wochen jedoch konnte man den Eindruck gewinnen, dass Ihre Partei bei den Sondierungsgesprächen in Berlin eine ganz andere Linie verfolgt: Kohlestrom, ja bitte.

Lindner: Der Eindruck ist falsch. Die FDP steht zu den Klimazielen von Paris. Zugleich haben wir aber die Verantwortung für eine bezahlbare und sichere Energieversorgung. Diese Ziele müssen mit Vernunft verbunden werden, denn sie sind gleichrangig.

Frage: Uns kam es eher so vor, als wollten Sie den Konflikt mit den Grünen auf die Spitze treiben.

Lindner: Davon kann keine Rede sein. Schauen Sie, bei den Sondierungsgesprächen in Berlin sitzen vier Parteien am Tisch, die teils widersprüchliche Wähleraufträge haben. Das Kunststück wäre, daraus einen gemeinsamen Arbeitsplan zu entwickeln, der nicht schlicht die Politik der Großen Koalition fortsetzt, sondern eine neue Balance schafft: zwischen ökonomischer Vernunft und ökologischer Verantwortung, zwischen wirtschaftlicher Dynamik und sozialer Sensibilität, zwischen Freiheit und Sicherheit. Das ist nicht trivial.

Frage: Bislang war weniger von Ausgleich aber dafür umso mehr von Attacke die Rede. Etwa, wenn Sie den Grünen vorgeworfen haben, ihre Flüchtlingspolitik sei ein Konjunkturprogramm für die AfD.

Lindner: Ich respektiere die humanitären Motive der Grünen, aber ich werde weiter darauf aufmerksam machen, dass die Einwanderung eine der brennendsten Fragen in Deutschland ist. Eine Koalition der neuen Balance müsste eine Koalition für die Mitte des Landes sein – und nicht für die Elite von Berlin-Mitte.

Frage: Sie klingen plötzlich so konziliant. Dabei hatten viele Verhandler bei Union und Grünen zuletzt den Eindruck, die FDP und insbesondere Sie wollten gar keine Jamaika-Regierung.

Lindner: Ob man eine solche Regierung wollen kann, werden wir auch erst am Ende der Gespräche wissen. Wir stünden für eine Koalition bereit, die Stillstand und politische Lebenslügen überwindet, um das Land nach vorne zu bringen. Niemand darf die Augen davor verschließen, dass wir mit der AfD einen neuen Faktor haben. Eine künftige Regierung muss Antworten geben auf die drängenden Fragen der verantwortungsbewussten, ungeduldig gewordenen Mitte des Landes – und da könnte in der ungewöhnlichen Konstellation der vier Parteien vielleicht eine Chance liegen.

Frage: Wie kommen Sie darauf?

Lindner: Die CSU steht Mitte-rechts, die Grünen links, die FDP sieht sich im Zentrum. In der Flüchtlingsfrage verhandeln wir damit stellvertretend für die Konfliktlinien im Land. Der Konsens könnte sein: Wir helfen Menschen während der Zeit der Not, aber wir erkennen zugleich, dass Deutschland dabei an die Grenzen seiner Möglichkeiten gestoßen ist. Es braucht ein Einwanderungsgesetz mit klaren Regeln, das unser Land aber nicht abschottet. Wer vor der Schaffung dieses neuen Regelwerks dafür sorgen will, dass im Wege des Familiennachzugs womöglich zehntausende weiterer Einwanderer nach Deutschland kommen, gefährdet die Akzeptanz einer Regierung, noch bevor sie im Amt ist.

Frage: Bisher war in den Sondierungsgesprächen von Konsens eher weniger die Rede. Uns schien es eher, als wollten sich die Beteiligten am Umgangston der schwarz-gelben Koalition der Jahre 2009 bis 2013 orientieren, als man sich wechselseitig als „Gurkentruppe“ oder „Wildsäue“ beschimpfte.

Lindner: Die Lehre ist, dass man Konflikte besser vor der Bildung einer Koalition austrägt als danach. Es geht uns um eine Politik, die auf Klugheit, Ausgewogenheit und Verhältnismäßigkeit basiert und dazu beiträgt, die politische Tonalität in Deutschland zu beruhigen. Da wird keiner Maximalpositionen durchsetzen. Es wäre nicht wünschenswert, wenn eine Jamaikakoalition als Kombination einer als quasireligiös empfundenen Klimawende, der Verwaltung des sozialdemokratischen Status quo und einer Entlastung von Einkommensmillionären denunziert würde.

Frage: Anfang der Woche haben die Grünen in wichtigen Streitfragen erste Kompromisssignale ausgesendet. Wie werden Sie reagieren?

Lindner: Wir haben längst reagiert. Der Wirtschaftsflügel der Union und die FDP wollten steuerliche Entlastungen von 30 bis 40 Milliarden Euro. In einer Jamaikakonstellation ist dieses Vorhaben nicht realisierbar. Deshalb konzentrieren wir uns auf die Abschaffung des Solidaritätszuschlages. Das muss in den nächsten vier Jahren abgeschlossen werden.

