05.12.2021FDPAsylpolitik

LINDNER-Rede auf dem Bundesparteitag der Freien Demokraten

Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner hielt auf dem außerordentlichen Bundesparteitag der Freien Demokraten am 05.12. 2021 in Berlin folgende Rede:

Vor etwas mehr als zwei Monaten sind wir hier für unseren Bundesparteitag vor der Bundestagswahl in Präsenz zusammengekommen. Wir hatten gehofft, dass wir keinen Parteitag mehr im Onlineformat würden durchführen müssen, und dennoch kommen wir heute wieder nur digital zusammen. Das zeigt: Das Virus ist schwer berechenbar. Die Pandemie ist nicht überwunden, sie verlangt uns allen viel ab. Gegenwärtig vor allem denjenigen, die in Krankenhäusern und auf Intensivstationen ihr Äußerstes geben, um Menschen zu helfen. Ihnen gebührt unser Dank und unsere besondere Anerkennung! Deshalb war es richtig, dass wir angekündigt haben, im kommenden Jahr eine Milliarde Euro für den Pflegebonus zur Verfügung zu stellen.

Jeder hatte wohl gehofft und mit der Verfügbarkeit der Impfstoffe auch erwartet, dass dieser Winter ein anderer sein würde als im vergangenen Jahr. Diese Hoffnung hat sich nicht bestätigt. Ein unzureichendes Tempo bei den Boosterimpfungen, eine stagnierende Impfquote, die überraschend hohe Zahl an Impfdurchbrüchen, eine neue Mutation und Anderes begründen Realitäten, mit denen wir umgehen müssen. Die Krisenstrategie muss zugleich vorausschauender und agiler werden, und vor allen Dingen müssen wir operative Umsetzungsmängel beseitigen. Es ist daher richtig, dass nun ein ständiger Krisenstab im Kanzleramt unter Führung eines Generals eingesetzt wurde. Die Infektionsgefahr ist dramatisch hoch. Die vierte Welle stellt eine neue, besondere Gefahr dar. Deshalb sind viele Menschen in tiefer Sorge um die eigene Gesundheit, die ihrer Familien und die unserer Gesellschaft insgesamt. In dieser Lage fordern viele besonders scharfe Maßnahmen bis hin zu Lockdowns und der Möglichkeit von Ausgangssperren. Aber viele Menschen fürchten sich angesichts dieser öffentlichen Debatten auch wieder vor Einsamkeit oder fürchten wieder um die eigene wirtschaftliche Existenz, die durch einen Lockdown bedroht würde. Als ich letzte Woche Samstag hier in Berlin vor einer Apotheke auf ein Testergebnis wartete, sprach mich, als ich in der Schlange stand, eine Frau an, die unweit dieser Apotheke seit Jahrzehnten ein Einzelhandelsgeschäft betreibt. Und ihr war die Sorge anzusehen, dass nach den vielen Jahrzehnten ihrer Geschäftstätigkeit und nach einem überstandenen Lockdown ein zweiter nun die traditionelle Existenz vernichten würde. In nahezu jeder Familie, jedem Freundes- und Kollegenkreis finden sich beide Blickwinkel und ich habe auch Verständnis für beide Blickwinkel. Deshalb müssen wir alles in unserer Macht stehende tun, um beiden ihre Ängste zu nehmen und zu versöhnen. Durch eine Corona-Krisenstrategie, die konsequenter Risiken bekämpft, die aber zugleich mehr gesellschaftliches Leben erhält. Wofür ich allerdings kein Verständnis aufbringe, um das auch klar zu sagen, das sind Fackellaufmärsche vor den Privatwohnungen staatlicher Verantwortungsträger. Kontroverse Debatten sind für unsere Demokratie überlebenswichtig. Einschüchterungsversuchen stellen wir uns aber entschieden entgegen.

Die Freien Demokraten haben seit Beginn der Pandemie stets unterstrichen: Der Gesundheitsschutz ist ein hohes Gut. Gleichwohl kann er nicht absolut gesetzt werden. Aber das gleiche gilt für die Freiheit. Keiner weiß so gut um den Wert der Freiheit wie wir Freie Demokraten. Doch ist sie kein Konzept der Grenzenlosigkeit. Die Freiheit verliert an Wert, wenn sie nicht gelebt werden kann, weil Leben und Gesundheit akut bedroht sind. Deswegen geht es in einer Pandemie nicht um Freiheit oder Gesundheitsschutz, sondern um die richtige Balance. Dieser Balance fühlen wir uns verpflichtet. Bedauerlicherweise haben die politischen Umstände nach der Bundestagswahl die Formulierung einer veränderten Antwort auf die Gesundheitskrise erschwert. Eine nur noch geschäftsführende Bundesregierung stand einer neuen Parlamentsmehrheit gegenüber. Die einen machen sich auf den Weg in die Opposition, die anderen auf den Weg in Verantwortung. Die einen wollen Neues etablieren, die Scheidenden ihre getroffenen Entscheidungen der Vergangenheit verteidigen. Die Künftigen sprechen über Versäumnisse, die gegenwärtigen über angebliche Fahrlässigkeit der Nachfolgenden. Am Ende sind jetzt die Ergebnisse angemessen. Das Bild aber, das die staatliche Verantwortungsgemeinschaft aus Bundesländern, Bundesregierung und Bundestag während der vergangenen Wochen insgesamt gezeigt hat, war nicht zufriedenstellend. Deshalb empfehle ich uns allen, auf eine Wiederholung zu verzichten.

Dankbar bin ich, dass wesentliche Anliegen der FDP in die modifizierte Krisenstrategie Eingang gefunden haben. Es gibt keine Kehrtwende der Freien Demokraten in der Pandemiepolitik. Der Winter 2021 unterscheidet sich in der staatlichen Reaktion auf die Gesundheitskrise vom Winter 2020.

Erstens: Gerade wurde das Wort “Wellenbrecher” zum Wort des Jahres gewählt. Das Wort erinnert an einen Lockdown, der weit über den November des vergangenen Jahres hinausging und der zunehmend schärfer wurde. In diesem Jahr sind pauschale und flächendeckende Schließungen nicht beabsichtigt.

