19.10.2017FDPFDP

LINDNER-Interview: Die Kanzlerin muss uns ein Angebot machen

Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab dem „Stern“ (aktuelle Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte Christian Krug.

Frage: Herr Lindner, in Niedersachsen haben genau die drei Parteien erheblich an Stimmen verloren, die nun im Bund in die Sondierungsgespräche um eine Jamaika-Koalition gehen. War das ein erstes Warnzeichen?

Lindner: Die Landtagswahlen hatten nach dem Parteiwechsel einer Politikerin der Grünen zur CDU einen stark regionalen Charakter. Uns bringt das Ergebnis nicht aus der Ruhe.

Frage: Sie haben erklärt, dass Sie den Solidarzuschlag abschaffen wollen. Ist das nur Verhandlungsmasse?

Lindner: Nein. Es muss eine Trendwende bei der Belastung der Mitte der Gesellschaft geben. Und das betrifft Steuern und Sozialabgaben. Der Solidaritätszuschlag, das haben alle Parteien versprochen, soll nur so lange erhoben werden, wie der Aufbau Ost finanziert werden muss. Das ist 2019 erledigt. Also muss der Soli in dieser Legislaturperiode beendet werden.

Frage: Wird dieser Punkt das erste harte Ringen mit der CDU?

Lindner: Ich weiß es nicht. Aber wenn die Union unsere Stimmen für die Wahl der Bundeskanzlerin will, dann muss sie uns ja ein Angebot machen.

Frage: Wie viele Ministerposten müssen in einer Koalition dabei für die FDP herauskommen?

Lindner: Es geht nicht um die Zahl der Ministerposten. Es geht jetzt um die politischen Inhalte. In der Frage der Kabinettsmitglieder würde man sich schneller einig werden als in der Sache, fürchte ich. Bei Europa, Energie, Entlastung, Einwanderung und Bildung haben die vier Jamaika-Parteien zum Teil widersprüchliche Wähleraufträge.

Frage: Sie haben mir vor zwei Jahren gesagt, Sie streben keinen Ministerposten an. Ist der Posten des Fraktionsvorsitzenden interessanter als der des Finanzministers?

Lindner: Das Bundesministerium der Finanzen hat faszinierende Möglichkeiten. Natürlich ist das eine reizvolle Aufgabe für jeden, der Freude an politischer Gestaltung hat. Es geht aber nicht um mich und auch nicht um die FDP, sondern um die Bildung einer Regierung, die gut für das Land ist. Und da muss jeder den Platz einnehmen, an dem er am besten wirken kann.

Frage: Können Sie sich Cem Özdemir als Chefdiplomaten der Bundesrepublik vorstellen?

Lindner: Ich habe eine große Vorstellungskraft. Die Frage ist aber, welche Politik Cem Özdemir machen würde. Ich begrüße manches, was er über Herrn Erdogan gesagt hat. Aber nicht alles, was er zu unserem Verhältnis zu Russland sagt. Da ist er, wie ich finde, zu inkonsequent. Einerseits werden die Völkerrechtsbrüche Russlands thematisiert, andererseits fehlen Dialogangebote an Putin, um eine Eskalationsspirale zu verhindern.

Frage: Wenn Sie in die nächste Legislaturperiode blicken, erwarten Sie, dass Angela Merkel wirklich vorhat, über die volle Distanz zu gehen?

Lindner: Das ist schwer zu sagen. Ich erwarte, dass in der CDU in den nächsten vier Jahren eine Debatte über die Nachfolge von Angela Merkel eröffnet wird. Es hat ja einen deutlich spürbaren Autoritätsverlust nach der Bundestagswahl gegeben. Alle werden sich dort jetzt fragen: Wie geht es weiter? Ich traue ihr zu, dass sie ihre politische Nachfolge selbst regeln will und dass sie sich nicht auf eine Zermürbungstaktik einlässt.

Frage: Mit Zermürbung kennen Sie sich ja aus. Sie haben Ihre Erlebnisse der letzten vier Jahre jetzt in dem Buch „Schattenjahre“ zusammengefasst. Es beginnt mit dem Abend der Wahlniederlage 2013. Was hätten Sie gemacht, wenn die FDP in diesem Jahr wieder an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert wäre?

