13.11.2015FDPAsylpolitik

LINDNER-Interview: Frau Merkel hat Chaos gestiftet

Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER gab „Zeit Online“ das folgende Interview. Die Fragen stellten CHRISTIAN BANGEL:

Frage: Herr Lindner, wie bewerten Sie das Handeln der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise?

LINDNER: Die Bundeskanzlerin verlässt sich darauf, dass die Menschen mit ihrem beeindruckenden bürgerschaftlichen Engagement das anhaltende Staatsversagen schon ausgleichen werden. Das geht nicht auf Dauer. Frau Merkel hat mit ihrem Zick-Zack-Kurs in den letzten Wochen Chaos gestiftet. Deshalb erleben wir einen chaotischen Massenzustrom, über den die Regierung die Kontrolle verloren hat. Deutschland ist solidarisch und wir brauchen sogar Zuwanderung, aber mit klaren Regeln und einer Strategie. Die letzten Wochen werden einmal als Wendepunkt der Kanzlerschaft von Angela Merkel in die Geschichte eingehen.

Frage: Wie meinen Sie das?

LINDNER: Der Satz „Wir schaffen das“ hat mir zuerst gefallen, weil er zu der überwältigenden Hilfsbereitschaft und dem beherzten Anpacken der vielen Freiwilligen passt. Aber eine optimistische Haltung ist für eine Regierungschefin zu wenig. Von der Bundeskanzlerin darf man einen Plan und konkretes Handeln erwarten. Die Anzahl an Asylbewerbern, die jetzt in kurzer Zeit nach Deutschland kommt, können wir auf Dauer nicht stemmen. Die Zahlen müssen sinken. Die Wirtschaftsweisen mahnen ja dieser Tage zudem, dass wir durch die Integration, die Eingliederung von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt und die sprunghaft steigende Nachfrage nach Wohnungen vor großen Aufgaben stehen. Ich habe keinen praktischen Beleg dafür, dass die Dimension der Herausforderung auch nur ansatzweise von der Bundesregierung begriffen wurde.

Frage: Die Herausforderung ist auch deswegen so groß, weil die anderen europäischen Staaten sich der Mithilfe verweigern.

LINDNER: Es ist genau andersherum. Die Kanzlerin hat mit ihren bedingungslosen Willkommensgesten den Eindruck erweckt, die Aufnahmekapazitäten in Deutschland und Europa seien unbegrenzt. Ich bin in Sorge, dass Tausende Flüchtlinge bitter enttäuscht werden, wenn sie die Realität sehen. Überall in Europa fehlt das Verständnis für das, was die Deutschen tun. Selbst das weltoffene und sozialdemokratische Schweden hat eine politische Wende vollzogen. Sie ist in Deutschland überfällig.

Frage: Der Innenminister versucht inzwischen offenbar unabgestimmt mit der Regierung, das Dublin-Abkommen wieder in Kraft zu setzen. Wie beurteilen Sie das?

LINDNER: Kaum etwas ist bei Migration wichtiger als ein klares Regelwerk. Wenn der Innenminister jetzt wieder nach dem Dublin-Abkommen verfährt, ist das ein erster Schritt zur Rückkehr zu einem rechtsstaatlichen geordneten Verfahren. Dass aber die Bundeskanzlerin davon nichts gewusst haben will, zeigt erneut, dass in dieser Regierung aktuell das blanke Chaos herrscht. Die Minister der Union widersprechen sich öffentlich und wissen nicht, was der andere tut – die Minister der SPD sind gleich ganz abgetaucht.

Frage: Wie stehen Sie zur aktuellen Debatte um den Familiennachzug?

