LAMBSDORFF-Interview für "Finanz und Wirtschaft"
Berlin. Der FDP-Ehrenvorsitzende OTTO GRAF LAMBSDORFF gab der Schweizer Zeitung "Finanz und Wirtschaft" (heutige Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte DR. ANDREAS NEINHAUS:
Frage: Graf Lambsdorff, der deutsche Finanzminister, Hans Eichel, teilte vergangenes Wochenende mit, die Regierung werde das Ziel, bis 2006 den Bundeshaushalt auszugleichen, nicht einhalten können. Hat Sie das überrascht?
LAMBSDORFF: Nein und es hat wohl auch Herrn Eichel nicht überrascht. Er hat immer wieder Zahlen genannt hat, von denen er selber nicht mehr überzeugt sein konnte. Herr Eichel ist in allen wesentlichen Punkten seiner Politik gescheitert. Er muss die Schulden erhöhen. Er kann das Maastricht-Kriterium nicht einhalten. Er kann bis 2006 keinen ausgeglichenen Haushalt vorlegen. Und nun hat er sich sogar noch Steuererhöhungen abringen lassen. Das ist sein schlimmster Fehler.
Frage: Warum?
LAMBSDORFF: Mit der Erhöhung der Tabaksteuer hat er wieder zugestimmt, dass nicht Ausgaben gesenkt werden, sondern eine Umfinanzierung vorgenommen wird. Für konjunkturell bedingte Steuerausfälle kann man Herrn Eichel nicht verantwortlich machen; allenfalls für die Fehleinschätzung. Aber sich vom Bundeskanzler und seiner Gesundheitsministerin eine Steuererhöhung aufzwingen zu lassen! Das wäre ein Grund gewesen, bei dem Herr Eichel hätte nachdenken müssen, welche Konsequenzen er zieht.
Frage: Nicht nur Deutschland hat das in Brüssel vereinbarte Haushaltsziel verpasst.
LAMBSDORFF: Ich bin nicht bereit, das Argument zu akzeptieren, das andere sich auch schlecht betragen und Deutschland deswegen entschuldigt ist. Deutschland ist die stärkste Wirtschaftsmacht in Europa aber die Performance ist die schlechteste. Das sind hausgemachte Fehler ? übrigens nicht nur dieser Regierung. Wir haben über viele Jahre hinweg den Sozialstaat in einer Weise ausgebaut, wie er nicht hätte ausgebaut werden dürfen. Es waren alle daran beteiligt.
Frage: Wie beurteilen Sie die Reformagenda 2010 der Regierung Schröder?
LAMBSDORFF: Die Agenda 2010 weist zwar in die richtige Richtung aber sie ist leider unzulänglich.
Frage: Die sozialdemokratische Regierung hat sich damit gewaltige Proteste von der SPD-Linken und den Gewerkschaften eingehandelt.
LAMBSDORFF: Schröder hätte weiterreichende Vorschläge machen müssen, denn er hätte die gleiche Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften zu meistern. Nun haben sie sich den Ärger für unzureichende Vorschläge eingehandelt.
Frage: Welche Rolle spielen die Gewerkschaften in der Reformpolitik?
LAMBSDORFF: Der DGB ist schwach. Dessen Vorsitzender, Sommer, kann sich gegen die beiden grossen Gewerkschaften Verdi und IG Metall nicht durchsetzen. Der Kurs der IG Chemie ist konstruktiver und dient letztlich auch dem Interesse der Gewerkschaften mehr als die Konfrontation. Falls die IG Metall die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich in Ostdeutschland durchsetzt, bedeutet das das Aus für viele Betriebe ? sollten sich diese überhaupt daran halten. Die Gewerkschaft weiss, dass viele mittelständische Betriebe gar nicht daran denken, bei solchen Konditionen Tarifverträge einzuhalten. Sie nimmt diesen Rechtsbruch hin. Es geht letztlich um Machtpositionen. Die zwei Gewerkschaften verlieren Mitglieder und kämpfen um ihre Existenz. In zehn Jahren könnten Gewerkschaften in Deutschland etwa den gleichen Bedeutungsverlust erlitten haben wie in Grossbritannien.
Frage: Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Agenda 2010 beschlossen wird?
LAMBSDORFF: Ich erwarte, dass es sowohl auf dem SPD-Parteitag als auch im Bundestag eine eigene Mehrheit der Rot-Grünen-Koalition geben wird.