Zweitens: Wir sind konsequenter im Alltag durch 3G am Arbeitsplatz und im öffentlichen Personennahverkehr. Es gibt nun tägliche Testpflichten in Pflegeeinrichtungen. Es gibt 2G-Regeln an vielen Stellen des öffentlichen Lebens. Die kostenfreien Bürgertests wurden wieder eingeführt, weil ihr Auslaufen verfrüht war.

Drittens: Die Entscheidungen über besonders scharfe Einschnitte in Grundrechte müssen in den Parlamenten von Bund und Ländern getroffen werden. Dafür haben wir das Gesetz geändert. Dabei haben wir entschieden, dass auf unangemessene Freiheitseinschränkungen wie Ausgangssperren verzichtet wird.

Viertens: Beim Impfen und Boostern wollen wir alle Reserven mobilisieren. Deshalb werden qualifizierte Apotheken und die Zahnmedizin einbezogen. Wir wollen uns aus der vierten Welle heraus Boostern und dazu muss auch die Logistik besser werden.

Fünftens: Es wird einen überparteilichen Expertenrat der Bundesregierung geben, um die politischen Entscheidungen auf der Basis einer konsolidierten Empfehlung der Wissenschaft treffen zu können. Damit wir mit dieser Krisenstrategie durch den Winter kommen und die vierte Welle brechen, damit wir nicht nötigenfalls - und dazu sind wir in der Lage - weitere Maßnahmen beschließen müssen, bauen wir jetzt auf das Verantwortungsgefühl und die Einsicht der Menschen. Und deshalb appelliere ich an Sie, meine Damen, meine Herren, schränken Sie Ihre Kontakte ein. Nehmen Sie Impfangebote an. Das ist der Weg in die Normalität. Er liegt in Ihren Händen.

Wir müssen über die Lage hinausblicken und einen langfristig tragbaren Umgang mit der Pandemie finden. In diesem Zusammenhang wird aktuell über eine mögliche Impfpflicht gesprochen. Diese Debatte ist empfindlich für unsere Gesellschaft, denn sie kann zu Spaltungen führen. Marco Buschmann hat deshalb den weisen Vorschlag unterbreitet, diese Frage nicht entlang von Fraktionslinien im Deutschen Bundestag zu entscheiden, denn es handelt sich um eine höchstpersönliche ethische Abwägung. Eine offene Debatte kann einen Beitrag zur Versöhnung darstellen, weil alle Argumente und Positionen in allen Fraktionen vertreten sind. Die einen verweisen auf das Selbstbestimmungsrecht der Menschen, auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit, darauf, dass noch nicht alle anderen milderen Maßnahmen ausgeschöpft sind; dass mit neuen Impfstoffen die Quote steigen könnte und darauf, dass es eine Zusage der Politik gab, auf eine Impfpflicht zu verzichten. Die anderen machen auf die enttäuschend niedrige Impfbereitschaft aufmerksam, die uns immer wieder Wellen von gesundheitlichen Gefahren und Freiheitseinschränkungen bringt. Sie verweisen auf die inzwischen gemachten Erfahrungen mit den zur Verfügung stehenden Impfstoffen. Es wird damit argumentiert, dass eine Minderheit von ihrer Freiheit in einer Weise Gebrauch macht, dass für die Gesellschaft insgesamt immer wieder Freiheiten eingeschränkt werden müssen. Mit dieser, mit der letzten argumentativen Figur, muss man behutsam umgehen, da sonst rasch nur noch Ansprüche der Gesellschaft an das Individuum formuliert werden, was es zu tun und zu lassen habe. Dennoch ist klar, dass Freiheit untrennbar mit Verantwortung für andere und Vernunft verbunden sein muss. Die in unserem Sinne aufgeklärte Bürgerin und der aufgeklärte Bürger ist eben nicht nur alleiniger Endverbraucher seiner Lebenschance, wie Peter Sloterdijk einmal gesagt hat. Der Gedanke von Pflichten gegenüber dem Gemeinwesen sollte uns daher nicht fremd sein. Was das in Bezug auf die Pandemie bedeutet? Das freilich muss sorgsam abgewogen werden. Beide Positionen verdienen Respekt und beide Positionen haben in der Freien Demokratischen Partei ihren Platz. Mich haben verschiedene Argumente und die geringe Bereitschaft allerdings nachdenklich gemacht. Und damit bin ich nicht allein: Nach den Zahlen des ARD-Deutschlandtrend vom vergangenen Freitag sind 71 Prozent der Befragten inzwischen für eine Impfpflicht für Erwachsene. Bei den Wählerinnen und Wählern der FDP sind es mit 77 Prozent gar noch mehr. Das prägt die Entscheidung unserer Abgeordneten, das prägt die Entscheidungen der FDP nicht vor. Schließlich gibt es auch Varianten und noch viele offene Fragen. Aber diese Trendumkehr bei unseren Unterstützerinnen und Unterstützern veranlasst uns, uns dieser Debatte offen zu stellen. Im Deutschen Bundestag und bei den Foren unserer Bundespartei stellen wir uns mit großem Respekt für unterschiedliche Abwägungen einer Debatte, weil wir Verantwortung für dieses Land tragen!

Ich komme noch einmal zurück, liebe Parteifreundinnen, liebe Parteifreunde, auf dem Bundesparteitag, den wir hier in Berlin vor der Bundestagswahl hatten, haben wir uns getroffen, um den Wählerinnen und Wählern zu sagen, worum es uns bei der Bundestagswahl geht, für welche politischen Inhalte wir stehen. Wir haben für eine Erneuerung unseres Landes geworben, dafür, den Status quo in Deutschland zu überwinden. Wir haben das Ziel ausgegeben, das soziale Aufstiegsversprechen in unserem Land zu erneuern: durch ein besseres Bildungssystem und dadurch, dass unser Sozialstaat so verändert wird, dass er Menschen immer wieder neue Chancen auf Einstieg, Aufstieg und Wiedereinstieg gibt. Wir haben dafür geworben, dass wir mehr Freude am Erfinden haben als am Verbieten. Wir haben geworben dafür, dass wir auf Zukunftsfragen Antworten mit Spitzentechnologie und Innovation geben sollten, statt mit dem Verbot von Technologien. Wir haben uns zu zwei klaren Leitplanken der zukünftigen Politik bekannt, nämlich auf der einen Seite die Schuldenbremse des Grundgesetzes und auf der anderen Seite den Verzicht auf Steuererhöhungen in einem Höchststeuerland, das Deutschland bereits ist. Wir haben für Trendwenden in unserem Land geworben.

