29.04.2011FDPGesundheitspolitik

LINDNER-Interview für den "Westdeutschen Rundfunk"

Berlin. FDP-Generalsekretär CHRISTIAN LINDNER gab dem "Westdeutschen Rundfunk" (WDR 5, Sendung "Platz der Republik") das folgende Interview, das heute Abend ausgestrahlt wird. Die Fragen stellten GERD DEPENBROCK und JOCHEN ZIERHUT.

Frage: Die FDP sei in der schwersten Krise aller Zeiten, hat Ihr
Ehrenvorsitzender Genscher, diagnostiziert. Wie fühlt sich das denn eigentlich selber an? Hängt Ihnen das nicht manchmal alles zum Hals raus? Ist das nicht eine Belastung, dieser Job?

LINDNER: Ja, natürlich ist das nicht jeden Tag in gleicher Weise amüsant, Generalsekretär der FDP zu sein, aber wir haben eine Verantwortung für diese Partei und für die Geisteshaltung, die sie repräsentiert. Ich bin in den 90er-Jahren zu den Liberalen gekommen, als es schon mal eine tiefe Krise der FDP gab. Die Situation ist nicht ganz vergleichbar mit damals, aber eines habe ich gelernt: Wenn die FDP den Menschen zuhört, sich auf ihre Grundsätze besinnt und dann konsequent im Regierungshandeln arbeitet, dann kann man sich auch wieder Vertrauen erarbeiten; das motiviert mich jetzt, in dieser schwierigen Situation, auch die entsprechende Entschlossenheit für diese Partei und für mich selbst auch dann zu entwickeln.

Frage: Also ein echter FDP ist gestärkt darin, in Existenzangst?

LINDNER: Ja. Otto Graf Lambsdorff hat mal gesagt: FDP ist nichts für Leute mit schwachen Nerven.

Frage: Warum wollten Sie eigentlich nicht selber Parteichef werden?

LINDNER: Wir haben jetzt eine Teamlösung gefunden, die ich viel überzeugender finde. Ich habe weiter eine führende Rolle als Generalsekretär, aber die Aufgabe eines Parteivorsitzenden wäre für mich jetzt nicht infrage gekommen. Schauen Sie, man muss doch realistisch sein. Ich bin 32 Jahre alt, seit kurzem erst in der Bundespolitik tätig, noch unverheiratet, noch kinderlos. Das ist einfach nicht die Lebenssituation, die ein Parteivorsitzender haben muss. Philipp Rösler dagegen, der hat Erfahrung in einem Regierungsamt. Der ist durchsetzungsstark, das hat er bewiesen, und darüber hinaus auch noch eine sympathische Erscheinung. Ich finde, an der Spitze des Teams haben wir damit den richtigen Mann.

Frage: Aber eigentlich konnte sich Philipp Rösler nach eigenem Bekunden das nicht vorstellen, Parteivorsitzender zu werden. Wer hat ihn denn dann endgültig überzeugt?

LINDNER: Ich weiß nicht, wann er das im Einzelnen gesagt haben soll. Richtig ist das trifft auf ihn genauso zu wie auf mich , dass es jetzt kein Lebensplan war, in sehr jungen Jahren so viel Verantwortung in einer schwierigen Lage übernehmen zu müssen. Aber wenn man sich dann dafür entscheidet und das hat er getan , dann hat er nicht nur die volle Unterstützung, sondern das hat er jetzt auch in den letzten Tagen schon bewiesen dann hat er das Engagement und den Willen, das auch zu einem guten Ende zu führen.

Frage: Bleiben wir mal bei Philipp Rösler, ein ganz anderer Typ als Guido Westerwelle, also einer, der nicht polemisiert, nicht draufhaut. Kann so ein freundlicher junger Mann die daniederliegende FDP wieder auf die Füße stellen, und vor allen Dingen: Kann er sich im "Haifischbecken" Koalition durchsetzen?

