16.04.2018FDPFDP

LINDNER-Interview: Kennen Sie jemanden, der von Hartz IV lebt?

Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab dem „Focus“ (Sonnabend-Ausgabe) das folgende Doppel-Interview. Die Fragen stellten Jörg Harlan Rohleder und Jan Wolf Schäfer.

Frage: Während wir unser Gespräch führen, zurrt die Bundesregierung auf Schloss Meseberg fest, wie sie rund 1,7 Billionen Euro ausgeben will. Frustriert es Sie, hier in Berlin zu sitzen und nicht am Verhandlungstisch?

Katja Kipping: Mein Bedürfnis nach einer Klausur mit Horst Seehofer und Jens Spahn hält sich in Grenzen. Wir unterbreiten unsere Änderungsvorschläge, wenn der Bundestag über den Haushalt berät.

Christian Lindner: Dabei zu sein ist kein Selbstzweck. Wir leben in einer Situation der Spätphase der Ära Merkel, in der es nur noch darum geht, Geld zu verteilen. Klare Richtungsentscheidungen bleiben aus. Die Reformen, die in Frankreich unternommen werden, verschleppt man in Deutschland. Die Steuern, die Macron senkt, werden bei uns erhöht.

Frage: Knapp die Hälfte des Geldes, das in den nächsten vier Jahren verteilt werden soll, fließt in den Sozialetat. Gibt die Bundesregierung zu viel für Soziales und zu wenig für Bildung, den Rohstoff der Zukunft, aus?

Kipping: Das gegeneinander auszuspielen ist verheerend, denn wir wissen, dass in Deutschland noch immer eine starke Abhängigkeit zwischen den Bildungschancen eines Kindes und dem Einkommen der Eltern besteht. Der offizielle Armutsbericht bringt das sehr klar auf den Punkt: Aus nicht armen Familien geht jedes zweite Kind auf ein Gymnasium, aus armen Familien noch nicht einmal jedes vierte Kind. Und da kein Kind es sich aussuchen kann, in welche Familie es geboren wird, werde ich immer betonen: Aufgabe eines Staates ist es, hier für Ausgleich zu sorgen.

Lindner: Hier stimmen wir überein. Die soziale Qualität einer Gesellschaft macht sich an der Chancengerechtigkeit fest. Der familiäre Zufall darf nicht den Lebensweg so stark beeinflussen, wie das bei uns der Fall ist. Ich halte das übrigens für den eigentlichen Gerechtigkeitsskandal in Deutschland.

Kipping: Wir brauchen mehr Lehrkräfte in den Schulen. Und um das zu ermöglichen, benötigen die Bundesländer mehr Geld. Deswegen wollen wir Vermögen oberhalb einer Million stärker besteuern.

Lindner: Einspruch. Wir müssen nicht die Steuern erhöhen, sondern das Geld besser verteilen. Außerdem brauchen wir eine Bildungsreform: Der Bund muss eine größere Rolle spielen, eine Reform des Bildungsföderalismus ist unabdingbar. Bildung ist für mich der Schlüssel überhaupt – auch als Absicherung gegenüber Armut.

Frage: Darüber wollen wir heute mit Ihnen sprechen. Herr Lindner, kennen Sie jemanden, der von Hartz IV lebt?

Lindner: Diese Frage werde ich nicht beantworten.

Frage: Warum nicht?

Lindner: Aus zwei Gründen. Erstens will ich mich nicht zur Lebenssituation von Freunden, Bekannten oder Parteifreunden äußern. Und zweitens ist Ihre Frage ein Trick, mit dem rhetorisch versucht wird, immer einzureden, Politiker hätten keine Ahnung von den sozialen Zuständen im Land.

Frage: Haben Sie das denn?

Lindner: Das ist polemisch, aber okay: Ja, ich kenne Einzelfälle von Menschen, die im Sozialleistungsbezug sind und zugleich arbeiten. Als Hilfe im Haushalt beispielsweise. Konkret denke ich an eine alleinerziehende Frau, sie bezieht Hartz IV, bekommt Familienzuschlag und kommunales Wohngeld und hat einen Minijob. Wenn diese Frau als Haushaltshilfe eine Stunde mehr arbeitet, bleiben ihr von jedem zusätzlich verdienten Euro gerade mal 20 Cent. Das ist einfach unfair. Dieses Modell führt dazu, dass die Frau entweder weniger arbeitet oder die zusätzliche Stunde dem Amt nicht meldet. Unser Sozialstaat muss aufstiegsorientierter werden.