Lindner: Meine Zeit in der Politik wäre beendet gewesen. Die FDP hätte sich wohl in die Geschichtsbücher abgemeldet. Ein zweiter Anlauf für ein Comeback wäre extrem schwer gewesen. Wir hatten das Gefühl von „All-in“, wie man beim Poker sagen würde.

Frage: Der rote Faden der Kapitel sind die Umfragezahlen der letzten Jahre. Es gab einen Moment der Nahtoderfahrung, als die FDP von den Instituten gar nicht mehr als eigene Partei ausgewiesen, sondern nur noch unter „Sonstige“ geführt wurde. War das der Punkt, als Sie glaubten: Das kriege ich nicht mehr rumgerissen?

Lindner: Nein, ich war immer sicher, dass wir es schaffen. Aber den Herbst 2014 beschreibe ich als die kritischste Phase. Nach weiteren Wahlniederlagen in den Ländern wuchs die Ungeduld in der Partei. Und in der Öffentlichkeit war die Häme von Desinteresse abgelöst worden. Wir hatten uns entschieden, die Freien Demokraten von innen nach außen aufzubauen. Wir haben nicht gefragt, wie kommen wir wieder in den Bundestag, sondern, warum gibt es uns überhaupt. Es war eine Wette auf Nervenstärke.

Frage: Warum dauerte der Prozess so lange?

Lindner: Nach einer solch existenziellen Niederlage mussten wir uns zunächst selbst eine Antwort darauf geben, was unsere politische Mission ist – kurz gesagt: den einzelnen Menschen groß machen und nicht den Staat. Wir wollten neue Projekte definieren, etwa Bildung und Digitalisierung in den Vordergrund rücken, und uns von der eigenen Ängstlichkeit befreien. Ein solcher Prozess braucht seine Zeit. Anfang 2015 war das Zieldatum, die Wahl in Hamburg der Testlauf. Wäre die in die Hose gegangen, dann wäre der Bundesparteitag 2015 ein Scherbengericht geworden.

Frage: Das Jahr 2015 war geprägt von der Flüchtlingskrise und dem Aufstieg der AfD. Sie hätten umschwenken können auf deren harte, aber populäre Positionen. War das eine Versuchung?

Lindner: Nein, ganz im Gegenteil. Die Abschottungspolitik der AfD und deren völkische Reinheitsfantasien widersprechen unseren Überzeugungen. Die wortwörtlich grenzenlose Aufnahmebereitschaft von CDU, SPD und Grünen habe ich aber als unverantwortlich empfunden. Freien Demokraten eine Position eingenommen, die ich vernünftige Mitte nenne. Deutschland braucht eine strategische Einwanderungspolitik, die unsere humanitären Verpflichtungen mit den Interessen unseres Landes verbindet. Wir brauchen einen europäischen Grenzschutz und Verfahren, die im Falle eines Massenzustroms funktionieren. Und diese Forderung ist aktueller denn je.

Frage: Wird es eine neue Regierung nur mit einem Einwanderungsgesetz geben?

Lindner: Ein Einwanderungsgesetz ist für uns eine Koalitionsbedingung. Es wird bei qualifizierten Zuwanderern viel kontingentiert und kontrolliert, während es bei Flüchtlingen nahezu keine Hürde gab. Das wollen wir umkehren. Es muss klar zwischen Asylberechtigten, Flüchtlingen und qualifizierten Fachkräften unterschieden werden. Bei Flüchtlingen ist das Ziel nicht die Integration, sondern die Förderung, damit diese Menschen dereinst ihre alte Heimat wieder aufbauen können. Illegale müssen wir schneller als bisher ausweisen.

Frage: Glauben Sie, dass der CDU/CSU-Kompromiss in der Frage der richtige Weg ist?

Lindner: Es ist vor allem ein Zeichen, dass sich Frau Merkel bewegt. Es ist aber noch nicht der große Wurf. Es fehlt mir ein eigener Rechtsstatus für Flüchtlinge, damit die langen Asylverfahren abgekürzt werden können. Beim Zugang zum Arbeitsmarkt muss man sich stärker an Kanada orientieren. Und es muss möglich sein, dass ein Flüchtling sozusagen die Spur wechselt, um sich nach dem vorübergehenden humanitären Schutz um dauerhaften Aufenthalt zu bewerben. Mir ist aber ein Rätsel, wie CSU und Grüne in der Zuwanderungspolitik auf einen Nenner kommen sollen.

