08.05.2018FDP

LINDNER-Interview: Die Koalition ist frech

Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab dem "Handelsblatt" (Dienstag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten Dana Heide und Thomas Sigmund.

Frage: Herr Lindner, am Wochenende kommt die FDP zum Bundesparteitag in Berlin zusammen. In Umfragen haben die Grünen die FDP überholt. Wie sehr schmerzt das?

Lindner: Gar nicht. Wer von beiden in den Umfragen gerade einmal vorn liegt, ist völlig unerheblich. Es geht darum, dass wir für die Zeit nach Angela Merkel eine Konstellation erkämpfen, die das gestaltungslose Driften des Landes beendet. Wir arbeiten hart an uns, weil wir dafür noch besser werden wollen.

Frage: Lautet deshalb das Motto beim Bundesparteitag „Innovation Nation“?

Lindner: Ja. Deutschland soll wieder wirtschaftlich gegenüber den USA und China in die Angreiferrolle. Dazu gehört beispielsweise ein Forschungsfokus auf künstliche Intelligenz, ein Digital- statt eines Heimatministeriums oder ein neues Datenrecht, das die Nutzung von Daten ermöglicht, ohne den Menschen gläsern zu machen. Wir brauchen mehr Kapital für private Investitionen in hochinnovative Unternehmen. Momentan dürfen zum Beispiel Versicherungen und Versorgungswerke nur sehr gebremst in Start-ups investieren. Außerdem diskutieren wir, ob wir mit digitalen Sonderwirtschaftszonen Dynamik schaffen können.

Frage: Wie sieht so eine Sonderwirtschaftszone aus?

Lindner: In einer digitalen Freiheitszone könnte es für Ausgründungen aus Hochschulen oder Start-ups Öffnungs- und Experimentierklauseln im geltenden Recht geben, um das Wachstumstempo zu erhöhen. Dort könnte schwerpunktmäßig auch die Digitalisierung des öffentlichen Bereichs vorangetrieben werden. Vielleicht können sogar steuerliche Anreize gegeben werden.

Frage: Wäre es da nicht besser, gleich aus ganz Deutschland eine digitale Sonderwirtschaftszone zu machen?

Lindner: Mit einer anderen Regierung gern. Aber ernsthaft: Es ist sinnvoll, in bestimmten Regionen Erfahrungen zu sammeln, die dann übertragen werden könnten. In Nordrhein-Westfalen hat der FDP-Digitalisierungsminister Andreas Pinkwart bereits solche digitalen Modellregionen geschaffen.

Frage: Was zeichnet eine Sonderwirtschaftszone aus?

Lindner: Weniger bürokratische Hemmnisse sind denkbar, von Dokumentationspflichten über das Arbeitszeitgesetz bis hin zur Umsatzsteuervoranmeldung. Was sich bewährt, wird allgemein verbindlich. So kann man Ängste vor Sozialabbau und Betrug durch Praxiserfahrungen nehmen. Auf einer tieferen Ebene geht es um den Ordnungsrahmen für Geschäftsmodelle, die sich gerade erst entwickeln. Vielfach ist noch völlig ungeklärt, wie faire Regeln für Blockchain- oder Sharing- Anwendungen aussehen könnten.

Frage: Digitale Freiheitszonen könnten also auch ordnungspolitische Labore sein. Wo sollen die digitalen Sonderwirtschaftszonen denn eingerichtet werden?

Lindner: Zum Beispiel im Umfeld von exzellenten Hochschulen.

Frage: Laut der jüngsten Steuerschätzung hat der Staat bis 2022 über 60 Milliarden Euro mehr zur Verfügung. Welche Investitionen müssen jetzt angestoßen werden?

Lindner: Ich prognostiziere, dass es 2022 noch deutlich mehr als 60 Milliarden Euro sein werden. Das Geld darf nicht verplempert werden. Es gibt großen Nachholbedarf bei der Digitalisierung des Staates, bei der Modernisierung der Schulen und bei der digitalen Infrastruktur. Wir müssen das Bildungssystem insgesamt verbessern. Deshalb sehen wir mit Interesse, dass der Bund sich stärker bei der Finanzierung der Schulen engagieren will, das Grundgesetz soll ja jetzt plötzlich dahingehend geändert werden. Für dieses Vorhaben braucht die Große Koalition aber die Stimmen der FDP, um eine Zweidrittelmehrheit zu erhalten.

