19.02.2011FDP, FDP-FraktionEU-Politik

LINDNER-Interview für "Deutschlandradio Kultur" (Tacheles)

LINDNER-Interview für "Deutschlandradio Kultur" (Tacheles)

Berlin. FDP-Generalsekretär CHRISTIAN LINDNER gab dem "Deutschlandradio Kultur" (Tacheles) heute das folgende Interview. Die Fragen stellten KORBINIAN FRENZEL und ULRICH ZIEGLER:
Frage: Herr Lindner, wenn Sie morgen auf Bundesebene noch einmal Koalitionsverhandlungen führen könnten, was wäre das zentrale Projekt der FDP?

LINDNER: Natürlich die Konsolidierung des Haushalts. Wir müssen schneller raus aus den Schulden als wir das damals gesehen haben. Deshalb haben sich ja auch die Prioritäten der Koalition verändert. Die Griechen halten uns den Spiegel vor. Und wer eine stabile Währung will, wer auch im Übrigen den fokussierten, handlungsfähigen Staat will, der muss jetzt damit anfangen die Neuverschuldung zu reduzieren. Da haben wir auch schon Fortschritte gemacht. Das gehört zusammen. Erst eine Politik der Haushaltsdisziplin schafft ja die Freiräume, um dann auch eine Entlastungspolitik zu organisieren. Ich denke, dass ein Schritt, wie wir ihn zu Beginn des Jahres 2010 gemacht haben, in jedem Fall erforderlich war und auch bei einer Neuauflage, könnte man die Zeit zurückdrehen, wieder auch beschlossen werden würde. Denken Sie daran, dass wir mit 4,6 Mrd. Euro Familien entlastet haben und dass wir insbesondere etwas für den wirtschaftlichen Mittelstand auf den Weg gebracht haben, dadurch auch ganz gut durch die Krise gefunden hat.

Frage: Bevor wir darauf schauen, vielleicht einfach noch mal die Frage nach dem Label. Würden Sie sich das Label "geistig-politische Wende" noch einmal geben?

LINDNER: Ach, was heißt Label und einzelne Formulierungen aus der Vergangenheit jetzt noch mal zu bemühen? Das hilft uns für den Blick nach vorne nicht weiter. Aber eine Politik anders zu formulieren, die jetzt stärker auf die Möglichkeiten des Einzelnen setzt, die der Freiheit Vorrang geben will vor Umverteilungspolitiken, wenn das mit geistig-politischer Wende gemeint ist, also eine Rückkehr zur sozialen Marktwirtschaft, die eben aus dem Solidar- und dem Leistungsprinzip besteht und sich nicht gegeneinander aufheben will, dann ist das nach wie vor eine Überschrift für diese Koalition.

Frage: Trotzdem gibt es einen großen Widerspruch. Sie können nicht gleichzeitig konsolidieren und andererseits sagen, ja, wir wollen aber auch Entlastung auf allen Ebenen.

LINDNER: Doch, das funktioniert. Wir haben ja jetzt eine mittelfristige Finanzplanung auf den Weg gebracht, die dafür den Rahmen bietet. Bis zum Jahr 2013 wird diese Koalition nach heutigem Stand insgesamt 80 Mrd. Euro weniger Schulden machen als noch von der Großen Koalition geplant. Und wenn es uns gelingt noch ehrgeiziger zu werden, also noch weitere Möglichkeiten zu finden, und das deutet sich jetzt an mit dem Ausstieg aus dem Raketenabwehrprogramm Meads beispielsweise, das die FDP lange gefordert hat, dann wachsen uns auch neue weitere Möglichkeiten zu für eine Entlastungspolitik. Aber die Prioritätenfolge muss eben klar sein. Die Prioritätenfolge ist: Nachdem es einen ersten Entlastungsschritt gegeben hat, haben wir jetzt die Priorität der Haushaltskonsolidierung, raus aus den Schulen. Und in Abhängigkeit vom Erfolg dieser Politik gibt es weitere Entlastungsspielräume.

Frage: Herr Lindner, wenn Ihr Parteifreund Wolfgang Kubicki davon spricht, dass die Liberalen vor einem "Scherbenhaufen" stehen, wie kommt er denn darauf? Er fordert einen klaren Kurswechsel, eine offene Debatte. Ist das alles Unsinn?