LINDNER: Ein pauschales Nein wäre mit unserem Grundgesetz wohl nicht vereinbar. Aber es muss sich etwas am Recht ändern. Wir wollen einen zeitlich befristeten Schutz für Kriegsflüchtlinge. Vergleichbar wurde das auch schon in den Neunziger Jahren bei den Balkanflüchtlingen gemacht. Nach unserem Gesetzesvorschlag würden die individuellen Prüfverfahren für Asyl zunächst wegfallen, die Behörden also entlastet. Der Familiennachzug würde verschoben. Kriegsflüchtlinge bekämen Schutz, solange sie nicht zurückkehren können. Wenn dereinst wieder Stabilität in ihrer Heimat erreicht ist, haben sie dorthin zurückzukehren. Durch ein Einwanderungsgesetz sollten sie aber die Chance erhalten, sich in Deutschland für dauerhaften Aufenthalt im Arbeitsmarkt zu bewerben. Das wäre eine pragmatische und humanitäre Antwort, die aber auch die Belastungsgrenze unseres Landes und seine Interessen im Auge behalten würde. Gleichzeitig hätte der Schritt eine hohe symbolische Wirkung und würde die Sogwirkung eindämmen, die Frau Merkels Politik ausgelöst hat.

Frage: Seit einem Jahr gehen in Dresden und anderen Städten Tausende gegen Flüchtlinge und Eliten auf die Straße, die sich als bürgerlich bezeichnen würden. Wie geht eine liberale Partei damit um?

LINDNER: Pegida und die damit verwandten Bewegungen vertreten im Kern ein völkisches Gedankengut. Sie schüren Ängste, tolerieren Ressentiments gegen Minderheiten, demokratisch gewählte Parlamente und freie Medien. Und sie dulden in ihrer Mitte Aufrufe zur Gewalt. Welcher Bürger mit Verantwortungsgefühl lässt sich von einem Lutz Bachmann anführen? Für das Abendland mit Kants Aufklärung und Lessings Ringparabel sind diese Leute die wirklich schlechtesten Verteidiger.

Frage: Glauben Sie daran, dass man mit Pegida-Anhängern ins Gespräch kommen muss, um sie wieder für die Demokratie zu gewinnen?

LINDNER: Ich spreche jeden Tag mit Menschen, die in Sorge um ihre Zukunft oder unser Land sind. Für Ausfälle wie bei oder im Umfeld dieser Pegida-Kundgebungen gibt es aber keine Entschuldigung. Dem kann man nur entschieden widersprechen.

Frage: Wie erklären Sie sich, was in Dresden und anderswo passiert?

LINDNER: Die Welt ändert sich, die Werte sind nicht mehr klar. Der Jurist Udo di Fabios sieht einen schwankenden Westen und eine gesellschaftliche Mitte in Deutschland, die aus verschiedenen Gründen unter Druck steht. Das wird zur Gefahr für den inneren Frieden unseres Landes. Bestimmte Tabus drohen zu fallen, etwa der grundsätzliche Respekt im Diskurs und der Verzicht auf Gewalt. Viele Debatten werden nicht mehr in Sache geführt, sondern verrohen. Die Argumente Andersdenkender werden dann als grundsätzlich unzulässig niedergebrüllt. Pegida ist schlimm, die gewaltsamen Proteste von Linksradikalen vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt waren es auch.

Frage: Diese nervöse gesellschaftliche Mitte und ihre Bereitschaft, am System zu zweifeln – findet man das nicht auch in der FDP?

LINDNER: Ein klares Nein. Die FDP ist keine Partei der Angst – im Gegenteil. Wir schüren und bedienen keine Ängste, sondern wollen den Menschen Ängste nehmen. Wir wollen den Einzelnen stark machen und ermutigen ihn, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Wir sind der festen Überzeugung, dass unser weltoffenes Land seine beste Zeit noch vor sich hat, wenn wir richtig handeln. All das hat mit Pegida gar nichts gemein. Deswegen haben wir als FDP einen Unvereinbarkeitsbeschluss gefasst. Wer Pegida unterstützt, steht im Widerspruch zu den grundlegenden Zielen der FDP.

Frage: Der Dresdener FDP-Verband aber scheint das anders zu sehen. Nach Ihrem Unvereinbarkeitsbeschluss gaben sie dort eine Pressemitteilung heraus, in der es heißt, man werde Mitglieder nicht bewerten, die sich um das richtige Verfahren beim Thema Asyl Gedanken machen. FDP-Stadtrat Jens Genschmar bezeichnet Demonstranten gegen Pegida als „geistige Brandstifter“.