Frage: Wenn Sie den Soli abschaffen, profitieren davon vor allem die oberen Einkommensschichten. Hatte die FDP im Wahlkampf nicht angekündigt, vor allem Klein- und Mittelverdiener entlasten zu wollen?

Lindner: Ja, eine Entlastung der Familien und vom Altenpfleger bis zur Ingenieurin ist weiter unser Ziel. Dazu wäre eine Steuerreform nötig, für die man die Zustimmung der SPD im Bundesrat benötigt. Da stünden wir am Ende mit leeren Händen da. Deshalb schlagen wir vor, mit dem Soli zu beginnen. Wir erinnern an unser Modell von 2015, ihn im ersten Jahr für Einkommen bis 50.000 Euro entfallen zu lassen, im zweiten Jahr und noch vor der nächsten Wahl dann komplett. Sobald der Bundestag die Abschaffung des Soli beschlossen hat, könnte man danach ein zweites Gesetzgebungsverfahren für eine Steuerreform prüfen, die die Entlastung unter dem Strich in der Mitte der Gesellschaft konzentriert.

Frage: Das wird in Ihrer Klientel aber nicht nur Begeisterung auslösen. Schon in den vergangenen Wochen war das Wort „Umfaller“ zu hören, als von solchen Ideen die Rede war.

Lindner: Häufiger habe ich gehört, die FDP sei zu kompromisslos. Wir bemühen uns jedenfalls um die breite Akzeptanz unserer Finanzpolitik. Genauso sollten die Grünen nicht einfach sagen: „Weg mit der Kohle“, egal was das für Strompreise und Arbeitsplätze bedeutet.

Frage: Für die Grünen ist der schrittweise Abschied von der Kohle aber unverzichtbar, weil anders die Klimaziele für das Jahr 2020 nicht zu erfüllen sind. Sind Sie bereit, Ihrem künftigen Koalitionspartner in diesem Punkt entgegenzukommen?

Lindner: Realisten müssen erkennen, dass man Versäumnisse früherer Regierungen wie den schleppenden Netzausbau nicht ad hoc vollständig korrigieren kann, ohne soziale Verwerfungen zu riskieren. Davor hat das SPD-geführte Wirtschaftsministerium gerade gewarnt. Deshalb gibt es diese Diskussion. Entscheidend für das Pariser Abkommen ist ohnehin 2030.

Frage: Die FDP hat sich früher eher als Förderer eines unvermeidlichen wirtschaftlichen Strukturwandels gesehen. Wieso positionieren sich die Liberalen plötzlich als Kohlepartei?

Lindner: Nicht die FDP hat sich gegen das Wort vom Kohleausstieg in den Sondierungspapieren verwahrt, sondern die Bundeskanzlerin. Die FDP hat in den Neunzigerjahren als erste Partei den Ausstieg aus den wirtschaftlich unsinnigen Steinkohlesubventionen gefordert – und auf den Weg gebracht.

Frage: Sie schließen einen Ausstieg aus der Kohle nicht aus?

Lindner: Das war und ist nur eine Frage der Zeit. Die Grünen wollen, dass Deutschland anders als Frankreich zeitgleich aus der Kern- und der Kohleenergie aussteigt. Das ist nicht nur eine politische, das ist vor allem eine physikalische Herausforderung.

Frage: Deutschland hat sich aber verpflichtet, den Ausstoß klimaschädlicher Treibhausgase in den nächsten Jahren massiv zurückzufahren. Welche Vorschläge hat die FDP, wie das zu schaffen ist?

Lindner: Verbote, Quoten und Subventionen sind altes Denken. Die Kosten, um CO2 zu vermeiden, gehören bei uns zu den höchsten der Welt. Wir schlagen ein neues Denken vor. CO2 braucht überall einen Preis, damit wir die Innovationsmaschine des Marktes anwerfen, neue Technologien zur Energiespeicherung und Bereiche wie das Heizen ins Spiel bringen. Automatisch, effizient und sozial verträglich wird die Kohle dann zurückgehen. Außerdem wollen wir den Blick dahingehend weiten, dass wir mit unseren Mitteln im Ausland zu günstigeren Preisen mehr CO2 einsparen können als bei uns.

Frage: Das andere Thema, bei dem die Jamaikaparteien weit auseinanderliegen, ist Europa. Teile der Union und die Grünen haben die Pläne des französischen Präsidenten Emmanuel Macron für ein eigenes Budget der Eurozone begrüßt, die FDP ist dagegen. Am Mittwoch haben Sie in Berlin mit Macrons Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire gesprochen. Was haben Sie ihm gesagt?

Lindner: Die Freien Demokraten haben ein hohes Interesse, dass es Macron gelingt, Frankreich erfolgreich zu erneuern. Wir unterstützen seine Pläne für eine europäische Verteidigungsgemeinschaft, für den Schutz der EU-Außengrenzen und für eine bessere Zusammenarbeit bei der Terrorismus-Bekämpfung. Ein Budget für die Eurozone, das am Ende nicht Investitionen finanziert, sondern Konsumausgaben zu Lasten nötiger Reformen, ist für uns ausgeschlossen. Ich werte dieses Vorhaben allerdings nicht mehr als konkreten Vorschlag aus Paris, sondern eher als einen Denkanstoß. Wir teilen indessen die Zielsetzung, in ganz Europa mehr Investitionen in neue Technologien anzuregen. Wir glauben aber, dass es dafür bessere Instrumente gibt.