LINDNER: Ja, die Umkehrfrage muss erlaubt sein: Braucht die FDP in der jetzigen Lage einen Kotzbrocken an der Spitze? Da würde ich sagen: Nein. Die FDP braucht einen durchsetzungsstarken, aber durchaus doch auch sympathischen Mann in der Führung, und den hat sie. Jetzt können Sie sagen: Na ja, ist er vielleicht zu nett? Das glaube ich nicht. Er hat doch schon bewiesen bei der Gesundheitsreform, dass er die Widerstände, die es aus der CSU gab, überwinden konnte. Er hat sich in einem "Haifischbecken" Gesundheitspolitik und das ist nun wirklich das schwerste Politikfeld, das man in Deutschland überhaupt nur haben kann (hat er) sich so bewährt, dass immerhin die konservative "Frankfurter Allgemeine Zeitung" über seine Gesundheitsreform im vergangenen Jahr im Wirtschaftsteil geschrieben hat, es sei ein Einstieg in eine ernstzunehmende Gesundheitsreform. Das hat man lange nicht mehr über Gesundheitspolitik gelesen.

Frage: Ist es irgendwie dieses Softe, das Sympathische das brauchen Sie ja, das sagen alle , aber ist diese Softe auch taktisches Understatement?

LINDNER: Nein. Aber ich bin nicht der Auffassung, dass eine Partei sich fortwährend selbst auf die Brust schlagen muss und dass Politiker Macho-Allüren haben müssen. Man darf einen gemäßigten und respektvollen Ton doch nicht verwechseln mit Laschheit in der Sache. Da kann ich Ihnen mit großer Sicherheit sagen: Auch wenn Philipp Rösler auf mich trifft das in gleicher Weise zu , wenn wir uns darum bemühen, nicht fortwährend schrill zu sein wir sind es auch von Person nicht , dann heißt das doch nicht, dass wir nicht weniger überzeugt wären oder auch nicht weniger entschlossen, nötigenfalls auch Härte zu zeigen, um Widerstände zu überwinden.

Frage: Herr Lindner, nun richtete sich die Kritik aus Ihrer Partei ja nicht nur an die Person Westerwelle, sondern kritisiert wurde auch die Doppelbelastung: Parteichef und Außenminister gleichzeitig, das ginge zulasten der Partei. Warum stimmt dieser Einwand nun bei Philipp Rösler nicht mehr; der ist Gesundheitsminister und Parteivorsitzender auch.

LINDNER: Diesen Einwand habe ich bei Guido Westerwelle auch immer zurückgewiesen, und ich mache ihn mir auch heute nicht mit Blick auf Philipp Rösler zu eigen. Die Bundeskanzlerin ist als Regierungschefin auch CDU-Vorsitzende. Man kann also diese Führungsämter verbinden. Ich glaube sogar, dass es erforderlich ist, dass ein Parteivorsitzender auch in Regierungsverantwortung steht, bei Herrn Seehofer im Übrigen um einen dritten Namen zu nennen auch nicht anders. Nur dann kann eine Partei ja auch die Kraft entwickeln in der Koalition, ihre Anliegen auch durchzusetzen.

Frage: Nun haben Sie vorhin die Vorzüge des Gesundheitsministeriums herausgestellt.

LINDNER: Des Gesundheitsministers.

Frage: Ja, aber auch im Zusammenhang mit dem Ministerium, mit der Gesundheitspolitik, die er machen kann. Aber ist es nicht in Wahrheit vielmehr so, dass Sie das ein bisschen schönreden? Ist es nicht doch ein etwas unpopuläres Ministerium? Wäre es für die Liberalen nicht besser, dass der künftige Vorsitzende dann doch vielleicht ein anderes vorzugsweise das Wirtschaftsministerium führte?

