23.11.2017FDPFDP

LINDNER-Interview: So geht es nicht

Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab „Spiegel Online“ heute das folgende Interview. Die Fragen stellten Severin Weiland und Philipp Wittrock.

Frage: Herr Lindner, haben Sie sich schon an die Rolle des neuen Bösewichts der deutschen Politik gewöhnt?

Lindner: Abseits der Medien erhalten wir mehr positive Bestätigung als Kritik für unsere Konsequenz. Unabhängig davon bin ich mit unserer Entscheidung im Reinen. Jamaika hatte keine Idee, kein Vertrauen, keine Stabilität. Unser Land braucht aber eine stabile Regierung.

Frage: Vor allem von Grünen-Seite wird Ihnen vorgehalten, den Ausstieg von vornherein geplant zu haben. Warum haben Sie überhaupt viereinhalb Wochen sondiert?

Lindner: Weil wir uns nicht von vornherein aus der Verantwortung stehlen wie die SPD. Es ging aber lediglich um im Ergebnis offene Sondierungsgespräche. Mancher tut jetzt so, als hätten wir eine Regierungsbildung auf den letzten Metern platzen lassen. Ich habe vor und während der Gespräche regelmäßig meine Skepsis ausgedrückt. Die hat sich zum Schluss bewahrheitet.

Frage: Wir verstehen es noch nicht. Woran ist es denn gescheitert?

Lindner: An zum Schluss immer noch 237 offenen Widersprüchen. Das ist keine Überraschung. Schon im Grundsatz steht die FDP als Partei der Freiheit steht gegen das Konzept der Grünen, auf staatliche Interventions- und Lenkungspolitik zu setzen. Zum Beispiel wurde das in der Klimapolitik deutlich, wo wir die Innovationsmaschine des Marktes nutzen wollen, während die Grünen auf Quoten, Subventionen und Verbote setzen. Oder Europa – da wollten die Grünen neue Geldtöpfe beim Euro einführen, während wir die finanzielle Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten betonen.

Frage: Und die Union ist unschuldig?

Lindner: Nein, in der Eurofrage ist die Union den Grünen entgegengekommen. Das zeigt, was uns als FDP geblüht hätte, wenn wir in der Regierung womöglich das Finanzministerium übernommen hätten. Wir wären das fünfte Rad am Wagen oder diejenigen gewesen, die in einer laufenden Regierung Krisen produzieren, weil wir als Abweichler ein Veto hätten aussprechen müssen.

Frage: Der größte Streitpunkt war der Familiennachzug, vor allem zwischen CSU und Grünen. Warum waren Sie da ebenfalls so hartnäckig?

Lindner: Die FDP will ein liberales Einwanderungsrecht, wir sind gegen irgendwelche völkischen Konzepte. Aber wir wollen klare Regeln und eine Rücksichtnahme auf die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft. Gegenwärtig müssen wir die Zahlen begrenzen. Daher müssen wir den Familiennachzug für subsidiär geschützte Flüchtlinge so lange aussetzen, bis es ein geordnetes Einwanderungssystem gibt. Da liegen wir übrigens nicht nur auf einer Linie mit der Union, sondern auch mit der SPD. Sie hat das in der Großen Koalition an der Seite der Union mit beschlossen.

Frage: Hatten Sie den Eindruck, dass sich Grüne und CSU in dieser Frage kurz vor Schluss auf eine Einigung zubewegten?

Lindner: Diesen Eindruck hatte ich nicht. Wenn das so sein sollte, bin ich auf eine schwarz-grüne Initiative im Bundestag gespannt. Tatsächlich habe ich die Grünen in dieser Frage als weltfremd empfunden. Union, SPD und FDP liegen hier näher zusammen.

Frage: Wie soll es bei diesem Thema weitergehen?

Lindner: Unsere Fraktion will in dieser Sache eine Gesetzesinitiative ins Parlament einbringen. Wir schlagen vor, den Familiennachzug noch einmal über März 2018 hinaus auszusetzen, solange wir nicht in der Lage sind, den Menschen in Sachen Integration, Schulen, Wohnungen gerecht zu werden. Wenn jemand aber durch Arbeit für seine Familie sorgen kann oder in humanitären Härtefällen könnte es Ausnahmen geben. Das prüfen wir gerade. Denkbar wäre beispielsweise eine Härtefallkommission, die während der Jamaika-Sondierungen den Grünen schon einmal vergeblich als Kompromiss vorgeschlagen worden war. Diese könnte entscheiden, ob in einzelnen Fällen – etwa bei einer schweren Erkrankung eines Betroffenen – Familien zusammengeführt werden. Wir dürfen das Thema nicht der AfD überlassen, die in der Frage des Familiennachzugs kalt, herzlos und auf Abschottung bedacht ist.