Was wir nicht getan haben, ist, eine Koalitionsaussage zugunsten einer Partei zu geben. Ausdrücklich sind wir in die Bundestagswahl gegangen als eine eigenständige politische Kraft, die gewählt werden will für ihre Projekte, für ihre liberale Grundhaltung und für ihre Persönlichkeit. Wir sind dafür im Wahlkampf auch angegriffen worden. CDU und CSU haben - und das ist legitim und wir haben das im sportiven Wettbewerb auch angenommen - gegen die FDP Wahlkampf gemacht, weil ja die Gefahr bestünde, dass die FDP einmal nicht mit CDU und CSU koaliert. Es ist gegen uns Wahlkampf gemacht worden, weil wir als eine eigenständige Kraft in die Bundestagswahl gegangen sind. Am Ende haben wir zum Ersten Mal in unserer Geschichte zweimal nacheinander ein zweistelliges Ergebnis erzielt, 11,5 Prozent am Wahltag. Das war eines der besten Wahlergebnisse in der Geschichte der Freien Demokraten. Mit Fug und Recht können wir aber hinzufügen: Es ist ein gutes Votum für die Liberalen und wir haben es aus eigener Kraft erkämpft, weshalb wir nach der Wahl auch alle Freiheit haben mit diesem Votum Gutes für die Wählerinnen und Wähler und unser Land zu bewirken.

Ich erinnere mich gut an diesen Wahlkampf, an die vielen Veranstaltungen, insbesondere unter freiem Himmel in den Innenstädten und auf den Marktplätzen - wie viele Menschen kamen da? Wie viele, insbesondere junge Menschen haben sich für die Argumente der Freien Demokraten interessiert? Man konnte im Wahlkampf merken und spüren, was diesen jungen Menschen wichtig ist. Denen ging es um unsere politische Agenda des Aufbruchs. Die wollten nicht mehr länger im Status quo leben, warten auf Digitalisierung. Sie wollen gesellschaftliche Liberalität und wollen faire Aufstiegschancen für fleißige und talentierte Menschen. Sie machen sich Sorgen um die Zukunft. Angesichts der Gefahren des Klimawandels, aber auch der fiskalischen Überforderung eines Staates und seiner Sozialsysteme, die nicht vorbereitet sind auf die Tatsache einer alternden Gesellschaft. Diese jungen Menschen kamen nicht nur am Wahltag zu uns, sie kamen auch als Mitglieder in unsere Partei. Und wenn wir eines der besten Ergebnisse bei den Jung- und Erstwählern hatten, bei den Erstwählern sogar das beste Ergebnis von allen Parteien, dann ist das ein Auftrag für uns. Gerade die Erstwählerinnen und Erstwähler haben uns beauftragt, einen Aufbruch für unser Land zu organisieren. Und diesen jungen Menschen fühlen wir uns in besonderer Weise verpflichtet.

Nach der Bundestagswahl mussten wir mit Realitäten umgehen. Legt man die Wahlprogramme nebeneinander, so konnten wir sehen, dass CDU und CSU uns trotz aller Unterschiede in der Sache nah standen. Mit Armin Laschet haben wir ja in Nordrhein-Westfalen auch eine erfolgreich arbeitende Koalition verhandelt. Deshalb war klar, dass inhaltlich eine Jamaika-Koalition wahrscheinlich sein würde. Wir haben uns im Wahlkampf auch offen für eine Zusammenarbeit im Jamaika-Format gezeigt. Manchmal während des Wahlkampfs hatte ich den Eindruck, die besten Wahlhelfer für Armin Laschet finden sich in der FDP. Zumindestens haben wir seinen Wahlkampf weniger gestört als Markus Söder. Aber nach der Wahl war mit Realitäten umzugehen. Es gab nunmal kein Votum für CDU und CSU. Wir haben Gespräche geführt mit CDU und CSU einerseits und andererseits mit Sozialdemokraten und Grünen. In diesen Gesprächen haben wir erkannt, dass die Unionsparteien ihre innere Mitte verloren haben. Während die Gespräche mit unseren Mitbewerbern von SPD und Grünen in einem vertraulich diskreten Rahmen geführt worden sind, waren die Inhalte der Gespräche mit der Union sofort auf dem Markt der Meinungen, mit Verdrehungen und Einschätzungen. Deshalb haben wir das Angebot von SPD und Bündnis 90/Die Grünen angenommen, zuerst mit der Sozialdemokratie und den Grünen zu sprechen. Wir haben uns entschieden, zuerst dort zu prüfen, ob es Gemeinsames gibt. Und tatsächlich waren die Gespräche, die wir danach geführt haben, von einer besonderen Vertraulichkeit geprägt. Ich weiß, viele professionelle Beobachterinnen und Beobachter im Journalismus hat das gestört. Es gab aus den internen Runden wenig zu berichten. Ich weiß aber auch, dass dieselben, die sich professionell daran gestört haben, dass es nichts zu berichten gab als Staatsbürger Respekt davor hatten, dass Parteien in einem vertraulichen Rahmen zunächst prüfen, was gemeinsam geht und was nicht geht. Für mich war das ein Stück Versprechen einer veränderten politischen Kultur. Natürlich, im Alltag der Politik und einer Regierung ist es unmöglich und gewiss auch nicht wünschenswert, in einer solchen Atmosphäre über längere Zeit zu sprechen. Demokratische Legitimation lebt von Debatte und von Öffentlichkeit, aber gerade zu Beginn einer möglichen Regierungsbildung kommt der Verlässlichkeit des Verfahrens eine besondere Bedeutung zu.