Frage: Sie vergleichen die Zukunft der deutschen Gewerkschaften mit der Entwicklung in Grossbritannien. Dort wirkte allerdings der Thatcherismus. Dazu kommt es doch in Deutschland nicht?
LAMBSDORFF: Wir haben in Deutschland keinen Thatcherismus und wir können ihn auch gar nicht haben. Denn die verfassungsrechtlichen Bedingungen sind bei uns zu verschieden von denen in Grossbritannien, wo ein Ein-Kammer-System existiert. In Deutschland haben Sie den Bundestag, den Bundesrat, Länderinteressen, Zustimungsbedürftigkeit etc. So etwas wie die Agenda 2010 wäre in Grossbritannien mit einer entsprechenden im Unterhaus vorhandenen Mehrheit, innerhalb von wenigen Tagen, maximal wenigen Wochen umgesetzt worden. Bei uns, können Sie froh sein, wenn es zum 1. Januar 2004 im Bundesgesetzblatt steht.
Frage: Wie lautet die liberale Antwort auf die wirtschaftlichen Probleme?
LAMBSDORFF: Wir werden nur über marktwirtschaftliche also liberale Ansätze die derzeitigen Probleme auf nationaler und internationaler Ebene lösen können. Ohne eine freie Welthandelsordnung sind weder die Probleme der Industrieländer noch jene der Entwicklungsländer zu lösen. Binnenwirtschaftlich stellen sich erhebliche Aufgaben. Besonders die, allen in Deutschland an der Wirtschaft Beteiligten mehr Freiheit zu geben. Das ist eine Grundforderung liberaler Politik. Mehr Freiheit heisst, die Überregulierung abzubauen und den Einfluss des Staates zurückdrängen. Dazu muss man den Menschen aber auch sagen, dass sie nicht alle Probleme beim Staat abladen können, sondern mehr für sich selber und für die Lösung ihrer eigenen Probleme sorgen müssen. Es gilt das Motto Kennedy?s: Wenn Du nach der helfenden Hand suchst, dann schau an deinen rechten Arm und rufe nicht zuerst nach dem Staat.
Frage: Warum ist diese Position nicht mehrheitsfähig?
LAMBSDORFF: Weil der persönliche Eindruck Vieler dahingeht, dass es uns ja noch ganz gut geht und wir uns durchwursteln können. Das ändert sich und zwar vor allem auf dem Gebiet der Arbeitslosigkeit. Es fing damit an, dass schlecht qualifizierte Arbeitskräfte keinen Job mehr fanden. Inzwischen finden selbst Universitätsabgänger mit gutem Examen keine Anstellung mehr. Es kriecht in Gesellschaftsschichten hinein, die von der Befürchtung, Arbeitslosigkeit könne sie persönlich und ihre Familie treffen, weit entfernt waren.
Frage: Der Bund der Steuerzahler schätzt, dass die Abgabenquote etwa 55% beträgt. Wie erklären Sie sich, dass die Menschen mehr als die Hälfte ihres Einkommen an den Staat abzugeben bereit sind und die dafür verantwortlichen politischen Parteien weiter wählen?
LAMBSDORFF: In Deutschland ist die Staatsgläubigkeit immer noch gross. Umfragen ergeben, dass die Menschen Sicherheit der persönlichen Freiheit vorziehen. Ich habe vor über 20 Jahren an Helmut Schmidt geschrieben: Wenn das so weiter geht, gefährden wir unser politisches System. Damals waren wir bei einer Million Arbeitslosen. Heute haben wir nahezu fünf Millionen Arbeitslose und immer noch wird es mit Ruhe hingenommen. Warum? Weil der Staat die Arbeitslosigkeit relativ grosszügig finanziell abgefedert hat. Das geht aber zu Ende, denn wir können uns die Bezahlung in dieser Form nicht mehr leisten. Es sollen Einschnitte vorgenommen werden, die ich für dringend notwendig halte. Das wird für alle Betroffenen eine schmerzhafte Erfahrung. Aber bevor die Menschen nicht realisieren, dass wir uns diese Form der Finanzierung von Arbeitslosigkeit, Krankenversicherung, Pflegeversicherung und was es so alles gibt, nicht mehr leisten können, wird sich nichts Grundlegendes ändern.
Frage: Ist die hohe Abgabenquote ein Spiegel der gesellschaftlichen Solidarität?