LINDNER: Das sind ja nun ältere Zitate von Wolfgang Kubicki. Und mein Eindruck ist, dass sich im Jahr 2010 eine Menge getan hat, dass wir dort - natürlich nach offensichtlichen Startschwierigkeiten - einen politischen Kurs mit klaren Prioritäten gefunden haben. Wir sind in einer Bewährungsprobe, weil es auch Enttäuschungen gegeben hat. Manche haben gehofft, dass die FDP schnell tief greifende Reformen auf den Weg bringen könnte in einer geschlossen agierenden Koalition. Die Erwartungen sind enttäuscht worden.
Und dann braucht es Zeit, bis man sich auch wieder Vertrauen erarbeiten kann. Ich sehe nur nicht, dass es eine überzeugende politische Alternative gäbe. Nehmen Sie unsere Wettbewerber von Sozialdemokraten, Grünen, Linkspartei, die in unterschiedlicher Ausprägung zum Teil massiv die Steuern erhöhen wollen. Die Grünen wollen einen qualifizierten Facharbeiter, der noch nach Tarif entlohnt wird, wenn man etwa die baden-württembergischen Abschlüsse der IG Metall sieht, mit der Reichensteuer belegen und andererseits machen sie keine Vorschläge zur Haushaltskonsolidierung, sondern verwenden das Geld dann, um etwa Hartz IV auf 420 Euro anheben zu wollen. Also, da gibt"s keine Alternative zu. Und deshalb sind wir gut aufgestellt. Deshalb haben wir auch die Möglichkeit uns wieder Vertrauen weiter zu erarbeiten, wie man vielleicht auch morgen schon sehen wird.

Frage: Bleiben wir mal bei Ihnen. Denn unsere These hier ist, und wahrscheinlich nicht nur unsere, dass die FDP nicht geliefert hat, dass die FDP das, was sie versprochen hat, das, womit sie mit einem fast 15-prozentigen Anteil in diese Regierung gegangen ist, sie Aussicht gestellt hat, dass das offenbar nicht eingetreten ist. Nehmen wir einen Fall: Sie haben noch in die Koalitionsvereinbarung reingeschrieben: 24 Mrd. Steuerentlastung bis zum Ende der Wahlperiode. Wird das die geben in dem Volumen? Ja oder nein?

LINDNER: Ich spreche nicht mehr über Termine und Volumina, nachdem wir jetzt eine Euro-Krise haben. Also, ich finde es schon ein bisschen verwegen, wenn man jetzt heute tatsächlich auf der Grundlage der ökonomischen Rahmenbedingungen September/Oktober 2009 nach der Euro-Krise, nach einer verschärften Währungskrise noch mal genau exakt über diese Volumina sprechen würde.

Frage: Ihr Parteifreund Brüderle hat gerade in dieser Woche wieder Volumina in den Raum gestellt.

LINDNER: Ja, die CSU hat auch ein eigenes Programm beschlossen, wo sie exakt 5,6 Mrd. Euro bewegen will. Ich spreche hier für mich und das, was unsere Beschlusslage ist. Die klare Zusage ist: Wir machen deshalb auch eine Haushaltskonsolidierungspolitik, um Entlastung zu organisieren, aber wir werden die Bürger jetzt - und das ist eine Empfehlung an die Koalition insgesamt - nicht jeden Tag wieder neu mit Terminen und Volumenvorstellungen behelligen, sondern erst dann, wenn Pläne konkret sind. Aber einen Satz muss ich, wenn Sie sagen, wir hätten nicht geliefert, schon ergänzen: Nämlich dann auf die Lage insgesamt schauen. Und hier hat der Bund der Steuerzahler errechnet, dass im Vergleich 2009 zu 2011 eine vierköpfige Familie mit Durchschnittseinkommen von 3.500 Euro brutto um 456 Euro entlastet worden ist, und zwar wenn man alles zusammenrechnet. Der größte Anteil ist hier das Kindergeld. Pro Kind steht in einer solchen Familie jetzt ein Betrag von 240 Euro mehr zur Verfügung in der Familienkasse. Sozialdemokratische Politiker wollten im Dezember des vergangenen Jahres das noch um 60 Euro kürzen. Da hätte also jede Familie 120 oder diese spezielle Familie 120 Euro weniger in der Familienkasse gehabt. Also, worauf ich hinaus will, ist: Ja, Sie mögen sagen, das, was bis jetzt an Entlastung erreicht worden ist, könne zu wenig sein. Dafür hätte ich Verständnis. Und ich habe gesagt, wir arbeiten daran, dass wir auch noch einen weiteren Schritt gehen. Aber entscheidend ist doch der politische Vergleich für die Leute. Wollen die anderen denn die Mitte stärker entlasten oder wollen die nicht viel eher belasten? Und genau das kann man nun sehen.

