18.07.2011FDP

RÖSLER-Interview für den "Spiegel"

Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende und Bundeswirtschaftsminister DR. PHILIPP RÖSLER gab dem "Spiegel" (heutige Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten MARKUS FELDENKIRCHEN und RENÉ PFISTER:

Frage: Herr Minister, Sie sind in Vietnam geboren, mit neun Monaten wurden Sie von deutschen Eltern adoptiert. Wann haben Sie zum ersten Mal gemerkt, dass sie anders aussehen als deutsche Kinder?

RÖSLER: Als ich vier oder fünf war, hat sich mein Vater mit mir vor einen Spiegel gestellt. Er hat gesagt: "So, schau dich mal an und dann schau mich mal an - wir sehen unterschiedlich aus. Aber egal was passiert und egal, was die Leute sagen: Ich bin dein Vater."

Frage: Wurden Sie als Kind wegen ihres Äußeren gehänselt?

RÖSLER: Nein, nie. Ich habe damals mal geträumt, ich sei ein verschollener vietnamesischer Prinz. Der Gedanke gefiel mir. Irgendwann wollte ich von meinem Vater wissen, ob es in Vietnam überhaupt Prinzen gibt. Er sagte, früher habe es da mal einen Kaiser gegeben, aber jetzt nicht mehr. Das muss ungefähr im Jahr 1980 gewesen sein, da waren schon die Kommunisten an der Macht.

Frage: Konnten Sie es sich als Teenager vorstellen, mit Ihrem Aussehen mal Vizekanzler der Bundesrepublik zu werden?

RÖSLER: Welcher Teenager kann sich überhaupt vorstellen, einmal Vizekanzler zu werden? Ich finde, die Bürger gehen doch sehr tolerant und gelassen mit der Tatsache um, dass ich anders aussehe als der "Durchschnittsdeutsche". Im Ausland sorgt das ab und an für Aufsehen. Vor kurzem habe ich die Bundeskanzlerin nach Washington begleitet. Beim Empfang im Weißen Haus hat mich Präsident Obama interessiert zu meinem politischen Werdegang gefragt.

Frage: Gab es Reaktionen in Vietnam auf Ihren Aufstieg zum FDP-Chef und Vizekanzler?

RÖSLER: Ich habe von vielen Regierungen ein Glückwunschschreiben bekommen, auch von der vietnamesischen. Das hat mich sehr gefreut. Ein Bezug zu meinen vietnamesischen Wurzeln wurde dabei aber nicht hergestellt.

Frage: Ist man in Vietnam stolz auf Philipp Rösler?

RÖSLER: An meinem Ministerium halten öfter mal Reisebusse mit vietnamesischen Touristen an. Für viele Vietnamesen ist es wohl etwas Besonderes. Wenn ein aus Deutschland Adoptierter in der vietnamesischen Regierung säße, fänden wir Deutsche das wahrscheinlich auch irgendwie interessant.

Frage: Hat Ihr Vater Ihnen viel von Vietnam erzählt?

RÖSLER: Mein Vater hat durch seinen Beruf als Hubschrauber-Pilot bei der Bundeswehr einige Vietnamesen kennen gelernt. In den 70er Jahren musste er oft zum Training in die USA. Dort wurden auch die Piloten der südvietnamesischen Armee ausgebildet. Der Krieg in Vietnam hat ihn - wie die meisten seiner Generation - enorm beschäftigt. Für ihn gab es damals zwei Möglichkeiten: Entweder sich auf die Straße zu stellen und zu protestieren - oder ganz praktisch zu helfen. Er hat sich für Letzteres entschieden und ein Kind aus Vietnam adoptiert - mich.

Frage: Wenn Sie heute Filme über den Vietnam-Krieg sehen, auf welcher Seite stehen Sie dann?

RÖSLER: Auf gar keiner. In Filmen wie "Platoon" von Oliver Stone gibt es keine so eindeutige Aufteilung in Gut und Böse. Insofern fühlte ich mich gar nicht gedrängt, Partei für eine Seite zu ergreifen.

Frage: Haben Sie jemals versucht, Vietnamesisch zu lernen?

RÖSLER: Dafür habe ich nie einen Anlass gesehen.

Frage: Gab es bei Ihnen irgendwann den Wunsch, wie ein Deutscher auszusehen?

RÖSLER: Nein, ich bin ja Deutscher und habe mich immer wie ein Deutscher gefühlt. Ich bin in eine katholische Grundschule in Hamburg-Harburg gegangen, da gab es viele spanische und italienische Schüler. Nach dem ersten Schultag bin ich zu meinen Vater gelaufen und habe gesagt: "Papa, bei mir sind ganz viele Ausländer in der Klasse." Da hat er schallend gelacht.

Frage: Ist Deutschland ein ausländerfreundliches Land?

RÖSLER: Ja. Ich selbst habe nie negative Erfahrungen gemacht.

Frage: Welche Ausländer haben es am schwersten in Deutschland?