LAMBSDORFF: So wird es jedenfalls von Sozialdemokraten und Gewerkschaften dargestellt. Aber eine Abgabenquote über 50% von dem was ich durch meine eigene Arbeit verdiene, macht klar, dass ich es mit einem räuberischen Staat zu tun habe. Und nicht mit einem Staat, wie wir ihn haben wollen, der den Bürger schützt. Der Staat ist nicht dazu da, den Bürger auszuplündern, sondern um Rechtsfrieden herzustellen und den Bürger vor Übergriffen anderer zu bewahren. Dass der Staat immer mehr dazu übergeht, gegen seine Bürger vorzugehen, ist eine schlimme Fehlentwicklung.
Frage: Besteht Scheu davor, Eigenverantwortung zu übernehmen?
LAMBSDORFF: In erheblichem und unerfreulichem Masse ist das der Fall. Zu solchem Urteil werden viele aufschreien und sagen, wir sind nach wie vor risikobereite Unternehmer, ?wir sind nach wie vor Leute mit Initiative?. Das ist alles richtig. Aber die meisten Menschen denken in Kategorien von Tarifverträgen, von Urlaubsansprüchen, von Krankengeld und späterer Rente. Erstaunlich ist, dass die Jugendorganisation der sozialdemokratischen Partei sich gegen die Reform der Rentenversicherung wehrt! Dabei belastet der Status Quo zukünftige Generationen. Und da stehen die Jusos zuoberst auf den Barrikaden, anstatt darauf zu drängen, dass die Reformen endlich angenommen werden.
Frage: Wie beurteilen Sie die Riester-Rente?
LAMBSDORFF: Mit der Riester-Rente ist immerhin ein Stück Kapitaldeckung eingeführt worden. Das ist ein richtiger Schritt wie auch die Senkung der Einkommensteuer und der Körperschaftssteuer ein richtiger Schritt war. Aber sie wurde mit einem Unmass von Regulierungen versehen, aus dem das Misstrauen deutlich wird, das der Mehrheitsgesetzgeber gegenüber der Eigenverantwortlichkeit der Menschen hegt.
Frage: Müssen auch die Rentner Opfer bringen?
LAMBSDORFF: Ja. Die bestehenden Renten dürfen natürlich nicht gekürzt werden aber zweifellos werden Rentenerhöhungen langsamer vor sich gehen und auch ausgesetzt werden, weil sonst die Rentenversicherungsbeiträge über 20% liegen werden. Wer früh in Rente geht, muss deutlich höhere Abschläge hinnehmen als heute.
Frage: Wie würde ein FDP-Konzept der Gesundheitsreform aussehen?
LAMBSDORFF: Die Gesundheitsreform ist wohl eines der schwierigsten Probleme, weil so viele Lobbyisten und Interessengruppen auf sie einwirken und jeder an einem anderen Strang zieht. Eines muss fest stehen: Wir brauchen mehr Wettbewerb, mehr Transparenz. Wir brauchen die Einschränkung der Monopole. Die Kassenärztliche Vereinigung ist ein solches Monopol. Wir brauchen mehr Eigenbeteiligung und mehr Eigenleistung der Betroffenen. Jeder muss sich selber eine Grundsicherung verschaffen. Die Solidargemeinschaft kommt nur für Fälle auf, die durch die Grundsicherung nicht abgedeckt sind. Es muss jedem Menschen, ob mit oder ohne Arbeit, zuzumuten sein, sich gegen den normalen Krankheitsfall selber zu versichern. Aber ich kann ihm nicht zumuten, eine Operation am offenen Herzen zu finanzieren. In diesen Fällen muss die Solidargemeinschaft eintreten.
Frage: Haben Sie Verständnis für Unternehmer, die in die Schweiz abwandern?
LAMBSDORFF: Ich habe immer Verständnis für Unternehmen, die für ihren Betrieb die besten Standortbedingungen erstreben, ob in der Schweiz oder anderswo. Man kann sich selbstverständlich nicht auf der einen Seite an grosszügigen Fördermassnahmen in Deutschland beteiligen und sich dann steuerlich in die Schweiz verabschieden. Anderseits muss man im Auge behalten, dass dieselben Fördermassnahmen, etwa für Investitionen in den neuen Bundesländern, auch ausländische Unternehmen erhalten. Die Förderung hängt nicht davon ab, ob ein inländischer Investor auftritt. Elf hat Milliarden an Subventionen bekommen, um die Leuna-Werke wieder aufzubauen. Daher Vorsicht mit dem Argument: Du musst in Deutschland bleiben, weil du Subventionen bekommen hast! Diese Logik überzeugt mich nicht.