LINDNER: Ich habe eben über den Gesundheitsminister gesprochen, der durchsetzungsstark war in einem von Interessen ja massiv dominierten Feld. Das (Ministerium) Gesundheitsministerium, die gesamte Gesundheitswirtschaft insgesamt ist natürlich sehr kompliziert und natürlich kann man es da nie allen recht machen. Aber ein Parteivorsitzender, der einen Gestaltungsanspruch hat, der muss sich doch nicht aufs Repräsentieren verlegen, sondern der kann doch gerade in einem so zentralen Feld auch dann für die FDP einen Akzent setzen. Ich will es mal so sagen: Wir alle sind von Gesundheitspolitik betroffen als Patienten oder vielleicht auch als Leistungserbringer, als Beschäftigte; das sind viele hunderttausend Menschen. Das ist ein Feld, wo 180, 190 Milliarden Euro jedes Jahr umgesetzt werden, also ein Riesenfeld, das aber auch massiv reformbedürftig ist, im demografischen Wandel finanzierbar bleiben muss und wo wir alle doch das Gefühl haben, dass bei den Qualitäten noch etwas geht. Dafür Verantwortung zu haben und etwas umsetzen zu können, ich empfinde das als ein Privileg. Als Politiker ist man doch nicht in Ämter gewählt, nur um populär zu sein, sondern es geht auch um Gestaltung.

Frage: Aber im Moment lässt die eigene FDP-Fraktion den Gesundheitsminister aus der FDP beim Thema "Ärzteversorgung auf dem Lande" im Regen stehen. Er kann nicht das durchsetzen, was er mit den anderen vereinbart hat.

LINDNER: Das sind jetzt Beratungen über Einzelfragen, und wir stehen dort ja in der Koalition und auch in möglichen Gesetzgebungsverfahren erst am Anfang. Dass da unterschiedliche Dinge miteinander noch abgeglichen werden, ist normal. Daraus können Sie nicht schließen, dass er nicht über Durchsetzungsfähigkeit verfügt. Er ist dialogbereit und muss sich natürlich in der Sachdebatte auch mit Argumenten auseinandersetzen. Die Zeit der Basta-Politik ist vorbei; in der FDP hat sie es auch nie gegeben, und es wäre auch kein guter Rat, sie jetzt wieder einzuführen, zum Beispiel bei so einem Thema.

Frage: Schönes Stichwort: Basta-Politik. Philipp Rösler beanspruchte gleich nach der Bekanntgabe seiner Kandidatur den Posten des Vizekanzlers und auch die Richtlinienkompetenz gegenüber allen FDP-Ministern im Kabinett; so richtig gibt"s das ja offiziell nicht. Aber das klingt doch auch ein bisschen nach Basta!. Also ist das irgendwie auch ein vorbeugendes Signal an alle Westerwelle- und Brüderle-Kritiker, jetzt mal zu sagen Tenor : Ich werde ich, Rösler die schon im Zaum halten?

LINDNER: Das würde ich so nicht interpretieren. Das ist eine Selbstverständlichkeit, dass der Parteivorsitzende, wenn er im Kabinett ist, auch Vizekanzler ist, und dass der Parteivorsitzende und Vizekanzler auch die politische Verantwortung für die FDP insgesamt trägt. Dafür wählt man ja einen Vorsitzenden und vertraut ihm auch die Geschicke der Partei an, und darauf hat er aufmerksam gemacht. Er ist also kein freundliches Gesicht für die FDP, sondern der neue Vorsitzende mit einem Führungsanspruch. Das hat er hier unterstrichen, und das unterstütze ich auch in der Formulierung, wie er das gesagt hat.

Frage: Herr Lindner, wie geht"s denn nun weiter mit der personellen Aufstellung der FDP? Am kommenden Montag ist ein Treffen des Parteipräsidiums mit den Landeschefs und dem Bundesvorstand angesetzt. Dort will Rösler sein Wunschteam bekannt geben. Ist das richtig so?

LINDNER: Ja. Wir werden am kommenden Montag über weitere Kandidaturen sprechen, und ich sehe, dass es dort dann schon ein Tableau auch für das Präsidium insgesamt gibt.

Frage: Und wie wird das Wunschteam aussehen? Wer kandidiert für die Posten der stellvertretenden Parteivorsitzenden? Zwei Posten werden ja auf jeden Fall vakant. Andreas Pinkwart und Cornelia Pieper kandidieren ja nicht mehr. Dafür müssen andere nachrücken.

