22.05.2006FDP

"Frankfurter Rundschau" dokumentiert Westerwelle-Rede

Berlin. Die "Frankfurter Rundschau" (morgige Ausgabe) dokumentiert die Rede des FDP-Partei- und Fraktionsvorsitzenden DR. GUIDO WESTERWELLE, die dieser beim heute beginnenden DGB-Bundeskongreß in Berlin halten wollte. DR. GUIDO WESTERWELLE hatte am 15. Februar 2006 die Einladung des Deutschen Gewerkschaftsbundes angenommen, beim DGB-Bundeskongreß ein Grußwort zu sprechen - so wie es die Vertreter aller Parteien im Bundestag üblicherweise tun. Am 21. Februar 2006 lud der DGB DR. GUIDO WESTERWELLE aus. Zwei Tage nach der Ausladung schrieb der Landesbezirksleiter der DGB-Gewerkschaft Ver.di in Bayern, JOSEF FALBISONER, daß er gern ein Grußwort beim Politischen Aschermittwoch der FDP in Passau halten wolle. Die FDP lud ihn hierzu ein, und der Landes-Chef von Ver.di sprach am 1. März bei der Veranstaltung der Liberalen. Dabei bedankte FALBISONER sich herzlich dafür, daß die FDP als einzige Partei seine Position zu Wort kommen ließ. Auch nach diesem Ereignis nahm der DGB seine Ausladung nicht zurück.

"Sehr geehrte Teilnehmer des DGB-Bundeskongresses,

gestatten Sie mir, daß ich gleich zu Beginn mit drei Vorurteilen aufräume.

Bei einigen ist fälschlicherweise der Eindruck entstanden, die FDP hätte etwas gegen Gewerkschaften. Mir wird vorgeworfen, ich hätte Gewerkschaften als "Plage" bezeichnet. Das ist falsch. Ich habe auf die unsägliche Heuschrecken-Kampagne der SPD reagiert. Wir haben nichts gegen Gewerkschaften. Im Gegenteil, wir wollen starke Vertretungen von Arbeitnehmerinteressen. Wir haben aber etwas gegen die selbstvergessene Macht von einigen Gewerkschaftsfunktionären. Wenn deren Interessenspolitik den Arbeitsplätzen und den Arbeitnehmern schadet, kritisieren wir das.

Wenn Ver.di Kindergärten bestreikt, bei Schneefall den Räumdienst blockiert und wenn der Müll sich auf den Straßen türmt wegen 18 Minuten täglicher Mehrarbeit, dann ist das für uns nicht nachvollziehbar. 18 Minuten Mehrarbeit sind akzeptabel, wenn der Arbeitsplatz sicher ist. Alle Beamten arbeiten länger; alle Angestellten im Öffentlichen Dienst der neuen Länder arbeiten länger; alle in der freien Wirtschaft arbeiten länger. Es gibt kein Land der Welt, das nach der Devise "Aufschwung durch Freizeit" aus der Krise gekommen ist. Nur mit mehr Leistungsbereitschaft kommen wir aus dem Tal heraus.

Bei einigen ist fälschlicherweise noch ein zweiter Eindruck entstanden: Wir Liberale wollten den schwachen Staat. Wir wollen den starken Staat. Stark ist der Staat, der sich auf seine Kernaufgaben konzentriert. Schwach ist der fette Staat, der sich in alles einmischt, der Steuergelder verplempert in Bereichen, aus denen er sich heraushalten sollte. Den fetten Staat lehnen wir ab.

Bei einigen ist noch ein dritter falscher Eindruck entstanden: Man bräuchte mit der stärksten Opposition nicht zu sprechen. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie meine Haltung nicht teilen. Ich habe aber etwas dagegen, wenn das Gespräch zwischen politisch verschieden Denkenden verweigert wird. Wir nehmen für uns in Anspruch, daß liberale Politik die beste Arbeitnehmervertretung ist. Bei der Bundestagswahl haben mehr als 4,6 Millionen Bürger uns ihre Stimme gegeben. Unter unseren berufstätigen Wählern sind zwei Drittel Arbeiter und Angestellte. Acht Prozent der Arbeitslosen haben FDP gewählt. Wer die FDP ausgrenzt, der nimmt die Haltung von mehr als 4,6 Millionen Bürgern nicht ernst.

Wir stehen als einzige freiheitliche Alternative zum Stillstand unter Schwarz-Rot. Wir stehen für Wachstum und Arbeit. Wir stehen gegen Umverteilung. Wir stehen für das Erwirtschaften. Wir sind zutiefst davon überzeugt: Nichts ist sozialer als die richtigen Rahmenbedingungen für neue Arbeitsplätze.

Wir setzen weiter auf betriebliche Bündnisse für Arbeit. Wir setzen weiter auf Arbeitnehmer-Selbstbestimmung. Wir setzen weiter auf die Auflösung der Bundesagentur für Arbeit, die sich als nicht reformierbarer Moloch erwiesen hat. Es ist kein Arbeitnehmerfeind, wer Frau Engelen-Kefer oder Herrn Bsirske kritisiert. Deren Politik vernichtet Arbeitsplätze in Deutschland.