RÖSLER: Das ist schwer zu sagen. Grundsätzlich macht Fremdes und Andersartiges vielen Menschen Angst. Deswegen vermute ich, dass es diejenigen am schwersten haben, die sich optisch am stärksten vom "typischen Deutschen" unterscheiden.

Frage: Hängt ihr positives Deutschlandbild auch damit zusammen, dass Sie in behüteten Verhältnissen aufgewachsen sind? Ein türkischer Junge in einem Problemviertel wie Berlin-Neukölln hat wahrscheinlich einen ganz anderen Blick auf Deutschland.

RÖSLER: Über meine Herkunft hat sich nie jemand lustig gemacht. Aber türkische Jungs wurden früher oft mit der Nase darauf gestoßen, dass sie anders sind. Ich hielt das für ungerecht und gefährlich. Denn wie soll sich jemand in die Gesellschaft einbringen, wenn ihm von Anfang an gesagt wird, eigentlich gehörst du gar nicht zu uns!

Frage: Warum ist das Klima für Ausländer in Deutschland rauer geworden?

RÖSLER: Früher galten Ausländer als Bereicherung. Westdeutschland brauchte Arbeitskräfte, und deswegen waren Spanier, Italiener und Türken willkommen. Mit der Angst vor der Arbeitslosigkeit stieg bei vielen Menschen die Angst, dass ihnen Einwanderer den Job wegnehmen könnten. In den letzten Jahren ist das Klima aber deutlich besser geworden.

Frage: Wie kommt es, dass Neonazis im Osten Vietnamesen als "Fidschis" beschimpfen?

RÖSLER: Vietnamesen so zu bezeichnen ist nicht nur geografisch völlig absurd. Die Fidschi-Inseln liegen einige tausend Kilometer von Vietnam entfernt.

Frage: Können Sie verstehen, dass Menschen Angst vor Einwanderern haben?

RÖSLER: Es gibt immer zwei Möglichkeiten, mit diesen Ängsten umzugehen. Entweder man gibt sich ihnen hin und schottet sich ab, oder man versucht, offen zu sein und die Menschen aufzuklären - für mich ist das der liberale Weg.

Frage: Hat die FDP genug Aufklärungsarbeit geleistet?

RÖSLER: Die gesamte Politik hat sich zu wenig mit dem Thema Integration befasst.

Frage: War die deutsche Politik zu nachsichtig mit Ausländern, die die Integration verweigert haben?

RÖSLER: Ich glaube, die Politik hat zu wenig Angebote gemacht, zum Beispiel Sprachkurse. Strafen sollten nicht die erste Antwort sein.

Frage: Werden Sie als Wirtschaftsminister die Regeln für die Zuwanderung nach Deutschland lockern?

RÖSLER: Ich werde mich dafür einsetzen, dass sich die Bundesregierung weiter in diese Richtung bewegt. Deutschland braucht qualifizierte Zuwanderung. Es ist doch absurd, wenn wir hier mit viel Geld ausländische Studenten ausbilden und sie nach ihrem Abschluss nur ein Jahr im Land bleiben dürfen.

Frage: Asiaten gelten in Deutschland als besonders gut integriert. Woran liegt das?

RÖSLER: Vietnamesische Eltern legen, wie viele andere auch, besonderen Wert darauf, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung bekommen.

Frage: Ist es für Sie in der Politik hinderlich, dass Asiaten den Ruf haben, immer nett und freundlich zu sein?

RÖSLER: Warum sollte es hinderlich sein, als freundlich zu gelten?

Frage: Weil in der Politik freundlich oft als Synonym für durchsetzungsschwach verwandt wird.

RÖSLER: Da machen Sie sich bei mir mal keine Sorgen.

Frage: Finanzminister Wolfgang Schäuble hat in einem Interview über Sie gesagt, Sie seien nicht nur sachkundig und liebenswürdig, sondern verfügten auch über ein hohes Maß an Humor. Fühlten Sie sich von Schäuble verniedlicht?

RÖSLER: Ich habe mich schon gefragt, worin der Mehrwert seiner Äußerungen bestand.

Frage: Sind sie stolz, ein Deutscher zu sein?

RÖSLER: Eigentlich ja, aber der Satz ist leider von Rechtsradikalen okkupiert worden. Niemand muss ihn plakativ gebrauchen.

Frage: Gehört der Islam zu Deutschland?

RÖSLER: Es gibt rund vier Millionen Muslime in diesem Land, auch sie prägen es. Deswegen ist es richtig zu sagen, der Islam gehört zu Deutschland. Der Satz stammt ja von Bundespräsident Christian Wulff. Als er ihn gesagt hatte, habe ich ihm gleich eine SMS geschickt: "Das war mutig. Die Sache wird noch große Wellen schlagen." So ist es gekommen.

Frage: Warum haben Sie erst mit 33 Jahren zum ersten Mal ihr Geburtsland Vietnam besucht?

