23.12.2020FDPFDP

THEURER-Gastbeitrag: Ja zu Technik! Ja zu Fortschritt! Ja zur Zukunft!

Das FDP-Präsidiumsmitglied Michael Theurer schrieb für „Focus Online“ den folgenden Gastbeitrag:

Es ist schon ein besonderes Stück politischer Arroganz, dass uns derzeit in Berlin vorgeführt wird. Die Bundesregierung lässt sich immer wieder von den sie stützenden Fraktionen umfassende Freiheiten gewähren, die ihr – und vor allem dem Land – hinterher immer mehr oder weniger auf die Füße fallen. Die neueste Volte ist das ganze Thema Impfen. Es ist absehbar, dass es zumindest im Jahr 2021 weltweit einen erheblichen Mangel an Corona-Impfstoffen geben wird. Die Länder, die ihre Bürger als erstes damit versorgen können, werden erhebliche Vorteile haben.

Für Deutschland gab es eine zentrale Beschaffung der Europäischen Union, bei der insbesondere von den im Vergleich relativ teuren Impfstoffen des deutschen Unternehmens Biontech nicht alle Kapazitäten ausgeschöpft wurden. Das wurde erst nach und nach öffentlich, der Bundestag wurde nicht gefragt ob man mehr bestellen solle, wenn es mehr Kapazitäten gibt.

Auf den ersten Blick mag es lehrbuchmäßig erscheinen, nicht allein auf einen Hersteller zu vertrauen und von allen nur einen Teil der benötigten Menge an Impfdosen zu kaufen, um Risiken zu streuen und Kosten möglichst gering zu halten. Noch vor wenigen Wochen sah es so aus, als stünde der Impfstoff von AstraZeneca als erstes zur Verfügung, das hat sich aber wegen der aufgetretenen Nebenwirkungen und Schwierigkeiten bei den klinischen Studien als Trugschluss herausgestellt.

Doch der Ökonom lernt direkt in einer der ersten Vorlesungen einen wichtigen Begriff kennen: Opportunitätskosten. Denn Kosten entstehen nicht nur in Form von Ausgaben, sondern auch durch den entgangenen Nutzen der Alternativoption.

Mit den getätigten Bestellungen wären frühestens Ende 2021 die Risikogruppen versorgt gewesen. Das bedeutet, dass im November 2021 erneut der Lockdown gedroht hätte. Wenn es aber weniger kostet, von allen sechs Herstellern jeweils (!) genug Impfstoff zu kaufen um Deutschland komplett durch zu impfen, als es kostet das Land zwei Wochen in den Lockdown zu schicken, dann deuten ausgeschlagene Kapazitäten auf eine völlig falsche Prioritätensetzung hin, zumal bereits im Sommer das deutsche Paul-Ehrlich-Institut Kenntnis von den herausragenden Zahlen des Biontech-Kandidaten hatte.

Werden solche Fragen im Bundestag diskutiert, fallen die Probleme im Vorgehen sofort auf. Hätten Herr Spahn und Frau Merkel die Abgeordneten mit einbezogen, hätten sie sich die Blamage erspart, dass sie ihre zuvor getroffenen Aussagen zum Zeitplan und zur Möglichkeit von Nachbestellungen revidieren mussten.

Einzelne Unionsabgeordnete sagen nun, Kritik daran sei wohlfeil, man habe ja nicht in der Verantwortung gestanden es selbst zu entscheiden. Die Kritik wäre jedoch nur dann wohlfeil, wenn der Bundestag die Verantwortung einstimmig abgegeben hätte. Wer entscheiden will und nicht darf, darf auch hinterher kritisieren.

Übrigens ist es auch widersinnig, wenn jetzt mit dem Finger auf die EU gezeigt wird. Die EU hat kaum eigene Kompetenzen im Bereich Gesundheit, sie darf sich unter Führung der CDU-Kommissionspräsidentin um den Einkauf kümmern, weil Mitgliedsstaaten in Form der Ratspräsidentschaft es ihr erlaubt haben. Und wer hat die Ratspräsidentschaft? Die CDU-geführte Bundesregierung, im Bereich Gesundheit unter der Ägide des CDU-Gesundheitsministers Spahn.

