26.03.2020FDPFDP

LINDNER-Interview: Herr Lindner, wie lange hält ein Land den Stillstand aus? "Wir reden über Tage und wenige Wochen"

Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab der „Neuen Zürcher Zeitung“ (Donnerstag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte Marc Felix Serrao.

Frage: Deutschland erlebt den größten Eingriff in die Freiheitsrechte in der Geschichte des Landes. Und der Chef der liberalen Partei sagt: Richtig so. Warum, Herr Lindner?

Lindner: Die Maßnahmen sind für den Moment verhältnismäßig. Wir haben es mit einer Pandemie zu tun, deren Risiken wir noch nicht überblicken können. Die wissenschaftlichen Ratgeber haben schon manchen U-Turn gemacht. Deshalb ist es augenblicklich richtig, Vorsicht walten zu lassen und auf eine Eindämmung von Corona zu setzen.

Frage: Sie unterstützen Entscheidungen, gegen die Sie sonst Sturm laufen würden.

Lindner: Ja. Jetzt ist die Stunde des Staates. Er kommt seiner ureigensten Aufgabe nach: Ordnungsmacht zu sein, die das regelt, was die individuelle Möglichkeit zur Übernahme von Verantwortung übersteigt. Wir brauchen den Staat nicht für die Anmaßung von Wissen über die Zukunft der Wirtschaft, nicht für Umverteilungsoperationen und nicht dafür, dass er uns erzieherisch die Ohren langzieht. Aber klar ist für mich, dass sich aus der gegenwärtigen Situation keine grundlegende Verschiebung im Verhältnis zwischen Staat und Bürger und Staat und Wirtschaft ergeben darf. Genauso wichtig wie die Frage, was in der Krise getan werden muss, ist die Frage: Wann kommt der Exit?

Frage: Sprechen wir von einem Monat, einem Quartal oder einem noch längeren Zeitraum?

Lindner: Die Einschränkung von Freiheit und die Aussetzung des öffentlichen Lebens sind unerträglich. Deshalb geht es um Tage. Wir haben ein Rettungsnetz für die Wirtschaft aufgespannt, und es gibt eine Kontaktsperre. Das verschafft uns Zeit, die Kapazität des Gesundheitssystems zu erhöhen und vor allem die Infrastruktur für Tests auszuweiten. So schnell wie möglich brauchen wir dabei Fortschritte, weil wir dann Schritt für Schritt zur Normalität zurückkehren können. Wir haben als FDP im Parlament und in den Länderregierungen, an denen wir beteiligt sind, dafür gesorgt, dass der Staat die nötigen Maßnahmen ergreifen kann. Wir werden jetzt das Feld anführen, wenn es darum geht, die Eingriffe wieder zu reduzieren.

Frage: Noch einmal, was heißt „so schnell wie möglich“?

Lindner: Ich kann kein Datum nennen, das wäre unseriös. Aber wir reden über Tage und wenige Wochen. Wer von einer längeren Zeit ausgeht, unterschätzt die Dynamiken, die in einer Ein-Zimmer-Wohnung entstehen, und die irreparablen Strukturschäden in der Wirtschaft.

Frage: Wie stehen Sie zu weiteren gesetzlichen Verschärfungen, etwa einer echten Ausgangssperre?

Lindner: Das halte ich in Bezug auf Deutschland für unnötig. Wir haben die Kontaktdichte reduziert. Aber wir können die Menschen nicht einsperren. Es muss weiter möglich sein, im engen Familienkreis und zusammen mit Menschen, mit denen man ohnehin in häuslicher Gemeinschaft lebt, vor die Tür zu gehen. Es muss möglich bleiben, einen Spaziergang zu machen und draußen Sport zu treiben.

Frage: Sie stehen also eher auf der Seite des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet von der CDU als auf der seines bayrischen Amtskollegen Markus Söder von der CSU?

Lindner: Die bayrischen Regelungen klingen schärfer, als sie sind. Dabei hat vermutlich das frühe und robuste Auftreten des Ministerpräsidenten eine Rolle gespielt. In der Substanz gibt es zwischen den Ländern kaum Unterschiede.

Frage: Teilen Sie die Beobachtung, dass zwischen Söder und Laschet ein Rennen ums beste Krisenmanagement stattfindet, um sich so für die Kanzlerkandidatur zu empfehlen?

Lindner: Bei Herrn Söder ist dieses Motiv denkbar. Allerdings komme ich zu anderen Schlussfolgerungen als manche Beobachter. Die Aufgabe des Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz ist es, die Länder zu einem gemeinsamen Handeln zu bewegen. Das hat Armin Laschet geschafft – obwohl er derzeit nicht den Vorsitz innehat. Der liegt bekanntlich in München.

Frage: In München marschiert man gerne voran.