Frage: Können Union und SPD mit Ihren Stimmen rechnen?

Lindner: Mit Blick auf die notwendige Reform des Bildungsföderalismus bleibt die Große Koalition recht ambitionslos. Während der Jamaika-Gespräche waren CSU und Winfried Kretschmann von den Grünen aber noch strikt dagegen. Deshalb ist jetzt der Spatz in der Hand vielleicht besser als die Taube auf dem Dach. Wir haben aber offene Fragen. Wie langfristig soll die Finanzierung sein? Kann auch in Köpfe investiert werden, also in Lehrkräfte, oder nur in Tablets und Steine? Gibt es Qualitätsvorgaben? Das wollen wir besprechen.

Frage: Was soll weiter mit den zusätzlichen Steuereinnahmen geschehen?

Lindner: Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, den ungeduldigen Menschen das wirtschaftliche Vorankommen zu erleichtern. Wir brauchen ein Entlastungspaket für die Bürger.

Frage: Woraus soll das Paket bestehen?

Lindner: Abschaffung des Solis, das Abschmelzen der kalten Progression, das spätere Einsetzen des Spitzensteuersatzes, leichtere Abschreibungsmöglichkeiten für digitale Güter und geringere Sozialversicherungsbeiträge.

Frage: Als Oppositionspartei hat man leicht reden. Wird die FDP klagen, sollte die Bundesregierung den Soli nicht komplett abschaffen?

Lindner: Hätte es die Bereitschaft bei der CDU gegeben, den Soli wie versprochen bis 2021 für alle und komplett entfallen zu lassen, wäre bekanntlich eine der Bedingungen für unseren Regierungseintritt erfüllt gewesen. Dass das Geld vorhanden ist, bestätigt sich jetzt. Die Abschaffung ist nicht nur ökonomisch richtig,
sie ist verfassungsrechtlich geboten. Notfalls werden wir also alle Klagemöglichkeiten ausschöpfen. Es ist eine Frechheit, dass die Große Koalition für alles Geld hat, aber nicht für die Entlastung für die Bürger, die hier den Karren ziehen.

Frage: Man kann jeden Euro nur einmal ausgeben. Müsste das Geld nicht in die Bundeswehr oder Investitionen in die Infrastruktur fließen?

Lindner: Der Zustand der Bundeswehr ist katastrophal. Das ist auch ein Ergebnis von zwölf Jahren Regierungszeit von Frau Merkel. Die Sozialetats steigen immer weiter, wir müssen Milliarden für die Integration von Flüchtlingen aufwenden und die Bundeswehr wurde kaputtgespart.

Frage: Auf die FDP könnte es nicht nur bei der Reform des Bildungsföderalismus ankommen. Derzeit wird diskutiert, ob auch bei den Vorschlägen einer Weiterentwicklung des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM zum Europäischen Währungsfonds EWF eine Zweidrittelmehrheit nötig ist. Wie ist da Ihre Einschätzung?

Lindner: Vieles spricht dafür, dass eine so wesentliche Frage nicht mit einfacher Mehrheit entschieden werden kann. Noch weiß man aber nicht einmal, was die Große Koalition zu diesem Thema überhaupt in den Bundestag einbringen würde. Die SPD-Mitglieder haben einem Koalitionsvertrag zugestimmt, dessen Europakapitel die CDU dabei ist zu kündigen.

Frage: Unter welchen Bedingungen würden Sie denn mitgehen?

Lindner: Eines ist klar: Die finanzpolitische Eigenverantwortung muss erhalten bleiben. Wir müssen die Währungsunion weiterentwickeln, aber die weitere Vergemeinschaftung von Finanzen, Risiken und Schulden wäre die falsche Richtung.

Frage: Die Unionsfraktion will keinen europäischen Wirtschafts- und Finanzminister, der Einsatz von Geldern aus einem neuen Europäischen Währungsfonds soll unter Parlamentsvorbehalt gestellt werden. Wäre das in Ihrem Sinne?