Selbst mit der nun nachbestellten Menge muss weiterhin mit einer großen Konkurrenz um die Impfstoffe gerechnet werden. Hier kommt direkt das nächste Problem: Die Bundesregierung wollte aus unerfindlichen Gründen die Impfpriorisierung auf dem Verordnungsweg entscheiden, statt dem Bundestag einen Gesetzentwurf vorzulegen.

Unabhängige Juristen äußern aber genau wie die Leopoldina und der wissenschaftliche Dienst des Bundestags erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken und weisen darauf hin, dass ein solches Vorgehen gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht rechtssicher ist. Das Thema ist stark grundrechtsrelevant für eine bloße Verordnung. Es droht eine von der Bundesregierung selbstverschuldete Klagewelle – erneut, weil sie das Parlament nicht einbeziehen wollte.

Das dritte Problem, vor dem wir stehen, ist ein wenig anders gelagert. Bisher wissen wir, dass die in Zulassung befindlichen Impfstoffe mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit vor Erkrankung schützen. Wir wissen jedoch nicht, ob sie vor Infektion schützen. Es könnte also sein, dass Geimpfte weiterhin ansteckend sind.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass es darauf keine technologisch-innovatorische Antwort gibt. Angenommen, Allergiker, Immunsupprimierte und andere Risikogruppen können nicht geimpft werden, ein Impfstoff schützte nur den Geimpften, Herdenimmunität wäre folglich keine Option: Dann stellen sich äußerst schwer zu beantwortende, unangenehme ethische Fragen.

Was bedeutet das für uns als Gesellschaft? Wie gehen wir damit um? Auf diese Frage gibt es keine richtige und falsche Antwort, es gibt kein schwarz und weiß, sondern nur eine Abwägung zwischen unbefriedigenden Alternativen. Genau solche Fragen sind es aber, deren Beantwortung nicht der Regierung überlassen werden kann, sondern die eine gesellschaftliche Debatte des Parlaments und seiner Abgeordneten in und mit der Öffentlichkeit erfordern.

Nach dieser Phase der Grundrechtseinschränkungen und der Exekutivfokussierung brauchen wir dringend eine Trendwende. Stärkung der parlamentarischen Demokratie, der Bürger- und Menschenrechte, des Rechtsstaats sind das Gebot der Stunde.

Dieser aktuelle Zustand des Nicht-Wissens bedeutet aber auch, dass pharmazeutische und medizinische Forschung auf breiter Front notwendig ist, um das Virus besser zu verstehen. Der wahrhaft wünschenswerte Weg ist es, dass es auf die derzeitigen Probleme und Fragen eine technologisch-innovatorische Antwort gibt.

Um die Chance auf diesen Weg zu verbessern, brauchen wir mehr Forschungsfreiheit, mehr Innovationsfreundlichkeit, mehr Technologieoffenheit und bessere finanzielle Rahmenbedingungen für Forschung, Entwicklung und Unternehmensgründungen.

Noch eine Chance für die wissenschaftliche Moderne. Denn bisher ist der Eindruck eher, dass die Forschungs- und Fortschrittspessimisten Unrecht hatten, dass Vertrauen in den Fortschritt sich eben doch auszahlt.

Die im Grunde genommen reaktionäre Vorstellung, es sei in irgendeiner Form erstrebenswert in einer Welt ohne Impfstoffe, ohne moderne Medizin, kurz: ohne die Annehmlichkeiten der letzten 200 Jahre zu leben, ist ohnehin unhaltbar. Niemand hat Lust auf eine Lebenserwartung von 30 Jahren, wie sie noch im Jahr 1800 völlig normal war. Es wird Zeit, diese Debatten einmal wieder selbstbewusst zu führen: Ja zu Technik! Ja zu Fortschritt! Ja zur Zukunft!

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