Frage: Sie beschreiben in Ihrem Buch eine konzeptionelle Erschöpfung in der FDP, die es schon 1994 gegeben hat. Wo stand sie denn wirklich 2013?

Lindner: Konzeptionell erschöpft war die FDP 1994. Im Jahr 2013 lagen die Dinge anders. Wir hatten Konzepte, die aber nicht umgesetzt wurden. Wir waren angepasst und ängstlich. Das Auftreten und die Themen entsprachen nicht einem liberalen, optimistischen Lebensgefühl. Deshalb haben wir auch keinen Magnetismus entfaltet. Wir mussten die FDP von den Trümmerteilen befreien, die auf ihr lagen. Auf einem Trümmerteil stand: „FDP wählen, damit Angela Merkel Kanzlerin bleibt.“ Dieser Satz hatte uns im Bundestagswahlkampf die Selbstachtung genommen.

Frage: Was war der Tiefpunkt?

Lindner: Besonders trostlos war das Dreikönigstreffen Anfang 2014. Traditionell kommen die Sternsinger zur FDP. In jenem Jahr kamen sie nicht, weil die zuständige Gemeinde davon ausging, uns gäbe es nicht mehr. Also warteten wir zu Beginn der Veranstaltung vergeblich auf den Segen. Auch meine Rede zündete nicht. Kurz vor Weihnachten 2013 hatte ich auf dem Bundesparteitag meine programmatische Antrittsrede gehalten, Neues gab es noch nicht zu berichten. Alle gähnten.

Frage: Ohne das Scheitern wären Sie doch gar nicht so weit gekommen. Ihre sogenannte Wutrede im Landtag von Nordrhein-Westfalen 2015 über das Thema zweite Chance war der eigentliche Wendepunkt nach der Wahlniederlage.

Lindner: Es war eine emotionale Schubumkehr, ja. Die war aber nicht geplant, sondern hat sich ergeben. Für mich persönlich war es ein befreiender Moment, weil ich mich von der Scham gelöst habe, nicht nur wirtschaftlich erfolgreich gewesen zu sein, sondern auch ein Projekt in den Sand gesetzt zu haben.

Frage: Und es wurde ein Youtube-Hit. Junge Leute wurden auf Sie aufmerksam, die Scheitern nicht mehr als Makel, sondern als Chance erkannten, und Sie waren plötzlich deren Leitfigur. War das der Durchbruch?

Lindner: Die Leute nahmen die FDP zumindest jetzt anders wahr. Weil wir selbst mit Spott und Häme konfrontiert waren, nahm man uns den Einsatz für zweite Chancen ab.

Frage: Sie zitieren den amerikanischen Sozialwissenschaftler Richard Florida und leiten aus dessen Studien Ihr Programm für Deutschland ab: Technologie, Toleranz, Talent. Ist das Ihre Unterzeile zur Deutschlandflagge?

Lindner: Das wäre ein großartiges Programm. Es hieße, sich zu öffnen für Innovation. Die Vernunft von Wissenschaftlern und Ingenieuren zu nutzen, statt Fragen ideologisch zu beantworten. Es hieße, in Qualifikation zu investieren und aus der Welt kluge Köpfe zu uns einzuladen. Und auf die Vielfalt der Gesellschaft, die größer wird, wenn Individuen sich frei entfalten, mit Toleranz zu antworten. Übrigens verstehe ich unter Toleranz nicht ein teilnahmsloses Nebeneinander, sondern das aktive Eintreten für die liberalen Werte unserer Verfassung. Wenn es kulturell und religiös bunter in Deutschland wird, muss man umso mehr die eigene Identität herausstellen. Die hat für mich nichts mit Sauerkraut, Oktoberfest und Weihnachtsbaum zu tun, sondern mit Freiheit und Würde des Einzelnen, Religionsfreiheit, Gleichberechtigung der Geschlechter. Darauf kann es keinen Rabatt geben.

Frage: Die Koalitionsverhandlungen 2009 beschreiben Sie als Anfang einer Entwicklung, die am Ende zur Wahlniederlage 2013 geführt hat. Jetzt steht die FDP wieder an demselben Punkt. Welche Lehren haben Sie gezogen?