Frage: Also, wenn Sie so erfolgreich waren, dann müssen Sie mir mal erklären, warum dann dieser Vorsprung, den Sie hatten, von 14,6 % irgendwo jetzt zwischen 5 und 7 %, was die Wähleranteile angeht, runter geschmolzen ist. Wenn Sie geliefert haben, dann haben Sie es zumindest nicht richtig kommuniziert. Ist das das Problem?

LINDNER: Ich will mich jetzt nicht über Kommunikationsfragen verheddern. Es sind Fehleinschätzungen auch von uns getroffen worden, dann auch Entscheidungen, die man so heute nicht noch mal treffen würde.

Frage: Was denn?

LINDNER: Ja, beispielsweise ist das sehr gute Wachstumsbeschleunigungsgesetz mit Kindergelderhöhung, mit einer Orientierung auf Familienunternehmen in der öffentlichen Wirkung dadurch ein Stück vergiftet worden, dass die Opposition die Flanke eines einzelnen Mehrwertsteuersatzes gefunden hat. Also, die Reduzierung des Mehrwertsteuersatzes für Beherbergungsgewerbe hätte man nicht trennen dürfen von einer grundlegenden Reform der Mehrwertsteuer.

Frage: Aber Sie sind in der Regierung.

LINDNER: Ja, ich sag ja, man darf doch auch Fehler einräumen. Ich dachte, das sei in der Politik auch ein Zeichen von Charakter, wenn man sagt, dass bestimmte Dinge in der Vergangenheit nicht richtig waren und man sie eben nicht wiederholen würde. Und hier, ich glaube für die Koalition insgesamt sprechen zu können, würden wir gewiss nicht mehr einen einzelnen Mehrwertsteuersatz von einer grundlegenden Mehrwertsteuerreform trennen - ganz abgesehen davon mal, dass der in der Sache vielleicht sogar einiges hat, was für ihn spricht. Das kann man jetzt in Baden-Württemberg und Bayern beobachten im Tourismusgewerbe, dass das eine bessere Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen europäischen Destinationen hat.
Es ist der Eindruck entstanden, die ordnungspolitische Solidität der Koalition würde nicht stimmen, eine einzelne Gruppe würde profitieren. Und gerade für eine liberale, am Gedanken der Ordnungspolitik ja festhaltende Partei, wie die FDP es ist, für eine solche Partei ist das problematisch. Deshalb und wegen solcher Einzelentscheidungen gibt"s einen Vertrauensverlust.
Was die Zahlen Deutschlands insgesamt angeht und die Grundrichtung der Politik angeht, habe ich den sicheren Eindruck, dass wir die Menschen für uns gewinnen können.

Frage: Na dann gucken wir doch noch mal auf die Ordnungspolitik und vielleicht nicht auf Fehler von vor anderthalb Jahren, sondern vom letzten Herbst. Sie wollten Subventionsabbau vorantreiben. Sie wollten die energieintensiven Unternehmen von Steuerbefreiungen etwas wieder rausnehmen. Das hatten Sie angekündigt. Dann gab's den Sturm der Lobby, dann haben Sie es gelassen und Verbrauchssteuern erhöht, nämlich die Tabaksteuer. Das ist doch eigentlich ein ordnungspolitischer Sündenfall für jeden Liberalen.