LINDNER: Ja, wie wir gerade schon festgestellt haben: Am Montag will der Parteivorsitzende das sagen, und zur Stunde werden noch Gespräche geführt über dieses Personaltableau, und Sie werden Verständnis haben, dass ich ihm zur Stunde nicht vorgreifen kann, weil noch Gespräche geführt werden, und im Übrigen ja auch nicht will und sollte.

Frage: Sie setzen also auf ein geordnetes Verfahren. Aber könnte nicht die Eigendynamik eines Parteitages besonders starke Turbolenzen oder vielleicht sogar auch insgeheim gewünschte Personalrochaden verursachen?

LINDNER: In einem Parteitag steckt man nicht drin. Der hat in der Tat Eigendynamiken. Aber wenn das Angebot in personeller und in politisch-programmatischer Hinsicht überzeugend ist in dieser schwierigen Lage, ein Weg sichtbar wird zu einer stabileren FDP, wie wir uns wieder Vertrauen erarbeiten können, dann habe ich ein gutes Gefühl mit Blick auf den Bundesparteitag, aber das müssen wir uns noch erarbeiten.

Frage: Gehen Sie denn davon aus, dass die personelle Erneuerung auf dem Parteitag in Rostock abgeschlossen wird und sich nicht noch weiter ins Jahr hineinzieht? Denn eine solche Dauerdiskussion werden Sie sicherlich nicht gut gebrauchen können, und sie würde ja auch nicht nur die FDP, sondern auch die Koalition belasten.

LINDNER: Mit dem Bundesparteitag müssen die Personaldiskussionen, auch gelegentlich geführte und in die FDP hineingetragene Kursdebatten enden. Der Bundesparteitag muss der Punkt sein, ab dem wir uns wieder nach draußen wenden, arbeiten an Sachfragen und uns nicht selber behelligen und beschäftigen lassen mit Personaldiskussionen, die am Ende, wenn man sie nicht auflöst, ja nur zerstörerisch sind.

Frage: Das sagen Sie ja immer, Herr Lindner, aber es muss ja bestimmte Vorstellungen geben. Also Sie selber haben im Brief an Ihre Parteimitglieder ja geschrieben, dass Westerwelle weiterhin eine wichtige Führungsposition haben wird. Also gehört Westerwelle ins Präsidium.

LINDNER: Ja, als Bundesminister ist er automatisch qua Amt Mitglied des Bundespräsidiums. Das betrifft alle Bundesminister. Die gehören automatisch der engeren Parteiführung mit an, und wir haben auch, um das gleich abzuschließen, Herr Zierhut, wir haben auch hier eine gemeinsame Sitzung des Bundesvorstands und unserer Bundestagsfraktion gehabt. Und in diesem Kreis der weiteren Führungskräfte das ist ein Kreis von 130 Leuten gab es keine Anmeldungen, was jetzt Kabinettsmitglieder angeht, dort eine kritische Aussprache oder eine neue Entscheidung herbeizuführen.

Frage: Ja. Man hörte, dass es so gewesen sei, dass Westerwelle per Akklamation sich sozusagen hat versichern lassen, dass er Minister bleiben wird bis Ende der Legislaturperiode. War das ein bisschen voreilig? Wird das halten?

LINDNER: Es war ein informelles Stimmungsbild. Es hat also keinen bindenden Charakter gehabt, aber eben doch ein Stimmungsbild. Ich kann das ja nur so darstellen, wie das in den Gremien diskutiert worden ist, und ich sehe jetzt, dass der neue, designierte Parteivorsitzende, Philipp Rösler, ja auch etwas zur Aufstellung der FDP im Bundeskabinett gesagt hat. Und damit ist für mich persönlich das Thema auch bearbeitet.

Frage: Nun gab es ja noch viel heftigere Angriffe, persönliche gegen Guido Westerwelle. Also vom Igitt-Faktor war sogar die Rede.

LINDNER: Dafür hat sich der Kollege, der diesen Ausdruck gebraucht hat, aber ausdrücklich entschuldigt.