Lindner: In einer Krise zählt das geschlossene Auftreten der staatlichen Verantwortungsgemeinschaft. Den Rest sollen die Herren miteinander besprechen. Für mich sind andere Fragen wichtiger. Ich gehe gerne raus und ins Restaurant, und ich treffe gerne Freunde und Familie. Ich mag diese Situation nicht. Außerdem mache ich mir, wie gesagt, Sorgen um die Wirtschaft, und zwar vom Solo-Selbständigen bis zum Industriekonzern, vom traditionsreichen Familienunternehmen bis zum Startup. Was da auf dem Spiel steht, ist in die Öffentlichkeit noch gar nicht richtig durchgedrungen. Wir haben Alarmstufe Rot.

Frage: Die Bundesregierung hat gerade den größten Nachtragshaushalt der Geschichte vorgelegt, 156 Milliarden Euro. Reicht das nicht?

Lindner: Die Dimension ist notwendig. Allerdings gibt es Förderlücken und Fragen beim Tempo. Die Regierung sieht Soforthilfen in Cash für Betriebe mit bis zu 10 Beschäftigten vor, und ab 250 Mitarbeitern soll es einen Stabilisierungsfonds geben. Dazwischen werden die Unternehmen auf abgesicherte Kredite der öffentlich rechtlichen Förderbank KFW verwiesen. Das kann allerdings lange dauern und bürokratisch sein. Wir hätten uns gewünscht und fordern weiterhin, dass man zusätzlich den Kanal nutzt, der ohnehin direkt zwischen Bürgern und Staat einerseits und Wirtschaft und Staat andererseits besteht: das Finanzamt. Das verfügt über die Steuerdaten und ist in der Lage, schnell Geld bereitzustellen: in Form einer Steuerrückerstattung, einer Rücküberweisung von Steuervorauszahlungen oder einer Steuergutschrift, bei der erwartete Verluste verrechnet werden. Wir müssen den Strömungsabriss der Wirtschaft verhindern, die flächendeckende Zahlungsunfähigkeit. Wenn das nicht gelingt, werden überall gesunde Betriebe pleitegehen.

Frage: Was halten Sie von dem 600 Milliarden Euro schweren Rettungsschirm für große Unternehmen? Ein Teil davon ist für staatliche Beteiligungen vorgesehen.

Lindner: Bei diesen Instrument muss man ganz genau hinschauen, auch auf den Exit. Ich möchte nicht irgendwann in einem Land aufwachen, in dem wesentliche Teile der Wirtschaft teilweise verstaatlicht sind und die Entscheidungen nicht mehr auf Grundlage der Marktwirtschaft und des Wettbewerbs getroffen werden. Das ist ja, vorsichtig formuliert, nicht immer ein Erfolgsmodell gewesen. Wenn, dann muss sich der Staat so schnell wie möglich unter Nutzung des Kapitalmarkts wieder zurückziehen. Nach der Finanzkrise 2008 hat das in einer Reihe von Fällen geklappt. Leider gab es aber auch die Commerzbank, bei der der Staat bis heute Anteilseigner ist, weil er keine Verluste realisieren will.

Frage: Der Freiburger Ökonom Reiner Eichenberger hat in der NZZ vor einem „größtmöglichen Scherbenhaufen“ gewarnt. Mit der Zeit würden sich die Bürger immer vehementer gegen die Einschränkungen ihrer Freiheit und die erzwungene Arbeitslosigkeit zur Wehr setzen.

Lindner: Diese Prognose teile ich. Gegenwärtig ist die Bevölkerung sehr duldsam. Aber so etwas hat eine Halbwertszeit. Sowohl die Akzeptanz der derzeitigen Maßnahmen wird sinken als auch der Grad, in dem sie als verhältnismäßig erscheinen. Es gibt ja schon erste Wortmeldungen, man solle das Virus doch lieber schnell durchs Land jagen. Ich teile diese Einschätzung nicht, weil man von der jetzigen Strategie der Eindämmung in die Öffnung wechseln kann. Umgekehrt geht das nicht. In vielen Familien, auch in meiner eigenen Familie, gibt es gesundheitlich Schwächere und Omas über 90. Deren Schutz wird jedem am Herzen liegen.

Frage: Sie haben davor gewarnt, in der Krise in nationale Egoismen zurückzufallen. Trotzdem ist es so gekommen. Die Italiener fühlten sich wochenlang von der EU alleingelassen. Hilfe erhielt das Land, von ein paar deutschen Materiallieferungen abgesehen, vor allem aus Russland, China und Kuba. Die haben ganze Spitäler aufgebaut und freuen sich nun über ihren Propagandaerfolg.

Lindner: Europa muss sich nach dieser Krise einige Fragen stellen. Viele schauen nur aufs eigene Land, das liegt auch an der politischen Konjunktur der Abschottung. Wir müssen uns wieder daran erinnern, dass die weltweite Arbeitsteilung zu Produktivität und Wohlstand geführt hat. Für eine Evolution der Globalisierung werden wir vielleicht darüber nachdenken müssen, ob bestimmte, für die Daseinsvorsorge und die Risikoabsicherung notwendige Produktionen regional disloziert erfolgen müssen. Aber wer meint, wir müssten die Globalisierung rückabwickeln, irrt. Die Menschheitsherausforderung Corona sollte uns dazu bringen, auch bei anderen Menschheitsherausforderungen stärker zusammenzuarbeiten. Beispiel Klimaschutz. Den können Sie ohne China nicht allein in der Westschweiz stemmen.