LINDNER: Wir haben hier die Situation gehabt, dass wir im Sparpaket eine ganze Reihe von Maßnahmen hatten. Da ist eben nicht nur im Bereich von Hartz IV, wie der Eindruck entstanden ist, gekürzt worden, eher nicht, da gibt"s eher mehr Geld jetzt, auch durch die aktuellen Diskussionen, die wir führen, sondern es gab auch einen Vorschlag, bei den energieintensiven Unternehmen zu einer stärkeren Belastung zu kommen. Und wir hatten zugleich den Wunsch, ein erstes Paket zur Steuervereinfachung auf den Weg zu bringen - schon in diesem Jahr.
Und das musste gegenfinanziert werden. Wenn die Erhöhung von Schulden ausgeschlossen ist, muss man andere Wege suchen. Und hier habe ich mit der beschlossenen Vereinbarung kein Problem. Wir haben die Tabaksteuer erhöht. Eine Erhöhung der Tabaksteuer kostet keine wirtschaftliche Dynamik. Bei einer stärkeren Belastung von energieintensiven Betrieben in Deutschland droht aber Arbeitsplatzverlust und Verlust von Wettbewerbsfähigkeit.

Frage: Warum sind Sie denn dann auf die Idee gekommen, das genauso zu machen?

LINDNER: Ja, das ist ein Beratungsprozess. Ich will es noch mal sagen: Tabaksteuer kostet keine Dynamik, sie zu erhöhen. Die Belastung für energieintensive Betriebe, die im Wettbewerb, im internationalen Wettbewerb ja auch stehen, zu erhöhen, kostet Dynamik, kostet Arbeitsplätze. Steuerentlastung schafft Dynamik. Steuervereinfachung schafft Dynamik. Und da war der Beschluss 1 Mrd. Euro, das ist die Tabaksteuererhöhung, so hat Herr Schäuble es etatisiert, 1 Mrd. Euro Verzicht auf Belastung energieintensiver Unternehmer und ihrer Arbeitsplätze und Ermöglichen einer noch bescheidenen, auch nur ersten Steuervereinfachung schon zu Beginn dieses Jahres. Damit kann ich ordnungspolitisch leben. Das kann man argumentieren.

Frage: Aber es bleibt ja der Eindruck, wenn man sich mal die Entscheidungen aus dem Sparpaket anguckt und was davon übrig geblieben ist, bei den Energiekonzernen die Begrenzung der Brennelementesteuer auf sechs Jahre, das wollen Sie eigentlich länger haben, die Sache mit der Tabaksteuer, mit den energieintensiven Unternehmen - man hat dein Eindruck, sobald die Lobby ruft, führt Ihr Beratungsprozess dann zu anderen Ergebnissen.

LINDNER: Nein, kein bisschen. Die Lobby hat auch bei Opel gerufen und sie hat bei Hoch-Tief gerufen. Und hier gab's keine ordnungspolitische Veranlassung dazu. Die Lobby hat gerufen, die verschiedenen zusätzlichen Kreditprogramme, die während der Wirtschaftskrise aufgelegt worden sind, auch über den 31.12. des vergangenen Jahres hin zu verlängern. Das hat Rainer Brüderle auslaufen lassen. Also, man kann es sich nicht so einfach machen. Das ist so ein leichtes Argument, das ist aber unernsthaft. Ich habe Verständnis dafür, dass das in der Vielzahl der Argumente, die man dann prüfen muss, vielleicht nicht immer und für jeden möglich ist, aber das ist ordnungspolitisch sauber begründet. Und ich darf Sie fragen: Was wäre denn gewonnen gewesen? Wir hätten Arbeitsplätze in Deutschland verloren und die Bürgerinnen und Bürger hätten keine, wie gesagt, noch bescheidene erste Steuervereinfachung schon in diesem Jahr erhalten. Wäre das für Millionen Menschen besser gewesen? Ich mache lieber eine Politik, wo Sie versuchen können die als Scheinklientelismus zu bezeichnen. Und trotzdem profitieren Millionen Menschen in Deutschland davon, weil sie einen sichereren Arbeitsplatz haben oder weil ein klein wenig das Verbiegen und Verbeugen vor dem Finanzamt genommen ist.

Frage: Herr Lindner, Sie argumentieren klar und deutlich, die FDP hat eine klare Linie in der Wirtschaftspolitik. Sie arbeiten aber dennoch an einem neuen Parteiprogramm, weil Sie schon mal gesagt haben, die Wiesbadener Grundsätze hätten eine "argumentative Materialermüdung". Also, Sie brauchen doch eine programmatische Erneuerung! Oder wollen Sie einfach so ein bisschen den Lack polieren und dann ist alles gut?