Frage: Gut. Das passiert ja gerne mal, dass man erstmal heftig zuschlägt und sich dann entschuldigt, aber es ist in der Welt. Die Entschuldigung ist ja okay. Aber es gibt auch andere Dinge, die passiert sind, sodass Ihr Vorgänger als Generalsekretär, Dirk Niebel, kritisiert hat, Guido Westerwelle wurde weidwund geschossen. Stimmen Sie Niebel zu, wenn er sagt, mit diesem Stil hat sich die FDP keine Freunde gemacht, auch bei den Wählern?

LINDNER: Diejenigen, die sich so geäußert haben Sie haben ja ein Beispiel gerade selber genannt , die haben sich nicht nur keine Freunde bei den Wählern gemacht, sondern die haben auch menschlichen Anstand einfach vermissen lassen. Wir haben das in der Führung der Partei anders gehandhabt. Wir sind da respektvoll, anständig miteinander umgegangen, weil das auch das Bild ist, das wir vermitteln wollen.

Frage: Ihre Partei, Herr Lindner, hat Wahlen vor sich, die nicht so sehr erfolgversprechend sind für die FDP. In Bremen, in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin sind die Aussichten für die FDP zurzeit nicht rosig. Eher muss sie sich Sorgen machen, die 5-Prozent-Hürde zu verfehlen. Es geht also ums Überleben. Nur mit kleineren Veränderungen beim Spitzenpersonal können Sie das verlorene Vertrauen ja nicht zurückgewinnen.

LINDNER: Nein. Deshalb sollten wir auch über Themen sprechen, die den Menschen auf den Nägeln brennen und wo sich die Frage stellt: Welche Antwort hat die FDP, und wie unterscheidet sich die FDP von anderen Parteien? Und das ist auch aus meiner Sicht das Erfolgsrezept für die Zukunft. Wir müssen verdeutlichen, warum es die FDP in Parlamenten und in Regierungsverantwortung braucht, warum es im Alltag einen Unterschied macht, dass es eine liberale Partei gibt. Und da müssen wir unser Themenprofil wieder herausarbeiten, denn die gegenwärtige Vertrauenskrise meiner Partei hängt doch nicht damit zusammen, dass die Wähler der Bundestagswahl jetzt plötzlich ihre persönlichen Wertüberzeugungen alle über Bord geworfen hätten. Die uns gewählt haben, sind doch immer noch für Marktwirtschaft und Leistungsorientierung, denken dabei an das Ganze, die wollen immer noch Fairness und Solidarität, aber nicht Gleichmacherei. Die haben auch soziale und ökologische Verantwortung, werden darüber aber nicht staatsgläubig. Die vermissen nur, dass die FDP dieses politische Profil Marktwirtschaft, Rechtsstaat, gesellschaftspolitische Liberalität auch im Regierungshandeln als erkennbaren roten Faden hat, und daran ist zu arbeiten, damit die FDP auch wieder Vertrauen gewinnt.

Frage: Was heißt denn "mehr auf Alltagssorgen der Menschen achten" so hat es Philipp Rösler gesagt oder auf die Lebenswirklichkeit Birgit Homburger. Im Umkehrschluss heißt das doch: Bislang wurde das vernachlässigt. Vielleicht liegt‘s auch daran, dass Sie so schlechte Wahl- und Umfrageergebnisse haben.