Beim Software-Hersteller SAP gab es bisher keinen Betriebsrat. 91 Prozent der Mitarbeiter haben gegen die Gründung eines Betriebsrates gestimmt. Jetzt muß SAP gegen deren Willen einen gründen, weil ganze drei Mitarbeiter, IG Metall-Mitglieder, vor Gericht zogen. Das geht nur bei einem Betriebsverfassungsgesetz, das Gewerkschaftsfunktionären mehr Macht gibt als Beschäftigten. Deswegen wollen wir die Mitbestimmung zurückgeben: Wenn die Beschäftigten in geheimer Wahl mit 75 Prozent Mehrheit eine Regelung treffen, die vom Tarifvertrag abweicht, dann soll dies gelten. Dann soll es kein Veto geben - weder für die Funktionäre der Arbeitnehmer noch für die Funktionäre der Arbeitgeber. Wir wollen Selbstbestimmung statt funktionärischer Fremdbestimmung, egal von welcher Seite.

In Bonn laufen die Tarifverhandlungen mit der Telekom. Ver.di fordert dort sechs Prozent Lohnerhöhung für alle Mitarbeiter. Außerdem fordert Ver.di für alle Ver.di-Mitglieder eine Lohnerhöhung von 250 Euro - wohlgemerkt nur für die Gewerkschaftsmitglieder. Ich halte es für nicht hinnehmbar, wenn eine Gewerkschaft ein Verhandlungsmandat für die gesamte Belegschaft annimmt, aber in Wahrheit für die einen mehr und für die anderen weniger will. Das ist Gewerkschaftspolitik, die ich ablehne: Sie ist nicht im Allgemeininteresse, sondern im Eigeninteresse.

Fünf Punkte für mehr Wachstum schlagen wir vor. Bürger und Betriebe brauchen Steuersenkung und Steuervereinfachung, damit investiert und konsumiert werden kann. Unser Solms-Modell zeigt, wie das geht. Zweitens muß sich der Staat auf seine eigentlichen Aufgaben konzentrieren. Die Konsolidierung der Staatsfinanzen muß über die Ausgabenseite erfolgen; über 400 konkrete Einsparvorschläge haben wir im Bundestag gemacht. Drittens brauchen die Sozialversicherungen eine Strukturreform. Die Bürgerversicherung ist der falsche Weg in die staatliche Zwangskasse. Viertens sind die neuen Technologien die Grundlage für neue wirtschaftliche Chancen. Wir dürfen die Gentechnik oder den Transrapid nicht aus unserem Land herausekeln. Fünftens ist Bildung die Voraussetzung für Spitzentechnologie. Bildung wird in der Globalisierung zur wichtigsten Wohlstandsfrage. Und Ausbildung wird auf dem Arbeitsmarkt der Wissensgesellschaft zur sozialen Frage.

Darum brauchen wir mehr Freiheit für Schulen und Hochschulen und eine duale Ausbildung, die auf Qualität setzt. Wenn andere billiger sind, dann müssen wir besser sein. Wir können nicht mit den Arbeitskosten in Ostasien konkurrieren, und wir Liberale wollen das auch gar nicht. Wir wollen ein Deutschland, das Hochtechnologie zuläßt und bei der Forschung ganz vorn ist, damit wir uns auch hohen Wohlstand leisten können.

Schwarz-Rot setzt leider fort, was Rot-Grün schon falsch gemacht hat. Wir haben eine Staatsquote von rund 50 Prozent. Deshalb ist es Unsinn zu behaupten, der Staat habe zu wenig Geld. Er gibt es nur falsch aus. Früher wollte die Union das ändern. Statt dessen hat sie einen atemberaubenden Agendawechsel vollzogen weg von der Senkung der Staatsquote, hin zur Erhöhung der Steuerlast. Die rot-schwarzen Jahre werden jeden Arbeitnehmer teuer zu stehen kommen. Tragen Sie das mit?

Mehrwertsteuererhöhung, Erhöhung der Versicherungssteuer, Streichungen bei Pendlerpauschale und Eigenheimzulage, Aufschlag beim Biodiesel, Reduzierung der Sparerfreibeträge, Reichensteuer, höhere Rentenbeiträge und bald wohl ein Gesundheitssoli: Unsere Steuerexperten haben ausgerechnet, was die schon beschlossenen Steuererhöhungen eine Familie mit zwei Kindern und einem Jahreseinkommen von 40.000 Euro kosten. Diese Familie zahlt über 1600 Euro mehr im Jahr. Halten Sie das für sozial? Wäre hier Ihr Platz als Arbeitnehmervertreter nicht an unserer Seite? Daß den Familien mit dem Elterngeld gegeben werden soll, was ihnen zuvor zigfach durch höhere Steuern und Abgaben abgenommen wurde: Halten Sie das für gerechte Politik?

Wir sollten gemeinsam fordern: Schwarz-Rot muß auf die Erhöhung der Mehrwertsteuer verzichten. Sie ist fiskalisch nicht nötig. Sie ist wirtschaftlich und sozial schädlich. Und es ist auch nicht wahr, daß die Mehreinnahmen in die Senkung der Sozialbeiträge gehen. Die Regierung streicht in gleicher Höhe Zuschüsse bei der Arbeitslosenversicherung. Ist das sozial?