Kipping: Ich habe erlebt, wenn Freunde oder Mitbewohner vorübergehend oder aufstockend auf Hartz IV angewiesen sind. Außerdem gehe ich regelmäßig in Dresden frühmorgens vors Jobcenter, um Kaffee auszuschenken und das Gespräch anzubieten.

Frage: Wann waren Sie zuletzt dort?

Kipping: Gestern.

Frage: Was haben Sie erlebt?

Kipping: Vor dem Jobcenter trifft man in der Regel Menschen, die unter Druck stehen, die das Gefühl haben, ausgeliefert zu sein. Gestern kam ich zum Beispiel mit einem Mann ins Gespräch, dem man seine Bezüge um 30 Prozent gekürzt hatte, wogegen er nun Widerspruch eingelegt hat. Laut Gesetz muss dieser Widerspruch innerhalb von drei Monaten bearbeitet sein – der Mann wartet jedoch seit 14 Monaten darauf.

Lindner: Interessant, dass Sie gar nicht die Frage gestellt haben, warum die Sanktion verhängt worden ist.

Kipping: Natürlich habe ich die Frage gestellt. Ihm ist eine Rückzahlung als Einkommen angerechnet worden.

Lindner: Das heißt, er hat Sozialleistungen zu Unrecht bekommen?

Kipping: Nein. Herr Lindner, Sie verurteilen diesen Menschen schon, ohne den konkreten Sachverhalt zu haben.

Lindner: Nein, ich will den Sachverhalt wissen, weil in Deutschland ...

Kipping: Wenn jemand Widerspruch einlegt, muss nach rechtsstaatlichen Prinzipien entschieden werden. Herr Lindner, wenn Sie über Hartz IV reden, reden Sie immer nur über bessere Hinzuverdienstregelungen. Ich sage jedoch: Das Leiden an Hartz IV fängt viel früher an.

Frage: Dennoch ist Hartz IV eine Erfolgsgeschichte: 14 Jahre nach der Einführung sind die Arbeitslosenzahlen von fast fünf Millionen kommend nahezu halbiert, die Zahl der Langzeitarbeitslosen von 1,7 Millionen auf 845000 sogar halbiert.

Kipping: Das ist ein Irrtum. Auch wenn die offiziellen Erwerbslosigkeitszahlen sinken, haben wir nach wie vor eine verfestigte Langzeiterwerbslosigkeit. In den letzten Jahren hat die Bundesregierung die Gelder für aktive Arbeitsmarktpolitik gekürzt. Genau das Gegenteil davon wäre sinnvoll. Erst gestern besuchte ich eine Maßnahme für Menschen, die sich einbringen wollen, aber im ungeschützten Bereich, also im ersten Arbeitsmarkt, wo alles schnell gehen muss, wo jedes Rädchen ineinandergreifen muss, überfordert sind.

Frage: Sie fordern eine lebenslange Betreuung?

Lindner: Das bedeutet de facto eine Stilllegung. Diese Menschen in einem Reservat einzuhegen, in dem sie nichts mehr mit dem arbeitsmarktpolitischen Ernstfall zu tun haben, das halte ich für den falschen Weg. Wir haben das schon in den Neunzigern erlebt, wie solche Maßnahmen völlig erfolglos verpufften.

Frage: Und doch schlägt Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller genau das vor, wenn er 150000 Langzeitarbeitslose unter dem schicken Etikett „solidarisches Grundeinkommen“ in gemeinnützige Arbeit bringen möchte.

Kipping: Was Michael Müller solidarisches Grundeinkommen nennt, ist schlichtweg der öffentlich geförderte Beschäftigungssektor. Diesen ÖBS gab es schon von 2006 bis 2011 unter Rot-Rot in Berlin. Und 2011 hat der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Müller genau diese Stellen abgeschafft. Ich freue mich, dass er nun seine Meinung bezüglich des ÖBS geändert hat. Doch mit Bezug auf das Grundeinkommen ist sein Vorschlag Etikettenschwindel.

Frage: Aber es funktioniert ...

Lindner: ... aus PR-Sicht vielleicht.