LINDNER: Darum geht"s nicht. Wir stellen uns ernsthaft neue Fragen, die sich uns allen stellen. Zum Beispiel: Welche Auswirkungen hat die Durchdringung unseres Alltags mit elektronischen Medien? Die Frage ist: Welche Konsequenzen hat die Verschiebung von Gewichten in der Weltwirtschaft in den asiatischen Raum? Wie reagieren wir darauf? Wie schaffen wir einen sozialen Zusammenhalt in einer Gesellschaft, die viel bunter werden wird, im Übrigen auch grauer auf der anderen Seite? Menschen mit Migrationshintergrund stellen einen größeren Anteil an der Bevölkerung und gleichzeitig sind wir eine alternde Gesellschaft. Wo sind da die Quellen für sozialen Zusammenhalt? Ein christlich-jüdisches Menschenbild allein kann's nicht sein. Da brauchen wir republikanische Werte. Wie schaffen wir eine Wende in Wirtschaft und Gesellschaft, die uns der Klimawandel abverlangt, ohne dass wir aus dem Klimawandel wieder neuen Einzeldirigismus für das tägliche Leben bekommen? Sie sehen, es ist eine Bandbreite von Fragen.

Frage: Also, im 21. Jahrhundert ankommen und dann auch natürlich die Frage: Was haben eigentlich die Liberalen dann aus der Wirtschafts- und Bankenkrise gelernt? Denn das ist das Thema, das wir zu Beginn dieses neuen Jahrtausends tatsächlich bearbeiten müssen. Und alle Parteien versuchen verstärkt, mit staatlicher Intervention oder stärkeren Rahmenkontrollen gegenüber dem Kapital zu handeln. Machen die Liberalen das auch?

LINDNER: Ja, das ist Kern unseres ordnungspolitischen Projekts. Der Neoliberalismus, von dem man heute spricht, ist ja eigentlich ein Missverständnis, wie dieser Begriff verwendet wird. Das geht eigentlich zurück in Deutschland etwa auf die Freiburger Schule der Sozialen Marktwirtschaft. Diese neuen Liberalen haben sich vom alten klassischen Liberalismus dadurch unterschieden, dass sie den Markt eben als etwas Künstliches betrachtet haben, der geregelt werden muss. Und das ist unsere Vorstellung auch. Ein Markt braucht Regeln, damit, wenn der Einzelne sich nicht regelkonform verhält, das System insgesamt stabilisiert werden kann. Genau das ist in der Bankenkrise passiert. In der Bankenkrise war es möglich Risiken einzugehen, ohne selbst dafür haften zu müssen. Und dadurch hat die natürliche Risikobremse des Markts, des Prinzips Freiheit und Verantwortung gefehlt. Das haben wir nie gewollt. Und aus diesem Grund sind wir jetzt auch die ersten mit, die in der Koalition dafür sorgen, dass wir ein Bankeninsolvenzrecht bekommen, dass wir bessere Eigenkapitalvorschriften für die Institute bekommen, dass wir auch eine vernünftig funktionierende Bankenaufsicht bekommen, damit es keine Schattenbanken gibt.

Frage: Das heißt, "mehr Staat" ist jetzt auch die Position der FDP?

LINDNER: War sie immer, nur wir unterscheiden zwischen zwei Typen von staatlicher Tätigkeit. Die erste staatliche Tätigkeit bezieht sich auf die Rahmensetzung. Da ist der Staat der Schiedsrichter. Der andere Bereich, den wir kritisch sehen, ist der, wo der Staat Mitspieler wird. Und schauen wir uns die Finanzkrise an, der Staat als Schiedsrichter war zu schwach. Er hat nicht die Regeln gesetzt. Als Mitspieler war der Staat aber viel zu stark in die Märkte involviert. Denken Sie doch bitte an die krisenhafte Situation der vielen Landesbanken, wo erheblicher Schaden für den Steuerzahler entstanden ist. Und die Konsequenz daraus muss sein, den Staat als Schiedsrichter stark machen, den Staat als Mitspieler aber aus dem Spiel zurückziehen.

Frage: Das heißt, nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene? Das heißt dann auch, wir brauchen so etwas wie eine Wirtschaftsregierung in Europa und die Liberalen machen mit?