Wir entscheiden heute über einen Koalitionsvertrag, obwohl jede und jeder von uns weiß, dass im Regierungshandeln der nächsten vier Jahre die großen Herausforderungen gar nicht vorhersehbar sind. Dann kommt es auf die persönliche Vertrauensbasis an. Diese Vertrauensbasis, die während der Sondierung und auch der Koalitionsverhandlungen mit SPD und Grünen gebildet worden ist, hat sich als belastbar erwiesen. Alleine schon der Stil der Gespräche hat vielen Menschen in unserem Land Mut gemacht, dass Veränderung möglich ist. Vielleicht ist es so, wie nach einer überlangen Sitzung, wo man miteinander gerungen hat, und nach dieser überlangen Sitzung öffnet man das Fenster und erst mit der frischen Luft stellt man fest, wie schlecht und verbraucht die Luft während der Sitzung doch gewesen ist. Das ist mein Gefühl. Welche Chance wir haben, die politische Kultur in unserem Land insgesamt zu verändern! Mit hinreichend viel frischer Luft. Wir haben während der Gespräche gesehen was uns trennt. Es war keine Überraschung. Denn auch im Wahlkampf haben wir kein Geheimnis daraus gemacht, dass es Unterschiede gibt zwischen den Freien Demokraten einerseits und Sozialdemokraten und Grünen andererseits. Aber wir haben während der Gespräche auch Gemeinsamkeiten festgestellt, haben voneinander gelernt. Und aus der staatspolitischen Verantwortung heraus, eine Regierung zu bilden, da die Union gegenwärtig gar nicht verhandlungsfähig ist, haben wir uns auf den Weg gemacht, etwas Neues zu begründen.

Jetzt liegt ein Koalitionsvertrag vor, bei dem ich davon überzeugt bin, dass er nicht dadurch geprägt ist, dass wir uns gegenseitig begrenzt haben. Sondern dieser Koalitionsvertrag ist dadurch geprägt, dass wir uns gegenseitig erweitert und ergänzt haben. Er beschreibt eine neue Politik in unserem Land, eine Politik des Aufbruchs, die, wie wir gesagt haben, mehr Fortschritt wagen will. Die Reaktionen auf diesen Koalitionsvertrag aus der Gesellschaft waren bislang erfreulich. Natürlich gibt es hier und da Kritik, hier und da Wünsche nach mehr, Wünsche nach weniger. Aber insgesamt waren die Reaktionen auf diesen Koalitionsvertrag erfreulich. Das ermuntert uns. Wir haben vor der Bundestagswahl gesagt, wir treten nur in einer Regierung der Mitte ein. Die Freien Demokraten stehen nicht für einen Linksruck in Deutschland zur Verfügung, weil wir bereits sehr viel linke Politik in unserem Land haben. Wenn ich nun die Reaktionen auf unseren Koalitionsvertrag sehe, so höre ich einerseits von der Linkspartei, es sei neoliberales Teufelszeug. Und von rechts, von Ralph Brinkhaus, dem CDU-Fraktionsvorsitzenden, hörte man, es sei die stramm linkste Agenda seit Jahrzehnten. Liebe Freundinnen und Freunde, wenn es von links heißt, es sei ein neoliberales Papier und von rechts heißt es, es sei eine stramme Linksagenda, dann muss es sich ganz offensichtlich um einen Koalitionsvertrag der Mitte handeln. Und genau das ist er. Es ist ein Koalitionsvertrag für eine Politik der Mitte, die unser Land nach vorne führen will. Das lässt sich ablesen an den Projekten, die wir verabredet haben. Ich bin sehr dankbar, dass dieser Koalitionsvertrag in dieser Form möglich geworden ist. Und ich will, bevor ich auf die Projekte im Einzelnen eingehe, ausdrücklich all denjenigen danken, die daran mitgewirkt haben. Zum einen Sozialdemokratie und den Grünen. Wir haben es uns wahrlich nicht immer leicht gemacht, aber die Gespräche waren von Respekt und dem Bemühen um Verständnis geprägt. Ich hebe hervor, dass insbesondere der designierte Bundeskanzler mit großem Geschick vermocht hat, zuvor Trennendes in sinnvoller Weise zu verbinden. Er hat sich uns damit als eine Führungspersönlichkeit vorgestellt. Aber auch bei uns haben viele mitgewirkt. Ich nenne zu allererst meine Kolleginnen und Kollegen aus der Hauptverhandlung: Nämlich Bettina Stark-Watzinger, Marco Buschmann und unseren Generalsekretär Volker Wissing. Es waren anstrengende und intensive Wochen. Ich bin euch für eure Leistung und euren Einsatz außerordentlich dankbar. Ohne euch wäre das nicht gelungen. Aber auch die vielen, vielen anderen, die mitgewirkt haben, will ich bedenken: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter Leitung von Michael Zimmermann und Steffen Saebisch, dem Koordinator der Gespräche. Die Leiterinnen und Leiter unserer Arbeitsgruppen und die vielen Abgeordneten und Ehrenamtlichen, die sich in den Arbeitsgruppen, in Parteigremien und in Fachausschüssen engagiert haben. Dieser Koalitionsvertrag, der heute hier gebilligt werden kann, ist nicht ein Koalitionsvertrag von einigen wenigen in der FDP. Er ist geprägt von den vielen mit ihrem Wissen und ihren Einschätzungen. Dafür mein ganz herzlicher Dank!