Frage: Für den größten Bohei hat Ihr Vermieter Jens Spahn gesorgt, als er Müllers Ansage volley aufnahm.

Lindner: Eigentlich hat Jens Spahn nur das wiederholt, was er seit zwei Jahren aufsagt – und auf einmal knallt’s. Weil es gerade in die Medienlage passt.

Frage: Schreiben Sie ihm nach solchen Tagen mal eine SMS – nach dem Motto: „Mensch Jens, krasse Aktion wieder“?

Lindner: Netter Versuch.

Frage: Lassen Sie uns weiter über Hartz IV reden. Wie kann man das System fairer machen?

Kipping: Meine größten Dissenspunkte mit Hartz IV und dem FDP-Wahlprogramm bestehen hierin: Sie wollen den Hartz-IV-Regelsatz nicht erhöhen, und ich sage, der ist gezielt kleingerechnet worden. Und: Sie wollen nicht ran an die Hartz-IV-Sanktionen – ich möchte die Sanktionen abschaffen. Allein im vergangenen Jahr waren 310000 Haushalte mit Kindern davon betroffen.

Lindner: Ich habe ausdrücklich nichts gegen die Erhöhung des Grundsicherungsniveaus.

Kipping: Wie hoch würden Sie das ansetzen? Ich habe die Berechnung des Existenzminimums sehr genau analysiert. Immerhin sind 7,4 Millionen Menschen direkt von der Regelsatzhöhe betroffen. Und ich sage, die Regierung rechnet die Regelsätze gezielt klein. Ohne die offensichtlichsten Tricks müsste der Hartz-IV-Regelsatz bei mindestens 560 Euro liegen.

Lindner: Ich habe nichts gegen eine Erhöhung des Grundsicherungsniveaus, wenn das sozioökonomische Existenzminimum höher liegt als bisher. Aber: Wir können auf gar keinen Fall darauf verzichten, dass diejenigen, die Sozialleistungen erhalten, eine Gegenleistung erbringen.

Kipping: Wie soll diese aussehen? Und welche Instanz hat das Recht zu entscheiden, welche Tätigkeit anerkannt wird? Wenn Sie von Leistung reden, denken Sie offensichtlich nur an Erwerbsarbeit. Ich aber hinterfrage die Behauptung, nur Erwerbsarbeit sei Leistung. Denken wir nur an Familienarbeit, ehrenamtliches, politisches Engagement.

Lindner: Die Gegenleistung besteht in Bemühung um Bildung, Bemühung um Arbeit, Bemühung darum, die Solidarität der Gesellschaft nur so lange in Anspruch zu nehmen, wie man sie braucht.

Kipping: Dafür bedarf es keiner Sanktionen.

Lindner: Falsch. Wer auf Sanktionen verzichtet, lädt ein, die Solidarität der Gesellschaft auch stärker in Anspruch zu nehmen als erforderlich.

Frage: Sehen Sie denn Hartz IV als wirksam an?

Lindner: Nein. Hartz IV funktioniert in seiner jetzigen Form nicht. Und auch ich bin weit entfernt davon zu sagen, dass unser Sozialstaat fertig ist, wie die CDU das macht. Gleichzeitig muss das Lohnabstandsgebot gewahrt bleiben.

Kipping: Auch in meiner Partei ist vielen das Lohnabstandsgebot wichtig. Aber wir wollen eine andere Logik. Nicht mit Verweis auf niedrige Löhne, die die Sozialleistungen noch niedriger halten. Das führt in eine Verarmungsspirale. Vielmehr geht es darum, für höhere Löhne zu sorgen.

Lindner: Indem man die Sozialleistungen so ansetzt, dass Arbeiten in jedem Fall lohnender ist.

Kipping: Sie sprachen eben die Wohnkosten an. Tatsache ist doch, dass nur die sogenannten angemessenen Unterkunftskosten erstattet werden. Oft gibt es dafür nur Wohnungen in armen Stadtteilen. Diese Regelung befeuert eine soziale Entmischung. Die Armen leben in einem Stadtteil und die Besserverdienenden in einem anderen. Das bedeutet: In der Grundschule trifft das Kind des Bankers nicht mehr auf das Kind des Bäckers.

