06.01.2016FDPAsylpolitik

ZASTROW/RENTSCH-Gastbeitrag: Kanzlerin zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Berlin. Das FDP-Präsidiumsmitglied HOLGER ZASTROW und das FDP-Bundesvorstandsmitglied FLORIAN RENTSCH schrieben für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (Mittwoch-Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag:

Merkels Griff in die rhetorische und stilistische Trickkiste auf dem CDU-Parteitag war durchaus geschickt: Indem die Kanzlerin die Großen ihrer Partei und der Bundesrepublik zitierte, reihte sie sich unaufdringlich selbst in die Riege derer ein, die durch politisches Gespür und mutige Entscheidungen das Deutschland der Gegenwart erst ermöglicht haben. Doch Adenauers Wiederaufbau, Erhards Wirtschaftswunder und Kohls Wiedervereinigung unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt von der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin: Alle Genannten verfolgten auf Grundlage einer profunden Analyse des Ist-Zustands und der möglichen Konsequenzen ihres Wirkens einen klar nachvollziehbaren Kurs bei der Bewältigung der Herausforderungen ihrer Zeit.

Zweifellos ist Merkels Handeln ebenfalls historisch und hat das Potential, die deutsche Gesellschaft in ähnlichem Maße zu verändern, wie dies einst etwa durch die Wiedervereinigung unter Kohl geschah. Doch die Art und Weise, wie die Kanzlerin die aktuelle Krise angeht, verlangt selbst überzeugten Christdemokraten ein gehöriges Maß an Gottvertrauen ab, noch an eine Gestaltungskraft und Handlungsfähigkeit der Verantwortlichen in der Flüchtlingskrise zu glauben. Dass Deutschland in einer der wohl unsichersten Situationen der vergangenen Jahre den Kopf überhaupt noch über Wasser halten kann, liegt einzig und allein an den Rekordsteuereinnahmen, durch die Bund und Länder wenigstens durch entsprechende finanzielle Aufwendungen ein noch weit größeres Chaos verhindern konnten.

Angesichts der aktuellen Indikatoren ist die politische Strategie der Bundesregierung, sich auf dem erreichten Wirtschaftswachstum auszuruhen, jedoch gefährlich naiv. Kanzlerin Merkel muss erkennen, dass für eine Lösung der Flüchtlingskrise eine gesamteuropäische Strategie unabdingbar ist – und auf eben jener politischen Ebene wurde in den vergangenen Jahren in der Diplomatie viel Porzellan zerschlagen. Denn mit ihrem Alleingang, Flüchtlinge quasi nach Deutschland einzuladen, hat die Kanzlerin die europäischen Nachbarn brüskiert und die Idee Europas ad absurdum geführt. Auch durch die Alleingänge in der Energiepolitik und vor allem die fatale Rettungsstrategie gegenüber Griechenland hat sie das europäische Projekt auf Spiel gesetzt.

Während die CDU mühsam versucht, die eigenen Reihen zu schließen, liegen wichtige Entscheidungen in unserem Land aktuell auf Eis: das Asylpaket II etwa, in dem Schnellverfahren etabliert, Asylzentren geschaffen und der Familiennachzug begrenzt werden sollte. Und ein Einwanderungsgesetz für diejenigen, die wir tatsächlich aus wirtschaftlichen Gründen in unserem Land mehr als dringend brauchen, wurde auf 2017 verschoben. Auf europäischer Ebene bräuchte es entsprechende Mittel für eine echte gemeinsame Grenzsicherungsmission, den Aufbau einer funktionierenden Erstregistrierung in Hotspots, eine Entscheidung über eine gemeinsame Liste sicherer Herkunftsländer sowie eine geordnete Verteilung wirklich Hilfsbedürftiger auf alle Mitgliedstaaten nach Leistungsfähigkeit.

Mit ihrem aktuellen Kurs erschwert die Kanzlerin nicht bloß die Lösung der Flüchtlingskrise, sondern perspektivisch auch die Suche nach funktionierenden Bündnissen nach der Bundestagswahl 2017. Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass diese Kanzlerin bei der nächsten Wahl eine Koalition mit der FDP suchen wird, sollten die Mehrheitsverhältnisse 2017 ein solches Bündnis theoretisch ermöglichen. Denn für das marktwirtschaftliche und rechtsstaatliche Profil der Freien Demokraten gibt es derzeit kaum Anknüpfungspunkte bei der Union. Diese Feststellung gilt selbstverständlich auch umgekehrt: Setzt sich der positive Trend für die FDP auch bei der kommenden Bundestagswahl fort, kann die Union nur wieder als Koalitionspartner für die Liberalen attraktiv werden, wenn es eine Rückbesinnung auf marktwirtschaftliche Werte gibt und wieder der nötige Mut für große Reformprojekte vorhanden ist, die Deutschland so dringend benötigt. Eben diesen Politikstil verkörperten Helmut Kohl, Friedrich Merz und Roland Koch – allesamt Politikerpersönlichkeiten, die man in der Union aktuell vergeblich sucht.

Eines steht heute schon fest: Mit ihrer Reaktion auf den Flüchtlingsstrom hat die politische Enkelin Adenauers ihren festen Platz in den Geschichtsbüchern schon im September 2015 reserviert. Spannend bleibt jedoch die Frage, ob in zwanzig oder gar fünfzig Jahren nachfolgende Politikergenerationen ihre Losung „Wir schaffen das“ als Referenz für eine wegweisende Weichenstellung zum Wohle unseres Landes zitieren werden. Oder ob Merkels Zitat als historische Fehlprognose fortan als Mahnmal für eine Politik verwendet wird, die die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realitäten im Land aus dem Blick verloren hat. Allein die Kanzlerin hat es in der Hand, das aktuelle Chaos in geordnete Bahnen zu lenken – und somit wieder die Deutungshoheit über die Bewertung ihrer Kanzlerschaft zu erlangen.

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