Lindner: In einem Regierungsprogramm müssen die Akzente erscheinen, für die man vor der Wahl geworben hat. Die Vorhaben müssen präzise beschrieben sein. Prüfaufträge reichen nicht. Das ist nur „aus den Augen, aus dem Sinn“. Und eine Partei sollte auch personell für die Projekte Verantwortung übernehmen, die ihr wichtig sind. Aber bitte keine weiteren Fragen, was das jetzt konkret für Ressorts bedeutet.

Frage: Das Wort Finanzministerium erwähnen Sie in Ihrem Buch sehr häufig. Sie schreiben, dass es 2009 ein kapitaler Fehler war, das Ressort nicht beansprucht zu haben.

Lindner: Für 2009 trifft das ohne Weiteres zu. Wir waren sehr verengt auf das Thema Steuern. Und wenn man dann das zuständige Ressort nicht führt, kann man die eigene Agenda nicht umsetzen. 2017 liegt die Sache anders. Auf unseren Wahlplakaten stand: „Bildung ist die Supermacht des 21. Jahrhunderts.“ Wir haben zwar auch Finanzfragen angesprochen, aber heute ist die FDP keine Ein-Themen-Partei mehr.

Frage: Sie haben im Wahlkampf auch die Digitalisierung thematisiert. Deutschlandweit würde ein Glasfasernetz circa 80 Milliarden Euro kosten, schätzen Experten. Ist das nicht eine angemessene Investition?

Lindner: Ja. Wir müssen aufpassen, dass wir bei der digitalen Infrastruktur nicht Nordkorea ähnlicher werden als Südkorea. Ich schlage vor, dass der Staat seine verbliebenen Aktien von Telekom, Post und Commerzbank verkauft. Die Milliardenerlöse sollten aber nicht in den Bundeshaushalt fließen, sondern in einen Investitionsfonds, aus dem die Digitalisierung der Infrastruktur und der Bildung finanziert wird.

Frage: Braucht Deutschland ein eigenes Ministerium für Digitalisierung?

Lindner: Wenn es nach mir ginge, dann ja. Die Bündelung von Kompetenz bringt nicht nur ein höheres Tempo in die Politik. Ein Bundesminister mit dieser Zuständigkeit wäre vor allem ein Weckruf an Wirtschaft und Gesellschaft, dass wir in der zweiten industriellen Revolution stehen und den Anschluss nicht verpassen dürfen.

Frage: Und welches Ministerium brauchte man nicht mehr?

Lindner: Das Außenministerium und das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit könnten in einem Globalisierungsministerium zusammengefasst werden. Aber die Organisationsentscheidungen werden von der Regierungschefin getroffen.

Frage: Eines der letzten Kapitel heißt „Mitbewerber, keine Feinde“. Darin machen Sie deutlich, dass es im Wählerinteresse ist, sich mit jedem auseinanderzusetzen. Reichen Sie darin den Grünen vorab die Hand?

Lindner: Ich will die Gräben nicht vertiefen. Aber ich argumentiere gegen die gängige Einschätzung, es handle sich im Grunde um zwei liberale Parteien. Trotz der großen Unterschiede im Denken werden wir jetzt ausloten, ob es Schnittmengen gibt. Und ob die Gemeinsamkeiten zwischen Union, Grünen und FDP ausreichen, eine Koalition einzugehen. Wir werden uns nicht in den schwarz-rot-grünen Einheitsbrei von Frau Merkel einrühren lassen, durch den die politische Mitte in Deutschland völlig verwaist war. Für mich ist daher völlig offen, ob die teilweise widersprüchlichen Wähleraufträge der vier Parteien so zu vereinbaren sind, dass es eine neue Politik in Deutschland gibt und dabei trotzdem jeder sein Profil behält.

Frage: Steht nach einer Wahl die staatspolitische Verantwortung nicht über den Parteiinteressen?

Lindner: Es wäre auch staatspolitische Verantwortung zu sagen, wenn eine Überwindung von Unvereinbarkeiten nicht möglich ist, gehen wir in die Opposition. Dann muss die Position der vernünftigen Mitte eben dort sichtbar sein.

Frage: Kommt also das Jamaika-Bündnis?

Lindner: Die Chancen dafür stehen 50 : 50. Es werden spannende Wochen.

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