Frage: Wie stehen Sie zu den Bestrebungen innerhalb der EU in Sachen Zinsbesteuerung? Die meisten EU-Staaten sind bereit, dass Banken Kontrollinformationen an die Finanzminister liefern.
LAMBSDORFF: Ich hoffe zuversichtlich, dass die Schweiz hart bleiben wird, sich diesem System nicht anschliesst und es damit wohl verhindert. Ich bin für eine Abgeltungssteuer. Wir hätten uns in Europa längst dazu durchringen sollen.
Frage: Jene Länder, denen sozial- und arbeitsmarktpolitische Reformen in den vergangenen Jahren gelungen sind, wie beispielsweise den Niederlande, standen nicht liberale Regierungen vor sondern sozialdemokratische. Ist der Liberalismus, so wie er in der Öffentlichkeit vertreten wird, zu wenig sozial?
LAMBSDORFF: In den Niederlanden war die liberale VVD Koalitionspartner und Motor der Reformpolitik. Wir haben uns in Deutschland 1948/49 der sozialen Marktwirtschaft verschrieben und bewusst den reinen Turbokapitalismus abgelehnt. Ständig muss allerdings entschieden werden, wie weit das Soziale in der sozialen Marktwirtschaft gehen kann. Friedrich von Hayek hat ?Sozial? als Wieselwort bezeichnet, weil damit der Marktwirtschaft so viele Auflagen und Verpflichtungen aufgebürdet würden, dass der Markt nicht mehr funktionieren könne. Heute ist das auf dem deutschen Arbeitsmarkt, der unter der Prämisse der sozialen Gerechtigkeit entwickelt wurde, zweifellos der Fall.
Frage: Sind die USA ein Vorbild?
LAMBSDORFF: Sie sind ein Vorbild aber wir müssen die Vorbilder im Rahmen gewachsener europäischer Kulturen sehen. Die Flexibilität des Arbeitsmarktes ist für die USA ein wesentlicher Pfeiler ihrer wirtschaftlichen Stärke. Wir wollen in Europa starke Gewerkschaften. Schwache Gewerkschaften sind gefährlich, wie derzeit in Deutschland zu beobachten ist. Der Bundeskanzler hat mir gegenüber oft argumentiert: Heuern und feuern kommt bei uns nicht in Frage! Das können wir in Europa aber sowieso nicht. Auch in der Schweiz ist das politisch und gesellschaftlich nicht möglich. Darum geht es gar nicht. Aber es muss doch irgend etwas geben zwischen dem starren deutschen System und dem rücksichtslosen System in den Vereinigten Staaten.
Frage: Wie liberal ist die Europäische Union?
LAMBSDORFF: Die Grundlage ist natürlich liberal. Die Römischen Verträge enthalten klare marktwirtschaftliche Regeln zur Wettbewerbspolitik. Der Binnenmarkt folgt liberalen marktwirtschaftlichen Prinzipien. Aber es gibt in der EU leider auch den unheilvollen Drang nach Zentralisierung. Zu viel soll in Brüssel entschieden werden, was in den Mitgliedstaaten oder auf noch tieferer Ebene entschieden werden könnte. Dennoch ist es falsch, Brüssel alleine zu kritisieren, denn nur zu oft schieben die nationalen Regierungen unangenehme Entscheide nach Brüssel ab, und sagen dann, ich wasche meine Hände in Unschuld, weil die in Brüssel es so beschlossen haben. Subsidiarität, wie es der Maastrichter Vertrag fordert, muss eine liberale europäische Verfassung prägen. Subsidiarität wird leider in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich definiert und derzeit in Brüssel nicht ausreichend praktiziert.
Frage: Welche Rolle spielt hier der Europäische Konvent?
LAMBSDORFF: Für wen spricht der Konvent? Wer gibt sich hier eine Verfassung? Die Voraussetzung für eine Verfassung und damit die Voraussetzung für ein Europäisches Parlament ist ein Staatsvolk und ein europäisches Staatsvolk haben wir nicht. Ich hoffe nur, dass der Konvent nicht versucht, etwas auf Europa aufzupfropfen, wofür es die Grundlage nicht gibt.
Frage: Wer nimmt von liberaler Seite am Konvent teil?
LAMBSDORFF: Aus Deutschland ist kein Liberaler am Konvent beteiligt.
Frage: Das sind nicht unbedingt gute Startbedingungen.
LAMBSDORFF: Wir haben nun mal keine liberale Mehrheit in Europa.