Ich will fünf Projekte hervorheben, die mir besonders wichtig sind. Ich hebe diese fünf Projekte hervor, weil sie auch etwas über die Identität der FDP in einer künftigen Regierung sagen - über das, was uns wichtig ist. Ich habe mir in dem Zusammenhang auch nochmals angesehen, wie wir uns auf den Weg der Erneuerung gemacht haben, nach unserer historischen Niederlage von 2013. Da kamen wir fast genau auf den Tag vor acht Jahren hier zusammen und haben beschrieben, in welche Richtung wir die Freie Demokratische Partei erneuern und zu neuen Erfolgen führen wollen. Dabei ging es darum, den Liberalismus zu verstehen, nicht nur als ein Konzept wirtschaftlicher, sondern auch gesellschaftlicher Freiheit. Wir haben beschrieben, dass wir den einzelnen Menschen, die Einzelne und den Einzelnen, ins Zentrum unserer Politik stellen wollen, dass wir den Menschen Souveränität geben wollen, dass wir uns darum bemühen wollen, dass jede und jeder unabhängig von seiner Herkunft das aus seinem Leben machen kann, was sie oder er sich wünscht. Deshalb ist es kein Wunder, dass in diesem Koalitionsvertrag die Frage der Selbstbestimmung eine besondere Bedeutung hat. Wir wollen die Menschen stärken - durch Initiativen für ein besseres Bildungssystem, für ein Lebenschancen-Bafög, über eine Exzellenzinitiative für die berufliche Bildung bis hin zu einem Bürgergeld, für das wir ja seit Jahrzehnten werben. Das die Menschen befähigen soll, in die gesellschaftliche Teilhabe und den Arbeitsmarkt zurückzukehren, ihnen zugleich aber die Würde auch in der Bedürftigkeit garantieren soll. Das ist die Erneuerung des Aufstiegsversprechens der sozialen Marktwirtschaft: Auf der einen Seite durch beste Bildung dafür zu sorgen, dass nicht mehr die Herkunft aus der Familie den Lebensweg bestimmt, sondern Talent, Fleiß, Risikofreude, also die Entscheidungen, die jede und jeder Einzelne trifft. Und auf der anderen Seite den Sozialstaat so zu erweitern und zu modernisieren, dass kein Schicksalsschlag in eine Sackgasse führt, aus der man sich mit eigener Kraft nicht mehr befreien kann. Deshalb ist das erste Projekt dieses Koalitionsvertrages die Erneuerung des liberalen Bildungs- und Aufstiegsverspreches in dieser Gesellschaft. Zu lange haben wir darauf gewartet. Zum Zweiten: Was für großartige Chancen hat der Standort Deutschland? Welch großartige Chancen hat diese Technologienation? Welch große Herausforderungen haben wir aber auch angesichts der Veränderungen auf der Weltbühne, angesichts disruptiver Veränderungen bei den Technologien und auch angesichts der Erfordernis, auf den Klimawandel zu reagieren. Wir haben so viel privates Know-how, übrigens auch so viel privates Kapital und private Initiative in Deutschland. Viele in Wirtschaft und Gesellschaft wollen diesen Wandel doch längst gestalten. Aber zu lange wurden sie daran gehindert, ihre Ideen in die Tat umzusetzen. Unser Wort dafür im Wahlkampf war die Entfesselung von Kreativität, Erfindungsreichtum, von privatem Kapital, privater Initiative und Unternehmergeist. Schaut man in diesem Koalitionsvertrag, so findet sich sehr viel davon wieder: von den regionalen Experimentierräumen angefangen über die überfällige Beschleunigung von Planungs-, Genehmigungs- und Verwaltungsverfahren, Superabschreibungen im Sinne einer Investitionsprämie für Anlageinvestitionen, die dem Klimaschutz und der Digitalisierung dienen. All das dient dem Zweck, dass Deutschland aus seinen Potenzialen in den 2020er Jahren wieder mehr machen kann. Wir beschreiben eine Evolution unseres Wirtschaftsmodells, der sozialen Marktwirtschaft, hin zu einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft. So wie die soziale Marktwirtschaft seinerzeit den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit eingehegt hat, so ist unsere Absicht, jetzt den vielleicht drohenden Konflikt zwischen ökonomischen und ökologischen Erwägungen aufzulösen. In einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft, davon bin ich überzeugt, liegen für unseren Standort Deutschland und die Menschen enorme Chancen. Und mehr als das: Wenn die Freien Demokraten einen Beitrag dazu leisten können, dass das Wirtschaftsmodell Deutschlands Wohlstand und Wachstum von der Belastung anderer ablösen kann, sei es zukünftiger Generationen, sei es anderer Weltregionen oder sei es Klima und Umwelt, dann begründet das nicht nur einen wirtschaftlichen, sondern auch einen zivilisatorischen Fortschritt. Zum Dritten: Wir wollen einen gesellschaftspolitischen Aufbruch. Wir wollen Sorge dafür tragen, dass diese Gesellschaft, die längst viel vielfältiger und liberaler ist, endlich auch die rechtlichen Rahmenbedingungen erhält, die auf der Höhe der Zeit sind. Sprechen wir es offen aus: Das war lange mit den Unionsparteien nicht möglich. Auch darin liegt eine Frage der Selbstbestimmung. Auch darin liegt eine Frage der Anerkennung legitimer Pluralität unserer Gesellschaft. Vieles ist nun verabredet im Familienrecht, beim Schutz der bürgerlichen Freiheitsrechte, im Rechtsstaat und zugleich der Steigerung der Effektivität unserer Sicherheitsarchitektur. Aber ein Bereich liegt mir in besonderer Weise am Herzen. Viel zu lange hat unser Land