Frage: Welche?

Lindner: Beispielsweise mit dem Juncker-Plan und der Europäischen Investitionsbank existieren bereits Mittel, um Projekte in der Realwirtschaft zu finanzieren. Das kann praxistauglicher gehandhabt werden. Im Haushalt der Europäischen Union sollte weniger Geld für Agrarsubventionen und mehr für neue Technologien eingeplant werden. Ich habe im Zuge der Sondierungsgespräche etwa vorgeschlagen, eine deutsch-französische Industrieinitiative für Batterietechnologien für Elektroautos zu starten. Sie sehen also, die FDP denkt im Interesse Europas wie des Klimaschutzes.

Frage: Daran gibt es berechtigte Zweifel. Viele EU-Länder haben zum Beispiel mit Entsetzen zur Kenntnis genommen, dass die FDP den europäischen Rettungsschirm ESM auslaufen lassen will, der bei der Bewältigung der Eurokrise eine große Rolle gespielt hat. Halten Sie an den Vorhaben fest?

Lindner: Als Elf-Prozent-Partei kann man nicht Deutschland und ganz Europa den Weg diktieren. Dennoch stehen wir in den weiteren Debatten zu unserem Kerngedanken. Die Eigenverantwortung der Eurostaaten für ihre Finanzen muss wieder gestärkt werden. Die Teilung von Haftungsrisiken bei privaten Banken und die Vergemeinschaftung von Schulden gehen in eine falsche Richtung. Das gilt auch für die Bankenunion: Wenn deutsche Sparkassenkunden für italienische Bankpleiten beansprucht werden könnten, setzt man die Zustimmung zu Europa aufs Spiel.

Frage: Was schwebt Ihnen vor?

Lindner: Wir diskutieren, ob wir bei der Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion unseren Gedanken verankern könnten. Der ESM hat in den letzten Jahren Kompetenz bei der Überwachung der Stabilitätsziele aufgebaut, die objektiver ist als die der EU-Kommission und die eine Rolle spielen könnte, wenn der Internationale Währungsfonds sich aufgrund des Einflusses andere globaler Player aus Europa zurückzieht. Wenn der ESM bleibt, könnte er ein Instrument für mehr Disziplin werden. Ein Umverteilungsinstrument mit mehr Geld wird er mit Unterstützung der FDP aber nicht.

Frage: Das klingt, als wären auch bei den vermeintlichen Bruchpunkten „Klima“ und „Europa“ Kompromisse denkbar. Können wir also davon ausgehen, dass sich die Jamaika-Verhandler nächste Woche verständigen werden?

Lindner: Das ist offen. Zumal wir über eine der für uns wichtigsten Fragen noch gar nicht gesprochen haben: die Bildungspolitik. Dass die Konkurrenz von 16 Ländern die Qualität der Bildung verbessert, ist eine deutsche Lebenslüge. Wir wollen eine Revolution. Der Bund muss die Modernisierung der Bildung finanzieren und dafür auch Qualitätsvorgaben aussprechen können.

Frage: Da müssen Sie mit dem erbitterten Widerstand des bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Chefs Horst Seehofer rechnen.

Lindner: Und dem seines Kollegen Winfried Kretschmann aus Baden-Württemberg. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir die beiden davon überzeugen können, dass es hier um eine Zukunftsaufgabe geht, die nicht an kleinlichen Zuständigkeitsfragen scheitern darf. Es kann nicht sein, dass die Bundesregierung die Schulen in Botswana und Burundi unterstützen darf, aber nicht in Bamberg oder Bremen. Ich erhoffe von der CSU, dass sie sich beim Kooperationsverbot bewegt.

Frage: Wie wollen Sie Ihre Gegner überzeugen?

Lindner: Die Probleme sind doch evident. Bayern ist besser als Bremen, aber wir stehen im internationalen Wettbewerb. Die Digitalisierung der Bildung und das lebensbegleitende Lernen würden Länder und Kommunen überfordern. Jetzt veranstalte ich mal ein Ratespiel: Was glauben Sie, was herauskäme, wenn man die Bevölkerung nach den Prioritäten eines Jamaikavertrages fragen würde?

Frage: Sie haben die Antwort bestimmt schon im Kopf.

Lindner: Erstens: Ordnung bei der Einwanderung. Zweitens: beste Bildung. Drittens: Ökonomie und Ökologie versöhnen. Viertens: Entlastung der Mitte, damit die Menschen vorankommen im Leben. Fünftens: mehr Sicherheit durch europäische Zusammenarbeit. Wenn wir uns an diesen Prioritäten orientieren, kann aus der Expedition nach Jamaika vielleicht etwas werden.

Frage: Herr Lindner, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Social Media Button