Lindner: Es geht nicht um die Bäcker und Banker, sondern um deutsche Familien und Flüchtlingsfamilien. Das ist die eigentliche Problematik, vor der wir stehen. Die Hartz-IV-Zahlen werden massiv steigen, und das ist eine Folge einer katastrophalen Einwanderungs- und Integrationspolitik. Deshalb darf man die Bezüge nicht wahllos erhöhen oder frei von Sanktion versprechen – erst recht nicht Menschen, die weder integriert sind noch deutsch sprechen. Hier geht’s nicht um die Bestrafung von deutschen Alleinerziehenden in Dresden oder Langzeitarbeitslosen in Halle, sondern darum, Anreize zur Integration zu setzen. Junge Männer aus Syrien zum Beispiel müssen wissen: In Deutschland muss man arbeiten. Und es darf nicht der Eindruck entstehen, Hartz IV sei ein Grundeinkommen, das ein Clan-Mitglied irgendeiner libanesischen Bande in Berlin automatisch überwiesen bekommt. Frau Wagenknecht würde mir da sicher zustimmen.

Kipping: Halt! Ich verteidige meine Fraktionsvorsitzende gegen diesen Übernahmeversuch der FDP. Und ich frage mich, welchem Zeitgeist Sie mit dieser Beschreibung Tribut zollen wollen. Mein Zugang zum Thema Integration ist ein anderer als Ihrer. Die Bundesregierung macht beim Thema Integration so ziemlich alles falsch. Das beginnt erstens damit, dass es nicht einmal genügend Sprachkurse für alle gibt, die einen benötigen würden und wahrnehmen möchten. Zudem mangelt es an Lehrkräften.

Frage: Sprachkurse allein werden nicht reichen.

Lindner: Es ist ein Maßnahmenbündel, das vonnöten ist. Und am Anfang steht: Die Flüchtlinge brauchen ganz schnell Klarheit darüber, ob sie in Deutschland bleiben können oder nicht.

Frage: Sprechen Sie von den Anker-Zentren, die Horst Seehofer plant?

Lindner: Wir brauchen eine Veränderung beim Recht. Ich bin der Auffassung, dass jeder Flüchtling – nach einer Identitätsfeststellung – ganz schnell einen Rechtsstatus vorübergehenden Schutzes bekommen sollte, der dann Fördermaßnahmen wie Sprachkurse auslöst und eine Arbeitserlaubnis beinhaltet. Das muss unbürokratisch und schnell geschehen.

Kipping: Massenunterkünfte, in denen Geflüchtete unter sich bleiben, sind das Gegenteil von Integration. Anker-Zentren sind Integrationshemmnisse.

Frage: Lassen Sie uns zum Abschluss in die Zukunft blicken: Brauchen wir im Industrie-4.0-Zeitalter nicht ohnehin ein neues Fürsorgemodell, wenn Roboter Jobs kosten werden? Siemens-Chef Kaeser warnt beispielsweise davor, dass die Mittelschicht bedroht ist.

Kipping: Natürlich kommen große Umbrüche in der Arbeitswelt auf uns zu. Umso wichtiger ist es, soziale Errungenschaften wie Rentenversicherung und Krankenversicherung zu verteidigen und auszubauen. Der Fortschritt muss allen zugutekommen, am besten in Form von mehr Zeitwohlstand.

Lindner: Die Arbeit wird auch mit Robotern und KI nicht ausgehen: Bildung, Pflege, Gesundheit, Infrastruktur, da gibt’s enorm viel zu tun. Wir brauchen ein neues, zweites Bildungssystem für lebenslanges Lernen. Denn: Keine Biografie darf eine Sackgasse werden – und in Hartz IV enden.

Frage: Würde es denn helfen, Hartz IV einen neuen Namen zu verpassen?

Kipping: Das wäre nur Augenwischerei. Bei diesem Namen wissen die Leute wenigstens, worüber man spricht. Ein System, das zu Recht unbeliebt ist, weil es ein Angriff auf die Menschenwürde ist.

Frage: Gibt es einen Satz, den Sie dem Namenspaten der Hartz-Agenda mitteilen möchten?

Kipping: Für Peter Hartz nicht, für Gerhard Schröder schon.

Frage: Und wie lautet dieser?

Kipping: Herr Schröder, Ihre Reform ging voll daneben – und Millionen Menschen müssen das ausbaden. Sie sollten sich schämen!

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