sich der Tatsache verweigert, dass wir eine Einwanderungsgesellschaft sind. Wir haben uns lange der Lebenslüge hingegeben, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Viele damit verbundene Fragen sind noch nicht abschließend und hinreichend beantwortet. Aber es ist nun Zeit. Denn diese Gesellschaft hat ein Interesse an der geordneten Einwanderung fleißiger Hände und kluger Köpfe, die wir als alternde Gesellschaft brauchen, um unseren Wohlstand und die soziale Sicherheit zu verteidigen. Die deutsche Wirtschaft, Mittelstand wie Industrie, aber auch Bereiche wie die Pflege suchen händeringend nach Menschen, die bei uns tätig werden wollen. Wir haben humanitäre Verpflichtungen. Als ein starkes Land haben wir humanitäre Verpflichtungen gegenüber Bedürftigen, die Schutz bei uns suchen, dauerhaft oder zeitweise. Aber wir müssen auch die Kontrolle wiederherstellen und irreguläre Migration begrenzen. Dazu haben wir viel aufgeschrieben in diesem Koalitionsvertrag. Es war wiederum die CDU/CSU, die davon sprach, es gebe nun eine brutale Öffnung. Es wurden Bilder gezeigt von irregulärer Migration nach Deutschland, die angeblich mit dieser Migrationspolitik, dieser Einwanderungspolitik der anderen Parteien verbunden gewesen sei. Gerade das Gegenteil ist richtig: Ausgerechnet CDU und CSU sollten den Freien Demokraten in der Frage der Einwanderungspolitik keine Vorhaltungen machen. Denn die Union hat sowohl eine Offenheit für qualifizierte Einwanderung blockiert als auch in den vergangenen Jahren seit 2015 nicht hinreichend dafür gesorgt, dass die Kontrolle des Zugangs nach Deutschland geregelt und auch die Rückführung illegaler Migration gelingt. Genau das soll sich nun ändern. Unser Land wird offen für qualifizierte Einwanderung und bekennt sich zu seiner humanitären Verantwortung einerseits. Aber mit einem Sonderbeauftragten, der Migrations-Abkommen mit Herkunftsländern schließen soll, werden wir auch dafür sorgen, dass nicht-legale Migration nach Deutschland tatsächlich gebremst wird. Wir bemühen uns um Verständigung in Europa. Wir lösen das, was in den vergangenen Jahren liegengeblieben ist. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ihre Spitze, sprach von der brutalen Offenheit dieses Landes auch für irreguläre Migration. Wie wohltuend, dass der CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen am heutigen Tag andere Töne anschlägt. Denn Joachim Stamp, unser Flüchtlings- und Integrationsminister in Nordrhein-Westfalen, hat dort im größten Bundesland eine Einwanderungspolitik geprägt, die gewissermaßen modellhaft für das steht, was wir jetzt im Bund erreichen wollen. Wohlgemerkt in Nordrhein-Westfalen mit der CDU. Was jetzt im Bund mit Sozialdemokratie und Grünen umgesetzt werden soll, ist nämlich eine Politik, die unsere arbeitsmarktpolitischen Interessen mit dem Bestehen auf öffentlicher Ordnung verbindet. Joachim Stamp hat dieses Kapitel für uns federführend mitverhandelt, auch als unser designierter Spitzenkandidat und Spitzenkandidat für die Landtagswahl im nächsten Jahr. Und deshalb hoffe ich, dass CDU und CSU in dieser wichtigen Frage auch wieder zu einer sachbezogenen Debatte zurückkehren. Denn es ist unser gemeinsames Interesse, dass wir Einwanderung nach Deutschland zu einem Erfolgskapitel machen und nicht zu einem weiteren Baustein der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung. Ich nenne einen vierten Punkt: Die Frage der Digitalisierung von Staat und Gesellschaft. An zu vielen Stellen in unserem Land ist es so, wie wir vor der Bundestagswahl gescherzt haben, dass man zum Online-Shopping mit dem Auto fahren muss, weil wir nicht die Infrastruktur haben, die zur viertgrößten Wirtschaftsnation der Welt passt. Zu viele Verwaltungsverfahren finden noch auf Papier statt. Zu wenig Dynamik haben wir bei der Gründung von neuen Unternehmen im Bereich der Digitalwirtschaft. Und deshalb wollen wir uns der Frage stellen: Wie kann Digitalisierung tatsächlich zu einem Schwerpunktthema der nächsten Bundesregierung werden? Wir wollen einen Digital-Check für die Gesetze, damit bereits bevor ein Gesetz das Gesetzblatt erreicht, darüber nachgedacht wird, wie es möglichst bürokratiearm und digital umgesetzt wird. Wir machen uns dafür stark, die öffentliche Verwaltung zu digitalisieren, damit möglichst viele Verwaltungs- und Behördengänge online stattfinden können. Um damit den Menschen die Lebenszeit einzusparen, die sie auf den Fluren von Behörden verbringen müssen. Diese kann man sinnvoller investieren in Lebensfreude, Familie, beruflichen Erfolg - all das, was uns persönlich wichtig ist. Und wir wollen die Infrastruktur sowohl im Mobilfunkbereich als auch in der Gigabit-Glasfaser-Infrastruktur verbessern. Wir haben uns große und ehrgeizige Ziele vorgenommen. Wir haben die Voraussetzungen dafür geschaffen, indem endlich die Zuständigkeiten für die Digitalisierung stärker gebündelt werden. Ein ganz starker Schwerpunkt wird bei der FDP in einem neuen Ministerium für Digitales liegen. Wir übernehmen Verantwortung dafür, dass Digitalisierung in Deutschland zukünftig nicht mehr ein Risiko ist, sondern eine Chance für die Weiterentwicklung unseres Gemeinwesens.