LINDNER: Wir sprechen von einem "Pakt für Wettbewerbsfähigkeit". Ich unterscheide das begrifflich deshalb, weil von der französischen Regierung unter der Überschrift "Wirtschaftsregierung" andere, nicht zu unseren Vorstellungen passende Vorschläge ja unterbreitet worden sind. - Ja, wir brauchen auch ein Europa, eine neue Balance von Koordination und Wettbewerb. Ich bin entschieden für einen wettbewerblichen Föderalismus, weil auch der Wettbewerb der europäischen Volkswirtschaften ja unseren Wohlstand verstärkt hat. Aber wir müssen voneinander lernen und wir brauchen im Grunde ein Prinzip, das alle europäischen Partner in einem Politikfeld von jeweils besseren lernen, vom besten lernen, dass wir eine Vergleichbarkeit haben bestimmter Politiken. Nehmen Sie das Renteneintrittsalter oder nehmen Sie die Bemessungsgrundlage, nicht die Höhe, aber die Bemessungsgrundlage von Kapitalsteuern, weil sonst auch ein vernünftiger Wettbewerb nicht funktionieren kann.
Das, was aber von der französischen Regierung und auch von manchem deutschen Politiker aus der politischen Linken vorgeschlagen wird, Begrenzungen für unseren deutschen Export vorzuschlagen, also einen Korridor für das Außenhandelsdefizit oder den Außenhandelsüberschuss in Europa festzulegen, das können wir uns nicht vorstellen. Wie soll das sein? Soll dann zukünftig ein Bundeswirtschaftsminister zu VW ans Band fahren und sagen, so, jetzt im September, ab jetzt dürft ihr nicht mehr produzieren. - Das funktioniert praktisch nicht und das verkennt im Übrigen auch, dass es ja zwei Kreisläufe gibt, nicht nur den Güterkreislauf, wo wir einen Außenhandelsüberschuss erzielen, sondern es gibt eben auch einen Kapitalkreislauf. Es wird eben auch in andere Länder investiert.

Frage: Herr Lindner, es gibt dennoch Zweifel trotz Ihres vehementen Plädoyers für Europa, dass Sie ein überzeugter Europäer sind. Wie erklären Sie sich das?

LINDNER: Kann ich mir nicht erklären, denn die FDP hat drei Tage vor der nordrhein-westfälischen Landtagswahl einem kritischen Paket zur Stabilisierung Griechenlands zugestimmt, die SPD hat sich enthalten, weil sie drei Tage offensichtlich vor der
NRW-Landtagswahl in einer so auch polarisierenden Frage nicht Flagge zeigen wollte.
Die CSU hat gerade ein Papier vorgelegt, das sehr scharfkantig europäische Politiken, übrigens auch diejenigen, die die Bundesregierung ja bislang in Europa vertreten hat, begrenzen will. Aus der FDP gibt es solche Papiere nicht, sondern ganz im Gegenteil. Wir sind europäische Patrioten. Aber weil wir europäische Patrioten sind und gesehen haben, dass die bisherigen Institutionen in Europa so nicht dauerhaft tragfähig sind, wollen wir aus europäischem Patriotismus Veränderungen in Europa. Denn nur ein stabiles Europa, das wird auch von den Menschen akzeptiert. Das kann weltweit seine Rolle finden. Und Stabilität braucht Subsidiarität.

Frage: Das ist doch ziemlich komisch, wenn Jean-Claude Juncker, Luxemburgs Premierminister, sagt, die Liberalen hier in Berlin fahren einen eurokritischen Kurs. Und das macht ihm Sorgen. Hat er irgendwas völlig falsch verstanden?

LINDNER: Offensichtlich.

Frage: Und was hat er falsch verstanden?