Frage: Lassen Sie uns noch über Ihre Fraktion sprechen. Drei Bundestagsabgeordnete der FDP haben sich inzwischen mit dem Coronavirus infiziert. Wie geht es ihnen?

Lindner: Die Kollegen berichten, dass die Symptome erträglich, aber nicht mit einer gewöhnlichen Grippe vergleichbar seien. Zum Glück musste bisher keiner ins Krankenhaus. Aber in einem anderen Fall ist die Partnerin eines Kollegen betroffen, eine jüngere, gesunde Frau ohne Vorerkrankungen. Die braucht inzwischen ein Beatmungsgerät. Wer also meint: Ich bin jung und gesund, mir kann nichts passieren, der kann sich schwer täuschen.

Frage: Was tun Sie, um sich zu schützen?

Lindner: Ich bin im Home-Office und habe persönlichen Kontakt nur zu meiner Lebenspartnerin.

Frage: Wie oft gehen Sie vor die Tür? Einmal am Tag?

Auch mehrmals. Wenn die Cola-light-Vorräte aufgebraucht sind, gehe ich die gegenüber auffüllen. Ich mache auch Sport draußen. Und an diesem Mittwoch werde ich an der Plenarsitzung des Bundestags teilnehmen. Ich habe meine sozialen Kontakte auf online verlegt. Mir macht das allerdings zu schaffen, denn Abende draußen mit Freunden liebe ich.

Frage: Wie geht es Ihrem Aktiendepot?

Lindner: Sie meinen: die Deponie. (Lacht.) Ich bin langfristig orientiert und lege seit Jahren, ach, Jahrzehnten jeden Monat eine bestimmte Summe in der Breite mehrerer weltweiter Indizes an. Da habe ich schon manches Auf und Ab gesehen. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass eine breite Anlage am Kapitalmarkt immer noch die beste individuelle Absicherung fürs Alter ist. Und so merkwürdig das vielleicht gerade klingen mag: Wir müssen weiter daran arbeiten, dass sich in Deutschland eine Aktienkultur etabliert.

Frage: Um den Kurs der FDP ist es auch nicht gut bestellt. In den Umfragen dümpelt Ihre Partei zwischen sechs und sieben Prozent herum. Liegt das daran, dass man als Opposition in einer solchen Krise per se im Nachteil ist?

Lindner: Um beim Thema zu bleiben: Wäre die FDP eine Aktie, dann wären die gegenwärtigen Umfragen echte Kaufkurse. Die politische Landschaft wird nach Corona eine andere sein. Die Debatten werden andere sein. Fragen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus werden im Mittelpunkt stehen. Wir lernen gerade viel über die Möglichkeiten der Digitalisierung und ihrer Grenzen in Deutschland. Es wird auch um die Frage gehen, was die Handlungsfähigkeit eines Staates wirklich ausmacht. Mein Tipp: Eine Bon-Pflicht gehört nicht dazu. Das wird alles spannend, auch für uns. Die FDP kommt gerade aus einer Krise. Durch die Vorgänge in Thüringen sind wir von neun, zehn Prozent auf knapp über fünf Prozent abgerauscht. Da haben viele gefragt: Verändert sich die FDP? Macht die etwas mit den Rechtspopulisten? Das war eine harte Zeit. Wir haben geklärt, dass es eine Fehleinschätzung war, aber keine Änderung unserer Haltung. Jetzt, da wir Verantwortung mit übernehmen und wieder in der Sachpolitik erkennbar sind, merke ich, dass das Vertrauen wieder zunimmt.

Frage: Für Sie selbst war die Lage so ernst, dass Sie im Parteivorstand die Vertrauensfrage gestellt haben. Das Ergebnis: 33 Ja-Stimmen, 2 Enthaltungen, ein Nein. Ist die Autorität von Christian Lindner wiederhergestellt?

Lindner: Mir ging es genau darum, meine Autorität durch die Vertrauensfrage gegenüber der Öffentlichkeit festzustellen. Eine Fraktion ist keinem Weisungsrecht unterworfen. Die Thüringer Fraktion hatte immer bestätigt, dass es keine Zusammenarbeit mit der AfD geben darf. Warnungen, dass die AfD tricksen könnte, haben sie zwar erreicht; es wurde dennoch für verantwortbar gehalten, einen eigenen Kandidaten ins Rennen zu schicken. Mit dem bekannten Ergebnis. Was ist seither geschehen? Wir haben klargemacht, dass wir nicht mit der AfD kooperieren, aber auch nicht mit der Linkspartei Regierungen bilden. Diese Klärung haben wir der CDU voraus. Und zur Auflösung der Situation in Thüringen haben wir 23 Stunden gebraucht. An diesem Krisenmanagement lasse ich mich messen.

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