Und zuletzt, liebe Freundinnen und Freunde, stehen wir für solide Finanzen in Deutschland und Europa. Wir haben einst die Schuldenbremse des Grundgesetzes vorausgedacht. Sie war Teil eines früheren Grundsatzprogramms der Freien Demokraten. Es gab eine Debatte über die Aufweichung der Schuldenbremse. Diese Debatte gab es von links. Es gab aber auch Debattenbeiträge aus den Unionsparteien, die die Schuldenbremse aufweichen wollten. Ich denke an Armin Laschet, der mit dem Gedanken gespielt hat, man könnte außerhalb des Bundeshaushalts einen großen Investitionsfonds bilden. Es gab die Vorschläge von Helge Braun und auch Markus Söder, das Grundgesetz zu verändern. Für uns ist klar: Die Schuldenbremse hat sich bewährt, auch in ihrer Flexibilität in Notsituationen wie der Pandemie. Deshalb muss die Schuldenbremse des Grundgesetzes erhalten bleiben. Und sie bleibt erhalten, weil Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit nicht nur Begriffe aus dem Umwelt- und Klimaschutz sind. Es gibt auch eine Notwendigkeit der Nachhaltigkeit bei den öffentlichen Finanzen. Innerhalb der Grenzen der Schuldenbremse, die wir im Jahr 2023 wieder einhalten wollen, bemühen wir uns um Entlastung der breiten Mitte der Gesellschaft. Aus bekannten Gründen, die ich hier nicht im Einzelnen wiederholen muss, gab es zwischen Sozialdemokraten und Grünen einerseits und der FDP andererseits kein Verständnis dafür, im Steuerrecht dafür zu sorgen, dass die breite Mitte der Gesellschaft entlastet wird. Das mag man bedauern. Aber Realitäten muss man akzeptieren. Aber innerhalb der Möglichkeiten, die es gibt, ist es gelungen, den Menschen breite Entlastungen zu organisieren. Wir werden die Besteuerung der Rentenversicherungsbeiträge verändern und wir werden die EEG-Umlage auf den Strompreis ab dem Jahr 2023 abschaffen. Eine Milliardenentlastung von der Rentnerin über den Bafög-Empfänger, die Familie bis hin zur mittelständischen Wirtschaft. Ja, es gibt im Steuerrecht keine Reform, die die kleinen und mittleren Einkommen entlastet, weil es dafür keine Mehrheit gibt. Aber dennoch kann die breite Mitte der Gesellschaft in den nächsten Jahren über ein höheres Einkommen verfügen. Die Menschen können in diesem Punkt darauf zählen, dass die Grenzen ihrer finanziellen Belastungsfähigkeit auch angesichts von Inflationsrisiken nicht getestet werden. Wir werden im Bereich der öffentlichen Finanzen dafür Sorge tragen, dass wir mehr Mittel für die zahlreichen Investitionsvorhaben in unserer Gesellschaft mobilisieren. Dabei liegt unser Hauptaugenmerk nicht nur auf den öffentlichen Investitionen, sondern vor allen Dingen wollen wir erreichen, dass mehr privates Kapital in unserer Gesellschaft aktiviert wird. Denn es geht nicht nur darum, den öffentlichen Haushalt auszudehnen, sondern die Bedingungen dafür zu schaffen, dass das vorhandene private Kapital in Deutschland eingesetzt werden kann. Zur Finanzierung der Zukunftsvorhaben muss einerseits die Wettbewerbsfähigkeit stimmen. Dafür brauchen wir andererseits aber auch kluge Instrumente, etwa unserer öffentlichen Förderbanken, um private Risiken zu reduzieren, ohne sie gleich zu verstaatlichen. Ordnungspolitisch spricht nichts dagegen, dass der Staat unterstützt. Was wir aber nicht wollen, sind breite Subventionsregime, die am Ende nur zu Mitnahmeeffekten einladen. Die Transformation der Gesellschaft und der Wirtschaft, für die sich dieser Staat einsetzt, muss mit marktwirtschaftlichen Mitteln erfolgen. Wir wollen dafür sorgen, dass aus der Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft am Ende nicht ein anderes Ordnungsmodell, nämlich das Ordnungsmodell einer staatszentrierten Wirtschaft wird. Wir wollen, dass es weiterhin eine Marktwirtschaft bleibt und dafür werden wir Verantwortung in dieser Koalition übernehmen.