LINDNER: Na ja, Herr Juncker vertritt die Interessen seines Landes. Das ist ja auch aller Ehren wert. Aber hier geht"s konkret darum, dass wir für Europa Regeln brauchen. Und wir werden, ich wiederhole mich, aber wir werden in Europa nur dann zu Wettbewerbsfähigkeit und dauerhafter Stabilität unserer Währung finden, wenn wir das auf Subsidiarität aufbauen. Und wir sind europäische Patrioten und wir wollen auch Integrationsschritte weitergehen. Wir haben eben über einen Pakt für Wettbewerbsfähigkeit gesprochen. Das ist nicht ein Schritt zurück, sondern das ist ein Schritt nach vorn, den wir aktiv einfordern. Aber es bedeutet eben nicht die Vergemeinschaftung von Schuldenpolitiken. Und soweit ich sehen kann, gibt es in Deutschland niemanden, der das will. Und dann muss ich die Frage zurück stellen: Warum stellen Sie uns die Frage, wir seien euroskeptisch, wenn wir in Wahrheit nur eine rationale europäische Politik im Interesse Europas formulieren wollen? Warum richten Sie die Frage nicht an die SPD? Warum richten Sie die Frage nicht an die CSU?

Frage: Aber genau diese Frage stellen sich ja zum Beispiel auch ihre europäischen liberalen Kollegen, die eigenen deutschen liberalen Kollegen, die eben andere Vorstellungen haben und die sich da auch vielleicht auf den Beschluss beziehen, den die FDP-Bundestagsfraktion beschlossen hat, einstimmig beschlossen hat, dass es eben keine qualitative und quantitative Ausweitung des Euro-Rettungsschirms geben wird. Genau das ist dieser Beschluss, auf den sich alle beziehen, wo man sagt, hier wird Innenpolitik gemacht, hier wird Währungspopulismus gemacht und man schränkt damit die Möglichkeiten, die Verhandlungsmöglichkeiten in Brüssel ein.

LINDNER: Wunderbar, jetzt sind alle Überschriften gesetzt. Jetzt gucken wir uns das genau an, was beschlossen worden ist. Die Situation ist doch, dass wir bislang einen Rettungsschirm haben, der bis zum Jahr 2013 auch auskömmlich ausfinanziert ist, und zwar ...

Frage: Da gibt es unterschiedliche Meinungen.

LINDNER: Ja, aber bislang ist er von Portugal und Spanien noch nicht mal in Anspruch genommen worden. Und er ist seinerzeit geplant worden, bis 2013 alle Neuverschuldung aller möglicherweise in krisenhafter Finanzierung stehenden Euro-Staaten abdecken zu können. Bislang ist er noch nicht voll in Anspruch genommen worden. Jetzt ist die Frage: Will man in präventiv größer spannen, obwohl er bislang noch nicht einmal von weiteren Staaten in Anspruch genommen worden ist?

Frage: Vielleicht ja, um ein Signal zu setzen, damit Spekulanten jetzt nicht gegen Spanien vorgehen oder Portugal.

LINDNER: Ja, Ihr Einwand ist wunderbar. Welches Signal sendet man denn, wenn man ihn präventiv aufspannt? Sendet man tatsächlich, sind Sie sicher, das Signal, von dem Sie glauben, dass es gesendet wird, nämlich, der Euro wird in jedem Fall rausgepaukt? Oder wird nicht eher das Signal in die Märkte gesendet, wir verfügen über Herrschaftswissen, Portugal, Spanien, andere schaffen die Konsolidierung nicht, wir befürchten Refinanzierungsprobleme? Werden nicht eher dann durch solche Entscheidungen die Märkte destabilisiert? In der Finanzwissenschaft gibt es beide Positionen. Ich würde dazu neigen einzuschätzen, dass die Position, die ich gerade dargestellt habe, zum jetzigen Zeitpunkt, solange Portugal und Spanien nicht ernsthaft in Refinanzierungsproblemen sind, nicht auszuweiten. Ich glaube, dass das eher die Mehrheitsmeinung in der deutschen Volkswirtschaftslehre ist. Aber wie auch immer, man kann beide Positionen vertreten. Käme es zu einem Krisenfall, können Sie sicher sein, werden wir wie bei Griechenland unsere Verantwortung wahrnehmen. Aber wir dürfen die Märkte auch nicht destabilisieren. Und wir dürfen jetzt in dieser Situation, wo es um langfristige Entscheidungen in Europa geht, nicht gleich auch unsere Verhandlungsposition einschränken. Denn sonst werden wir unsere deutschen Interessen, die identisch sind mit langfristigen europäischen Interessen, nicht erreichen können.

Frage: Aber wenn es zu einer Ausweitung des Rettungsschirms kommen sollte, wird es dann zum Koalitionsbruch kommen? Gehen Sie dann raus?