Frage: Grünen-Politiker Bütikofer hat Ihnen vorgehalten, der AfD mit einem deutsch-nationalen Kurs Wähler abspenstig machen zu wollen.

Lindner: Das bestätigt mich im Nachhinein, dass es kein Vertrauen gab.

Frage: Und Herr Trittin unterstellt Ihnen, eigentlich wollten Sie die Kanzlerin stürzen.

Lindner: Was auch unterstreicht, dass es bei den Grünen offenbar tiefsitzende Ressentiments gegenüber der FDP gibt. Das haben sie – aus dem Wunsch heraus, irgendwie in die Regierung zu kommen – wohl in viereinhalb Wochen heruntergeschluckt.

Frage: Ihre Generalsekretärin Nicola Beer war aber jetzt so zu verstehen, als könne es einen erneuten Anlauf für Sondierungen geben.

Lindner: Das war eine falsche Interpretation ihrer Worte. Die Gespräche zu einer Jamaika-Konstellation haben wir aufgrund widersprüchlicher Inhalte beendet. Danach haben die Grünen mit Verschwörungstheorien und Anfeindungen bestätigt, dass nicht das notwendige Vertrauensverhältnis bestand. Auf absehbare Zeit ist daher eine Zusammenarbeit mit den Grünen auf Bundesebene für die FDP nicht vorstellbar. Eine Wiederaufnahme der Gespräche schließe ich aus.

Frage: Kommen wir nochmal zur entscheidenden Sonntagnacht. Sie sagen: Es ging nicht mehr. Die anderen: Wir waren kurz vor der Einigung. Wie kommt es zu so unterschiedlichen Interpretationen?

Lindner: Es ist eine Aufgabe für Journalisten und Historiker, die Wahrheit herauszufinden.

Frage: Wir würden gerne Ihre Version hören.

Lindner: Fragen Sie einmal die Union und die Grünen, wo die Einigung bei Migration, Energie, Finanzen, Verkehrspolitik und in der Europolitik war. Einige in Union und Grünen wollten den Eindruck einer Einigung verbreiten, um Geschäfte zu Lasten Dritter zu machen – nämlich der FDP. Aber ein Kompromiss ist doch noch nicht erreicht, wenn sich Frau Merkel und die Grünen fest in die Augen schauen und sich die Hand geben.

Frage: Ist es richtig, dass Sie bereits Sonntagmittag in der Runde der sechs Spitzenverhandler erklärt hatten: Lasst es uns beenden?

Lindner: Ja. Donnerstagnacht, am Samstagvormittag und Sonntagmittag haben wir mit wachsender Dringlichkeit signalisiert, dass die Gesamtanlage und die vielen offenen Einzelpunkte aus unserer Sicht eine Fortsetzung der Gespräche nicht ratsam erscheinen lassen.

Frage: Und dann haben Angela Merkel und Horst Seehofer Sie am Sonntag gebeten, weiter zu sprechen?

Lindner: Ja. Und ich hatte am Sonntagnachmittag dann plötzlich den Eindruck, es ginge etwas voran. Am Abend hat sich in einer erneuten Spitzenrunde meine positive Sicht wieder verdüstert. Es gab eher Rück- als Fortschritte.

Frage: Wo etwa?

Lindner: Etwa in der Euro-Frage. Ich habe in den Sondierungen immer wieder klar gemacht, dass neue Haftungsregeln bei der Bankenunion oder ein neuer Hilfsmechanismus in der Eurozone, bei dem neue Kreditlinien ohne konkrete Programme für Staaten zur Verfügung gestellt worden wären, eine rote Linie für die FDP sind. Ich hatte den Text des Koalitionsvertrages aus den Niederlanden ins Gespräch gebracht, um zu betonen, dass es sich hier nicht um eine europakritische Extremposition handelt. Wenn aber am Sonntagabend um 21 Uhr, wenn es bereits an vielen Stellen rot glüht, dieser wichtige Punkt wieder von Union und Grünen in Frage gestellt wird, muss doch jeder wissen - so geht es nicht.

Frage: Sind nicht in einer solchen Konstellation weniger Prinzipien, sondern Pragmatismus gefragt?

Lindner: Die FDP hat sich in den Ländern kompromissbereit gezeigt – wir regieren mit Jamaika in Schleswig-Holstein, in einer Ampel in Rheinland-Pfalz und als schwarz-gelbe Koalition in Nordrhein-Westfalen. Die FDP hat sich also nicht selbst in Orthodoxie gefangen genommen. Aber am Ende gibt es nicht nur Pragmatismus, sondern auch liberale Grundsätze.