In diesem Koalitionsvertrag sind viele Projekte und Anliegen der Freien Demokraten enthalten. Ich gehe soweit zu sagen: Bei einer möglichen Jamaika-Konstellation im Jahre 2021 hätte es nicht mehr liberale Politik gegeben, als jetzt in dieser Ampel-Konstellation möglich ist. Erst recht gibt es jetzt mehr liberale Politikinhalte als bei Jamaika vor vier Jahren möglich gewesen ist. Wir haben vor vier Jahren den Mut gehabt, Nein zu sagen zu einer Regierungsbeteiligung, weil wenig liberale Politik sichtbar war. Und genauso sollten wir jetzt, vier Jahre später, den Mut haben, Ja zu sagen zu einer Koalition, in der - so ungewöhnlich sie für die Bundesebene sein mag - viel liberale Politik enthalten ist. Wir haben vor vier Jahren Kritik erfahren für unser Nein und ich sage voraus: Vielleicht nicht am heutigen Tage, aber in einigen Wochen, Monaten, werden wir Kritik dafür erfahren, dass wir in einer Ampelkoalition regieren. Für mich hat sich eines gezeigt - sowohl bei der Kritik 2017 als auch bei den wenigen Stimmen, die es jetzt gibt und die auch zukünftig kommen könnten. Oft genug geht es da gar nicht um konkrete politische Inhalte. 2017 war doch sehr oft die Kritik an der FDP und unserem Nein zu Jamaika damit begründet, dass wir uns erlaubt haben, einmal nicht mit der CDU/CSU regieren zu wollen, sondern unsere Eigenständigkeit und unsere Orientierung an der Sache hervorgehoben haben. Und deshalb sehe ich heute eine mögliche Kritik an der Ampel mit ähnlicher Distanz. Denn diejenigen, die uns kritisieren, tun es oft nur, weil wir nicht mit CDU und CSU regieren. Aber wir sind nicht Teil eines Lagers. Wenn manche nun schreiben, die Ampelkoalition auf der Bundesebene, das sei ein Lagerwechsel der FDP - Ihnen will ich sagen: Wir haben uns nie als Teil eines Lagers verstanden. Genauso wenig wie wir uns zuvor als Teil des Lagers der CDU/CSU verstanden haben, verstehen wir uns heute als Teil des Lagers von SPD und Grünen. Die FDP ist und bleibt eine eigenständige liberale Partei mit eigenen Vorstellungen, eigenen Projekten, eigenen Persönlichkeiten. Egal mit wem wir koalieren. Wir bleiben trotzdem eine eigenständige Partei, die nach jeder Wahl immer neu entscheidet, ob in einer Regierung Gutes bewirkt werden kann oder nicht. Und daran halten wir fest. Heute können wir sagen: Es ist besser, diese Koalition zu wagen, als auf Gestaltungschancen zu verzichten. Wir machen uns keine Illusionen darüber, wie groß die Verantwortung ist. Wir machen uns auch keine Illusionen darüber, welche Dimension die Aufgaben haben. Da fühle ich Demut. Und ich bitte auch um Geduld und um Toleranz, wenn vielleicht nicht alle Vorhaben sofort umgesetzt werden, wenn nicht alles, was wünschbar ist, sofort realisierbar ist. Wenn es auch im laufenden Regierungshandeln notwendige Kompromisse gibt. Man kann nicht in eine Koalition eintreten, im Glauben, das gesamte eigene Wahlprogramm könnte eins zu eins umgesetzt warden. Das gelingt nur mit absoluter Mehrheit. Und selbst dann zeigen die Realitäten, die politischen, rechtlichen und finanziellen Realitäten, Grenzen auf. Deshalb wissen wir, dass nicht alles sofort in vollem Umfang und in genau der Weise kommen kann, wie wir Freie Demokraten es uns wünschen. Und dennoch ist es besser, jetzt in die Gestaltungsräume zu gehen. Wir haben Demut gelernt, weil wir Erfahrungen gemacht haben in den vergangenen Jahren. Und deshalb wollen wir nicht zu viel versprechen, sondern lieber überraschen mit dem, was doch möglich geworden ist. Wir werden diese Koalition, dessen bin ich mir sicher, prägen. Auch das Regierungshandeln in Deutschland werden wir prägen. Aber lassen wir doch auch zu, dass das Regierungshandeln uns prägt. In den vergangenen Jahren der außerparlamentarischen und der parlamentarischen Opposition war aufgrund der Aufmerksamkeitsökonomie der Mediendemokratie erforderlich, bisweilen auch zu scharfkantiger Rhetorik zu greifen. Einen Mangel an Aufmerksamkeit werden wir in der Regierungsrolle nicht beklagen müssen. Das erlaubt uns, die scharfkantige Rhetorik anderen zu überlassen, und dafür einvernehmlicher und verbindlicher, einladender zu formulieren. Die Regierungspolitik werden wir prägen, aber lassen wir doch auch zu, dass die Regierungsarbeit uns prägt. Indem wir uns für neue Themen und neue Ideen öffnen, indem wir von anderen lernen. Beispielsweise haben die Grünen für eine Solardach-Pflicht auf jedem neuen Gebäude geworben. Das haben wir immer kritisch gesehen. Wir haben es kritisch gesehen, weil wir befürchtet haben, dass dadurch Bauen teurer wird und dass damit soziale Belange möglicherweise in den Hintergrund geraten könnten, weil das Erstellen von neuen Gebäuden unbezahlbar wird. Aber wenn Sozialdemokraten und grüne Parteien, die soziale Sensibilität haben, dafür werben, dann muss doch auch die FDP ihre Auffassung prüfen und dafür Sorge tragen, dass es für alle leistbar ist. Und somit haben wir, um jetzt nur dieses eine Beispiel zu nennen, für unsere eigene Politik von anderen gelernt. Und nun können wir uns darüber freuen, dass ein gewaltiges Konjunkturprogramm für Handwerk und Mittelstand bei einer sauberen Spitzentechnologie entsteht. Wir werden das Regierungshandeln prägen, aber lassen wir auch zu, dass das Regierungshandeln uns prägt. Die außerparlamentarische und die parlamentarische Oppositionsrolle haben erforderlich gemacht und auch dazu geführt, dass wir in personeller Hinsicht nur wenige Persönlichkeiten in der Öffentlichkeit hatten, dass die öffentliche Repräsentanz der Freien Demokraten anfangs auf sehr wenigen, dann auf etwas mehr Schultern verteilt war. Jetzt haben wir die Chance, noch mehr unserer Vielfalt an Persönlichkeiten im Regierungshandeln zu zeigen. Davon können wir als politische Kraft nur profitieren. Deshalb sehe ich auch für unsere Entwicklung, für die Entwicklung der Freien Demokraten, eine Chance in diesem neuen Kapitel der Geschichte der Bundesrepublik. Die FDP als Partei muss freilich erkennbar bleiben. Wir können nicht aufgehen im Regierungshandeln. Wir sind jenseits der Regierungsbeteiligung im Bund eben, wie ich sagte, eine eigenständige politische Partei, die das Denken, auch das eigenständige Denken jenseits von Koalitionsrücksichtnahme nicht verlernen wird. Dazu werden wir uns in der Partei neu aufstellen. Und werden auch die Foren der internen Meinungsbildung weiter vitalisieren - hoffentlich nach der Pandemie dann auch wieder in Präsenz. Wir werden unsere eigene Programmatik schärfen und weiterentwickeln. Wir werden auch als ein unabhängiger Teil der zukünftigen Koalition sichtbar sein. Die Bundesministerin und die drei Bundesminister der FDP werden nicht diejenigen sein, die ganz vorne das Profil der FDP schärfen können. Wir treten in die Regierung als Bundesministerinnen und Bundesminister ein, nicht der FDP. Ich werde auch nicht Bundesminister der Ampel, sondern Bundesminister der Bundesrepublik Deutschland. Es wird kein Geheimnis sein und wir werden es erkennbar machen, dass wir Liberale sind. Aber trotzdem reicht die Verantwortung über das hinaus, was die Wählerinnen und Wähler unserer Partei oder der Ampel-Koalition hinaus wollen. Wir werden auch nicht aus dem Blick verlieren dürfen, welche Anliegen etwa die Wählerinnen und Wähler von CDU und CSU hatten. Für die wollen wir Ansprechpartner innerhalb der Regierung sein. Die Profilierung der liberalen Stimme in der Koalition, das wird eine Aufgabe insbesondere unserer FDP-Bundestagsfraktion sein. Ich habe als Nachfolger im Fraktionsvorsitz Christian Dürr vorgeschlagen, einen hochqualifizierten und in dieser Rolle in Niedersachsen erfahrenen Kollegen. Ich bin froh, welche große Zustimmung Christian Dürr für diese wichtige Aufgabe erhalten hat. Und ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit der Fraktion der Freien Demokraten im Deutschen Bundestag.

Die FDP bleibt eine eigenständige Partei. Wenn wir auch im Deutschen Bundestag in einer Ampelmehrheit regieren, so werden wir im nächsten Jahr in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein antreten, um Koalitionen zu verteidigen, die mit der CDU gebildet worden sind, Schwarz-Gelb in Düsseldorf und Jamaika in Kiel. Wir bleiben eben eine eigenständige liberale Partei mit eigenen Überzeugungen, mit eigenem Programm, auch wenn wir nun in eine gestaltende Rolle mit Sozialdemokraten und Grünen eintreten wollen. Ich bin überzeugt davon: Dieses Land wird von dieser Koalition profitieren. Ein neuer Aufbruch in Deutschland ist möglich. Wir können von dieser neuen Verantwortung nur profitieren. Und deshalb werbe ich, liebe Parteifreundinnen und Parteifreunde, heute hier bei Ihnen um die Annahme dieses Koalitionsvertrages. Fangen wir an. Deutschland wartet auf diesen neuen Aufbruch. Vielen Dank!

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