LINDNER: Nein. Es wird aber auch nicht dazu kommen. Und je länger wir darüber sprechen, man muss doch sensibel mit solchen Fragen umgehen, desto eher tritt die Wahrscheinlichkeit ein. Überlegen Sie doch bitte einmal die Situation: Herr Barroso als Kommissionspräsident schlägt die Ausweitung vor. Gleichzeitig findet in Europa das europäische Semester statt. Das heißt, die Europäische Kommission schaut sich sehr genau die Etatentwürfe aller Euro-Staaten auch an. In der Situation als Investor am Markt, der Staatsanleihen kaufen will, der Kommissionspräsident, der detailliert die Haushaltszahlen der Euro-Staaten kennt, spricht öffentlich von der präventiven Ausweitung des Rettungsschirms, gewinnen Sie da Vertrauen in die Finanzierung von Portugal und Spanien als Investor? - Das sind Fragen, über die sensibel gesprochen werden muss, die eben nicht geeignet sind, sie in die parteipolitische Diskussion zu führen. Und gerade deshalb sagen wir, wir sprechen jetzt nicht über so etwas, sondern wir sorgen uns darum, dass wir langfristige Mechanismen bekommen. Wolfgang Schäuble hat in einem Interview gesagt, dass er die Sorge hat, dass aus dem Umfeld der CDU-CSU eine solche Gruppierung hervorgehen könnte. Also, insofern, diese Befürchtungen, die FDP sei europaskeptisch, sind aus der Luft gegriffen. Gegen die verwahre ich mich entschieden. Wir sind Patrioten. Aber weil wir europäische Patrioten sind, werden wir auch europäische Reformer sein.

Frage: Das hört man in Brüssel bei den liberalen Kollegen sicherlich gerne.

LINDNER: Ja, wir arbeiten gerade daran, auf unserem nächsten Bundesparteitag ein Papier vorzulegen. Der Bundesvorstand hat mich beauftragt, die unterschiedlichen Akteure in der FDP da zu koordinieren. Wir werden einen großen Leitantrag auf unserem Bundesparteitag im Mai haben, der auch absieht nur allein von der aktuellen Situation des Euro, sondern auch eine langfristige Perspektive, wo wollen wir hin in der in der europäischen Integration, aufzeigt. Sie sehen, die FDP arbeitet an dem Thema, übrigens auch zusammen mit Berliner und Brüsseler Kollegen. Hier gibt"s keinen Anlass für solche Unterstellungen. Das ist wirklich eine ganz billige kleinkarierte parteipolitische Diskussion. Da versucht man etwas Neues gegen die FDP zu wenden. Aber hier ist nun wirklich keinerlei Substanz da.

Frage: Dann sagen Sie doch noch mal ganz konkret: Sollte Spanien tatsächlich noch mal ins Visier der Spekulanten kommen oder auch Portugal, dann sagen Sie, dann werden wir unsere Verantwortung wahrnehmen. Was heißt das denn konkret aus liberaler Sicht? Dann werden Sie Gelder zur Verfügung stellen, damit der Euro-Raum stabilisiert wird?

LINDNER: Das unterschiedliche Instrumentarium, das zur Verfügung steht, über Hilfe bis hin zur Umschuldung, bis zur Gläubigerbeteiligung, darüber sollte man nicht zu früh sprechen, sondern man dann muss gehandelt werden. Peer Steinbrück hat das in seinem Buch sehr schön beschrieben, die Parallelität von Politik und Markthandeln. Er hat von den "regulatorischen Wochenenden" gesprochen. Weil, dann konnte über Regulierung gesprochen werden, weil die Märkte nicht sofort bewertet haben. Also, meine Empfehlung ist, etwas weniger öffentlich, vielleicht sogar manchmal verantwortungslos sprechen, indem spekuliert wird über irgendwas von Leuten, die ganz weit weg von den Zahlen und den Entscheidungen sind, sondern lieber mehr handeln und zu Ergebnissen kommen.

Frage: Aber ein "I want to have my money back", also so, wie Maggy Thatcher in den 80er Jahren in der EG aufgetreten ist, das wird es von den Liberalen nicht geben?

LINDNER: Nein, Frau Thatcher war ja auch eine Neo-Konservative und keine Liberale.
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