Frage: Wenn wir schon bei der historischen Rekonstruktion sind: Sind Sie mit einem vorbereiteten Zettel in die Runde der Acht am Sonntagnacht hineingegangen, um das Ende zu verkünden?

Lindner: Nein. Wir haben gegen 22 Uhr beschlossen, dass es keinen Sinn mehr hat. Wir haben eine Erklärung formuliert, ich habe sie in den Laptop getippt und ausdrucken lassen. In der Runde habe ich aber nichts verlesen, wie kolportiert wurde. Der Sprechzettel war ausschließlich für die spätere Information der Öffentlichkeit gedacht.

Frage: Frau Merkel soll gesagt haben, Ihre Erklärung klinge wie eine vorbereitete Presseerklärung.

Lindner: Nein, das stimmt nicht. Sie hat nachgefragt, ob wir von der FDP schon eine Presseerklärung an die Journalisten verteilt hätten. Sie als Journalisten wissen, dass das nicht der Fall war.

Frage: Der Ausstieg wurde umgehend von einer Social-Media-Kampagne der FDP begleitet. Warum haben Sie das Scheitern als Erfolg inszeniert?

Lindner: Auch dies ist nicht korrekt. Unsere Leute hatten für alle drei Szenarien – Erfolg, Vertagung und Scheitern - bereits am Donnerstag Motive für die sozialen Medien vorbereitet. Daran finde ich nichts verwerflich, wir sind schließlich eine professionelle Partei. Im Übrigen gehe ich davon aus, dass auch eine Redaktion wie SPIEGEL ONLINE sich auf mehrere Szenarien vorbereitet hatte.

Frage: Uns geht es eher um die Stilfrage.

Lindner: Mir auch.

Frage: War Merkels Verhandlungsführung „chaotisch“, wie Ihr Kollege Volker Wissing sagt?

Lindner: Auch ich habe öffentlich bezweifelt, ob die riesige Runde von fünfzig Personen und die vielen Arbeitsgruppen eine gute Idee waren.

Frage: Sie haben in der „FAZ“ gesagt, die FDP sei gedemütigt worden.

Lindner: Nein, ich habe gesagt, dass man manches Angebot als Versuch der Demütigung hätte verstanden werden können.

Frage: Warum so larmoyant?

Lindner: So empfinde ich uns nicht.

Frage: Machen Sie jetzt nicht durch ihre Absage die AfD stark?

Lindner: Im Gegenteil. Ich habe mehrfach in der großen Runde der Sondierungen genau vor der AfD gewarnt. Wenn Jamaika einfach die Politik der Großen Koalition mit ein paar grünen Akzenten und ein paar gelben Ministern fortgesetzt hätte, dann hätte es 2021 bei der Bundestagswahl drei gleich große Parteien gegeben – Union, SPD und AfD. Weil Menschen aus der Mitte der Gesellschaft dann Protest wählen und sich sagen: Ich habe SPD, ich habe FDP, ich habe Grüne gewählt, und am Ende kommt immer eine Koalition mit Frau Merkel raus. Oder anders gesagt: Die Gesichter um Frau Merkel wechseln, die Politik bleibt die gleiche. Das konnten wir nicht mitmachen.

Frage: Haben Sie mit Frau Merkel wegen der schwarz-gelben Koalition von 2009 bis 2013 noch eine Rechnung offen?

Lindner: Nein, für das damalige Scheitern waren wir selbst verantwortlich. Wenn wir als Partei der Selbstverantwortung andere verantwortlich machen würden, wären wir im falschen Film.

Frage: Wie geht es jetzt weiter?

Lindner: Immerhin könnte die SPD jetzt mal mit der Union Gespräche führen. Der Weg der SPD, in die Kontinuität der Großen Koalition wieder einzutreten, ist weniger weit als der Weg der FDP, der Kontinuität einer Politik von Frau Merkel zu folgen, die von den Grünen dann noch in eine andre Richtung entwickelt worden wäre.

Frage: Würde die FDP eine schwarz-grüne Minderheitsregierung tolerieren?

Lindner: Nach unserer Entscheidung verbietet es der gute Geschmack, sich an Spekulationen zu beteiligen. Die FDP wird eine konstruktive Politik im Bundestag machen.

Frage: Könnten Sie bestimmte Gesetzesvorhaben mittragen?

Lindner: Ja, wir entscheiden anhand der Sachfragen. Allerdings muss ich einschränken, dass eine Zusammenarbeit mit Parteien ausgeschlossen ist, deren Grundhaltung der unseren diametral gegenübersteht – also AfD und Linke.

Frage: Gehen Sie von Neuwahlen aus?

Lindner: Das ist völlig offen. Wir richten uns zunächst einmal auf unsere parlamentarische Arbeit ein.

 

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