LINDNER: Wir wollen, dass unsere Politik im Alltag einen Unterschied macht. Es waren hohe Erwartungen an die FDP geknüpft worden bei unserer Wahl, und wir stellen heute fest und auch die, die uns unterstützt haben, stellen fest : Mensch, die FDP - über eineinhalb Jahre in Regierungsverantwortung, und wir haben immer noch Probleme, die uns im Alltag beschäftigen! - Ich nenne einmal die Beispiele, dass man immer noch Sorgen hat, wenn Großmutter, Großvater pflegebedürftig wird. Stimmt dann die Qualität, können wir uns das als Familie leisten? - Es gibt immer noch das Problem, dass Sonntage zugebracht werden müssen mit der Erarbeitung der eigenen Steuererklärung, weil die noch nicht hinreichend einfach geworden ist. Menschen sorgen sich immer noch beim Umzug über die Grenzen von Bundesländern, ob die Kinder dann auch in der Schule tatsächlich schnell genug auch sich akklimatisieren können, weil die Bildungsstandards nicht vergleichbar sind. Und das bedeutet, sich Alltagsproblemen zuwenden, zu erkennen, wo gibt es Probleme, und dann konkrete politische Vorschläge zu unterbreiten, diese Probleme zu lösen. Und das tun wir, das machen wir: Pflegereform um jetzt nur bei den drei Beispielen zu bleiben (Pflegereform) erarbeitet Philipp Rösler, da gibt es ja seit einigen Monaten einen Pflegedialog, Steuervereinfachung wird ein Thema der nächsten Monate ebenfalls sein. Wir wollen im Grunde in jedem Jahr jetzt ein Gesetz zur Steuervereinfachung haben, damit wir am Ende der Legislaturperiode insgesamt da Bürokratie abgebaut haben. Und nicht zuletzt werden wir uns auf dem Bundesparteitag ja neu mit der Bildungspolitik beschäftigen, und ein großes entscheidendes Thema wird dort sein: Wie setzen wir vergleichbare Bildungsstandards zwischen den Bundesländern besser um? Die Kultusministerkonferenz hat das in ihrer bestehenden Form in der Vergangenheit ja ganz offensichtlich nicht vermocht, muss also ersetzt werden durch ein anderes Instrument. Darüber werden wir auf dem Parteitag beraten; das heißt, sich mit Alltagssorgen auseinandersetzen.

Frage: Nun gibt es ja auch das Stichwort -ausgegeben -: "neu nachdenken". "Neu denken" heißt es zum Beispiel auch in der Energie- und Atompolitik. Aber vielen Ihrer Mitglieder wurde schwindelig bei Ihrer Kurskorrektur.

LINDNER: Nein. Wenn Sie sich die Ergebnisse der letzten Landesparteitage, die es gegeben hat in Hessen, in Niedersachsen, in Bayern ansehen, die energiepolitische Beschlüsse gefasst haben, dann gehen die alle in dieselbe Richtung, und so wird auch der Bundesparteitag votieren. Wir wollen schneller als bisher geplant auf die Kernenergie in Deutschland verzichten. Aber: Wir wollen, dass diese auch beschleunigte Energiewende eben doch rational und auch machbar bleibt. Wir können ja nicht deutsche Kernkraftwerke, die im Übrigen ja sicherer sind als die in anderen europäischen Partnerländern, die können wir ja nicht abschalten und dann, wie gegenwärtig, schmutzigen Strom aus dem Ausland importieren. Deshalb Ja zu einer Energiewende. Wir korrigieren uns. Wir wollen schneller raus aus der Kernenergie, als wir es bisher geplant haben.

LINDNER: "Energiewende" bedeutet für uns nicht "sofort raus" das ist der große Unterschied zur anderen Parteien , sondern wir wollen eine Brücke tatsächlich bauen, die Energieversorgung wirtschaftlich, versorgungssicher und klimaverträglich hält, und deshalb werden wir auch im nächsten Jahrzehnt in Deutschland noch einige Kernkraftanlagen haben.

Frage: Fast zum Schluss unseres Gesprächs würde ich doch noch gerne wissen: Was ist "mitfühlender Liberalismus"? Von dem sprechen Sie, Philipp Rösler und Daniel Bahr, der NRW-Vorsitzende, ja schon lange und gerne. Kann ich mir darunter vorstellen, dass Sie vielleicht doch in Zukunft einen Mindestlohn akzeptieren würden, damit sich Menschen nicht für 5 Euro arm arbeiten? Ist das sozialer? Ist das eine sozialere FDP dann?