Hätte die SPD vor der Wahl gesagt, daß sie eine saftige Mehrwertsteuererhöhung will, wäre sie nie mit 222 Abgeordneten in den Bundestag eingezogen. Sie wäre nie in die Regierung gekommen, Herr Steinbrück wäre heute nicht Finanzminister. Ich werde nicht aufhören, auf diesen Wahlbetrug der SPD hinzuweisen. Müßten Sie da nicht an unserer Seite stehen?

Die explodierenden Energiekosten belasten nicht vorrangig Sie hier im Saal. Immer mehr Geld für Strom, Öl, Gas und Benzin: Das belastet vor allem Rentner, Kleinverdiener, Durchschnittshaushalte. Wir haben die zweithöchsten Strompreise Europas, weil der Staat kräftig mitkassiert, weil Rot-Grün Versorger-Kartelle geschaffen hat und Schwarz-Rot sie weiter duldet. Auch in dieser Frage gilt: Ist Ihr Platz da nicht neben uns?

Wer den Anspruch erhebt, für Arbeitnehmer zu sprechen und sozial zu denken, der darf Schwarz-Rot nicht schonen, nur weil diese Koalition sich "groß" nennt.

Es gibt eine Alternative zu immer höheren Steuern und Abgaben. Alle anderen europäischen Staaten, die geringere Steuern und flexiblere Regeln haben - dort gibt es heute mehr Wachstum, gesündere Staatsfinanzen und weniger Arbeitslose. Diese Länder sind den Weg der Marktwirtschaft gegangen. Nur Schwarz-Rot schlägt den Weg in die bürokratische Staatswirtschaft ein. Deutschland wird zum Geisterfahrer der Weltwirtschaft. Statt aufzuschließen, fallen wir weiter zurück. Die Welt wächst in diesem Jahr um fast 5 Prozent. Die alten 15 EU-Staaten werden über 2 Prozent wachsen. Und in Deutschland redet sich Schwarz-Rot bei einer Wachstumsprognose von rund 1,5 Prozent besoffen.

In Deutschland sollte eine Steuererklärung mal auf einen Bierdeckel passen. Heute braucht die Bundesregierung 140 Seiten, um ihre Mehrwertsteuererhöhung zu erklären. Das verspottet das angebliche Ziel des Bürokratieabbaus. Wem nichts einfällt außer Steuererhöhungen, der sorgt dafür, daß bald nur noch eines auf einen Bierdeckel paßt: Das Einkommen von ganz normalen Arbeitnehmer-Haushalten. Warum schonen Sie hier die Regierung?

Wir lehnen auch die Reichensteuer ab. Dabei geht es uns nicht um einige wenige Reiche. Es geht uns um die Beschäftigten. Die sind die Opfer, wenn Arbeitsplätze weiter in unsere Nachbarländer verlagert werden, wenn Kapital vertrieben wird, wenn Investitionen blockiert werden.

Es gibt keinen deutschen Sonderweg in der globalisierten Welt. Sozial ist ein Land doch nicht, wenn es die höchsten staatlichen Sozialausgaben hat. Sozial ist ein Land, wenn die Bürger es schaffen, durch eigene Leistung das eigene Leben zu gestalten. Sozial ist ein Land, wenn es nicht an alle ein wenig verteilt, sondern Hilfe auf wirklich Bedürftige konzentriert. In Deutschland haben wir viel zu lange falsche Annahmen gepflegt: Gute Sozialpolitik brauche viel Staat. Wirtschaftsfreundlich sei arbeitnehmerfeindlich. Wachstum schade der Umwelt. Diese Ideologie führt in die Irre.

Im April waren 4,8 Millionen Mitbürger offiziell arbeitslos. Das schadet Deutschland, ist aber vor allem schlimm für die Betroffenen. Die Deutschen werden ärmer: Beim Pro-Kopf-Einkommen liegen wir nur noch auf dem elften Platz in Europa. 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren leben in Armut. In Schweden haben 70 Prozent der über 55-Jährigen einen Arbeitsplatz, in Deutschland gerade einmal halb so viele. Das ist mehr als ökonomische Unvernunft. Es ist eine soziale Schande, daß Ältere und Erfahrene fast keine Chance mehr haben.

Mehr als 600.000 Bürger verlassen Deutschland jährlich, weil sie hier keine Perspektive sehen. Diesen Menschen bieten wir die Alternative einer freiheitlichen Politik, die auf Wachstum setzt. Eine Politik, die zu mehr Armut und zu mehr Auswanderung führt, kann gar nicht sozial sein. Sondern nur die Politik, die dafür sorgt, dass die Menschen wieder Arbeit haben. Das ist unsere Politik. Mit dem Kurs der wirtschaftlichen Vernunft ist die FDP die einzige wirkliche Arbeitnehmerpartei Deutschlands.

Sie können anderer Meinung sein. Aber Sie sollten Andersdenkende ertragen."

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