Lindner: Genau solche Vorschläge hatten wir schon in Verhandlungen für eine mögliche Jamaika-Koalition gemacht und im Dezember auch dem Bundestag vorgelegt. Wir wollen den Rettungsschirm dahingehend weiterentwickeln, dass ein Europäischer Währungsfonds die Einhaltung der europäischen Verträge überwacht, gleichzeitig in Verbindung mit einem starken Insolvenzrecht für Staaten. Wir wollen eine Weiterentwicklung der Kapitalmarktunion – ohne gemeinsame Einlagensicherung, aber mit einer Erleichterung für die Geschäftsbanken in Europa. All das halten wir für nötig und erforderlich. Wir würden uns freuen, wenn Deutschland endlich eine einheitliche Haltung hätte, um damit auf unsere Partner in Europa zuzugehen.

Frage: Ein anderes Thema, das Wellen schlägt, ist der Dieselskandal. Während in den USA ein Haftbefehl gegen den früheren Volkswagen-Chef Martin Winterkorn erlassen wurde, passiert hier wenig. Haben Sie das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Justiz verloren?

Lindner: Ich habe Vertrauen in die deutsche Justiz. Es ist in erster Linie eine zivilrechtliche Frage. VW muss Schadensersatzansprüche gegen Martin Winterkorn prüfen, dazu ist das Unternehmen schon rechtlich verpflichtet. Diese Prüfung dauert schon sehr lange.

Frage: Versagen da die internen Kontrollinstanzen?

Lindner: Ich gehöre dem Aufsichtsrat nicht an. Aber ich habe den Eindruck, dass das Problem darin liegt, dass das Unternehmen so stark vom Staat, also dem Land Niedersachsen, und den Gewerkschaften geführt wird. Die IG Metall und das Land Niedersachsen müssen sich fragen, was sie eigentlich in den Aufsichtsräten machen. Große Konzerne sollten nicht von viel beschäftigten Ministerpräsidenten und Wirtschaftsministern nebenberuflich überwacht werden.

Frage: Also muss eigentlich das VW-Gesetz abgeschafft werden?

Lindner: Als ordnungspolitischer Purist würde ich das empfehlen. Aber man muss da realistisch bleiben: Im niedersächsischen Landtag würde es dafür keine Mehrheit geben. Ein erster Schritt wäre daher, dass vom Land Niedersachsen wirkliche Branchenkenner in den Aufsichtsrat entsendet werden.

Frage: Glauben Sie, dass es zu einer Verurteilung von Winterkorn kommen wird?

Lindner: Dazu möchte ich mich nicht äußern. Derzeit sprechen schon zu viele Politiker über Dinge, für die sie nicht zuständig sind.

Frage: Derzeit läuft eine Debatte über die Missstände bei der Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern. Teilen Sie die Meinung von CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, dass in Deutschland eine „Anti-Abschiebe-Industrie“ entstanden ist?

Lindner: Es gibt einen Überschuss an Gesinnungsethik. Da werden ganz edle Motive in den Blick genommen. Dass diese edlen Motive aber auch ausgenutzt werden können von Menschen, die hierhin kommen, um schnell an Geld zu kommen, das wird ausgeblendet. Es wird lamentiert, aber es wird zu wenig getan.

Frage: Teile der Union haben vorgeschlagen, die Entwicklungshilfe an die Rücknahme von Flüchtlingen zu knüpfen.

Lindner: Ja, das sage ich schon seit zwei Jahren. Aber wir haben in Deutschland ein Problem mit der Umsetzung. Ich würde mir wünschen, dass Herr Dobrindt nicht nur über Probleme spricht, sondern sie auch angeht, zum Beispiel mit CSU-Entwicklungshilfeminister Müller.

Frage: Zunächst müssen die abgelehnten Asylbewerber aber gefasst werden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagt, die Vorkommnisse in Ellwangen waren kein Staatsversagen. Wie sehen Sie das?

Lindner: In der Lage ist nachvollziehbar, dass die Polizei sich zurückgezogen hat, um die Situation zu deeskalieren. Dass es dann noch vier Tage gedauert hat, bis der Mann gefasst war, der abgeschoben werden sollte, muss Thema im Landtag von Baden-Württemberg werden. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass der Staat die Kontrolle verloren hat.

 

Social Media Button