LINDNER: Unter diesem Begriff des sogenannten mitfühlenden Liberalismus wird oft missverstanden, es ginge jetzt darum, die FDP linker zu machen oder sozialdemokratischer. Dabei habe ich, als ich den Begriff zum ersten Mal verwendet habe Anfang 2010, damit nur an den großen liberalen Denker Adam Smith erinnern wollen. Der hat nämlich zwei Säulen seiner liberalen Philosophie gehabt einer der Klassiker des Liberalismus. Die erste Säule kennt man: die unsichtbare Hand des Marktes, also das Vertrauen darauf, dass Menschen, die dezentral in eigener Verantwortung miteinander in Kooperation stehen, dass die wie von unsichtbarer Hand geformt, plötzlich Gemeinwohl schaffen, Wohlstand schaffen. Das ist die eine Seite des Liberalismus, also das Vertrauen darauf, dass, wenn die Regeln stimmen, die Menschen selbst in eigener Verantwortung ihr Leben gestalten können und Gutes dabei hervorbringen.

Aber selbst Adam Smith hatte eine andere, zweite Säule, nämlich eine Moralphilosohpie, die auf Empathie oder Sympathie oder eben Mitgefühl gebaut hat. Es kann einem also nicht vollständig egal sein, was die Ergebnisse des Marktprozesses dann sind, sondern es gibt Situationen, wo man einschreiten muss, weil zum Beispiel faire Zugangschancen zu Bildung und Arbeit nicht bestehen, weil das Bildungssystem wie in Deutschland so stark an die Herkunft gebunden ist, dass man nicht allen Ernstes sagen kann, ein junges Mädchen, Türkin aus Köln-Chorweiler hätte die gleichen Chancen wie ein junger Mann aus Köln-Rodenkirchen. Und da setzt nun dieser neue Akzent an. Ich bin konsequent für den Markt, für die offene Gesellschaft, in der jeder das aus seinen Anlagen machen können soll, was er oder sie will. Aber dafür braucht der Einzelne auch teilweise Unterstützung durch einen aufstiegsorientierten Sozialstaat, der die Menschen nicht mit Taschengeld, Hartz IV abspeist, sondern Arbeit attraktiv macht durch ein Bildungssystem, das nicht Leistung ausschließt, aber eben darauf setzt, dass jeder eine Chance bekommt, zum Beispiel durch vorschulische Sprachförderung und andere Maßnahmen mehr. insofern eine Erinnerung an klassischen Liberalismus, der immer die beiden Säulen hatte.

Frage: Rübergekommen ist davon aber immer, dass die FDP kaltherzig ist.

LINDNER: Ja. Mit dem Begriff des "mitfühlenden Liberalismus" will ich eben veranschaulichen, dass wir es nicht sind, aber unter Warmherzigkeit verstehen wir nicht, einfach die Umverteilungsmargen der Gesellschaft zu erhöhen, den Sozialstaat auszudehnen und im Bildungssystem auf Gleichheit zu setzen, sondern unser Begriff von Mitgefühl oder von Solidarität oder sozialer Verantwortung, sozialer Gerechtigkeit heißt eben, den Menschen eine Chance zu geben, etwas aus dem eigenen Leben zu machen, ihn aber nicht von der Verantwortung zu entlasten, es auch zu tun, denn Chancen sind keine Garantien. Die setzen eigene Anstrengungen und Leistung immer voraus.

Frage: Was wird nach dem Parteitag Mitte Mai besser sein für die FDP, besser laufen?

LINDNER: Wir haben ein neues Team, das engagiert arbeiten wird an unserer Programmatik und im Regierungshandeln Akzente setzen will. Da müssen wir auch gelegentlich vielleicht gegenüber der Union mehr Durchsetzungskraft zeigen.

Frage: Also es wird mehr Streit geben in der Koalition?

LINDNER: Nicht mehr Streit, aber die wesentlichen Punkte können wir uns nicht aus der Hand nehmen lassen. Im Übrigen liegt"s auch im gemeinsamen Interesse der Koalition, dass Angela Merkel nicht als Moderationskanzlerin in die Geschichte eingeht, sondern als Reformkanzlerin. Wenn wir sie dabei unterstützen können, wollen wir das gerne tun.

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