LINDNER: Ich kenne diese Positionen und die Zitate im Einzelnen nicht. Es kann aber keinen Zweifel geben, dass die von der FDP ebenfalls geübte Kritik an der Asylpolitik der Bundesregierung oder eine abstrakte „Sorge“ keine Entschuldigung für eine Unterstützung von Pegida ist. Die konkreten Forderungen dieser Bewegung in der Sache sind doch nicht mehr als ein Feigenblatt, um in Wahrheit die grundlegende Ablehnung einer weltoffenen, individualistischen Gesellschaft zu tarnen. Das sind völkische Kollektivisten, die das Gegenteil der liberalen Grundwerte der FDP wollen. Wer beides unterstützen könnte, der müsste innerlich zerrissen sein. Ich bin ein Verfechter der Meinungsfreiheit. Aber das ist keine Einladung zum Relativismus, sondern die Verpflichtung, aktiv jenen zu widersprechen, die durch Parolen oder Taten die innere Liberalität unserer Gesellschaft offen in Frage stellen.

Frage: Die AfD steht in Umfragen inzwischen deutlich über fünf Prozent. Würden Sie sagen, dass die Partei mit Ihnen um Wähler konkurriert?

LINDNER: Nein. Zumindest nur in dem Maße, wie die FDP mit der Linkspartei um Wähler konkurriert. In Hamburg und Bremen war die FDP auch deshalb erfolgreich, weil wir unser Profil als exaktes politisches Gegenteil der Pegida-Partei AfD herausgearbeitet haben.

Frage: Sie haben kürzlich einmal gesagt: Nicht Deutschland muss sich in erster Linie anpassen, die Flüchtlinge werden es tun müssen. Hat das denn ernsthaft irgendwer gefordert?

LINDNER: Um genau zu sein, ich habe gesagt, dass sich mancher Flüchtling aus einer anderen Gesellschaftsordnung ändern muss, aber das liberale Deutschland sich geradezu nicht ändern darf. Wenn das eine von allen geteilte Selbstverständlichkeit sein sollte, bin ich zufrieden. Denn wir schätzen die Freiheit in Deutschland, seine Weltoffenheit und Toleranz. Und wir haben mit dem Grundgesetz eine objektive, liberale Wertordnung. Die Würde und freie Entfaltung des Einzelnen, die Freiheit und Unabhängigkeit der Presse, das freie Wort und das Recht auf eine eigene Meinung, die Geschlechter haben die gleichen Rechte – all das ist die Grundlage unseres Zusammenlebens. Und darauf gewähren wir keinen Rabatt – für niemanden und aus keinen Motiven.

Frage: Würden Sie auch sagen, dass der Islam zu Deutschland gehört?

LINDNER: Bei diesem Satz weiß ich bis heute nicht, was er genau bedeutet. Es sind viele Muslime hier und gut integriert – ja. Aber Religion ist für mich keine Staatsangelegenheit, egal um welchen Gott es geht. Bei uns kann jeder Einzelne seine Religion ausleben. Aber kein Glaube darf mit unserem weltanschaulich neutralen Recht in Konkurrenz treten. Übrigens ist auch das Christentum nicht die deutsche Staatsreligion.

Frage: Wenn man Sie jetzt zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer verorten müsste, wären Sie näher bei Seehofer.

LINDNER: Nein, ganz im Gegenteil will ich zwischen diesen beiden gerade nicht wählen müssen. Genau in dieser Polarisierung zwischen fast reaktionärer Abschottung und grenzenloser Willkommensromantik liegt doch das Problem. Ich bin für den dritten Weg der Mitte, der Vernunft und der Verantwortungsethik.

Frage: Sind Sie der Union noch immer näher als den Sozialdemokraten? Oder gibt es inzwischen eine Äquidistanz zu beiden Parteien?

LINDNER: Ich tue mich schwer mit diesem Begriff. Er suggeriert, wir seien von beiden Parteien immer gleich weit entfernt. Das würde auch bedeuten, dass wenn Union und SPD sich bewegen, wir dem folgen. Das ist nicht der Fall. Wir haben unser eigenes inneres Koordinatensystem, dem wir folgen: Vertrauen in marktwirtschaftliche Lösungen, das Verfechten der Bürgerrechte und das Eintreten für eine tolerante Gesellschaft. Damit ist uns von den sozialdemokratischen Parteien im Bundestag die Union noch am nächsten. Aber wir sind als Partei frei und unabhängig wie nie zuvor.

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