RÖSLER: Ich hatte einfach nicht den Wunsch. Vietnam hatte keine besondere Bedeutung für mich. Wenn einem nichts fehlt, dann sucht man auch nichts. Ich bin dann schließlich hingefahren, weil meine Frau mir gesagt hat: "Eines Tages will ich mal Kinder haben, und denen möchte ich erklären können, wie es in Deinem Geburtsland aussieht."

Frage: Wie haben sie sich vor Ort gefühlt? Als gewöhnlicher Tourist?

RÖSLER: Vielleicht als besonders interessierter Tourist. Mitunter haben sich die Vietnamesen erkennbar die Frage gestellt, was für ein Mensch ich wohl bin. Man sah mir ja an, dass ich nicht in Vietnam lebe. Wie ein japanischer Tourist, von denen es viele in Vietnam gibt, sah ich auch nicht gerade aus. Die meisten dachten, ich sei ein amerikanischer Urlauber, einer, der aus einer in die USA ausgewanderten Familie stammt.

Frage: Wussten Sie damals schon Näheres über Ihre vietnamesischen Wurzeln?

RÖSLER: Ja. Das habe ich unter anderem auch dem SPIEGEL zu verdanken. Bei einer Veranstaltung in Holzminden hat mich ein Mann gefragt, wo ich denn herkäme. Ich habe ihm den Namen meines Heimatdorfes gesagt. Den kannte ich aus meiner Geburtsurkunde. Das sei ja ein Zufall, sagte der Mann, da komme seine Tochter auch her. Sie war eines jener Kinder, die 1975 aus dem Kriegs-Vietnam evakuiert wurden. Eine der letzten Maschinen ist ja abgestürzt und zur Hälfte auf einem Reisfeld ausgebrannt. Der SPIEGEL hat dann mit den überlebenden Kindern eine Reise in den Ort gemacht - und das war jenes Dorf, in dem mein Waisenhaus stand. In dem SPIEGEL-Artikel wurden auch die beiden Nonnen zitiert, die sich damals um insgesamt 3000 Waisenkinder gekümmert haben. Die haben sich damals für ihre Schützlinge irgendwelche Namen ausgedacht, um sie außer Landes schleusen zu können.

Frage: Haben Sie sich nicht mal Karten von Vietnam angesehen, um zu erfahren, wo genau Ihr Geburtsort liegt?

RÖSLER: Doch, aber auf den Karten, die mir zur Verfügung standen, habe ich den Ort nicht gefunden. Als ich 2006 in Vietnam war, besuchte ich den ehemaligen südvietnamesischen Präsidentenpalast. Unten im Keller fanden sich noch die früheren Lagezentren der Amerikaner. An der Wand hingen viele alte Karten. Dort habe ich meinen Geburtsort gesucht. Ich wusste, dass er irgendwo in der Nähe von Saigon sein musste. Schließlich habe ich ihn gefunden. Unser Dolmetscher hat uns dann erklärt, dass nach dem Kriegsende 1975 alle Orte und Städte in Südvietnam einen anderen Namen bekommen haben. Kein Wunder, dass ich ihn vorher nie finden konnte.

Frage: Sie sind dann mit ihrer Frau in den Ort gefahren?

RÖSLER: Nein. Denn unsere Reisegruppe fuhr in eine andere Richtung. Ehrlich gesagt, habe ich das auch nicht gebraucht, ich hatte ja eine grobe Vorstellung, wie es in meinem Ort ausgesehen haben musste. Vietnamesische Ortschaften unterscheiden sich im Grunde nicht sehr voneinander.

Frage: Wissen Sie etwas über ihre leiblichen Eltern?

RÖSLER: Nein. Die Schwestern aus meinem Waisenhaus mussten über 3000 Kinder betreuen. Sie haben sich die Herkunft und Namen der Kinder ausdenken müssen, um die Formulare für ihre Ausreise auszufüllen. Da gibt es wahrlich keine Spur zu meinen leiblichen Eltern.

Frage: Haben Sie jemals daran gedacht, selbst nach ihnen zu suchen?

RÖSLER: Nein. Für mich ist mein Vater mein Papa. Es ist gut so, wie es ist. Mir fehlt nichts.

Frage: Hatten Sie Angst, dass Ihr Leben komplizierter werden würde, wenn Sie Ihre leiblichen Eltern gefunden hätten?

RÖSLER: Die Frage, wer mein leiblicher Vater ist, stellte sich mir nicht. Mein Papa ist mein Vater, Schluss aus.

Frage: Was hat ihnen an Vietnam besonders gut gefallen?

RÖSLER: Die Landschaft ist toll, auch das Essen. Wenn man bei uns asiatisch essen geht, dann ist alles sehr eingedeutscht. Viele Asiaten gehen deshalb in Deutschland nicht asiatisch essen - es schmeckt einfach nicht wie daheim.

Frage: Warum wollen Sie eigentlich deutscher sein als jeder Deutsche?

RÖSLER: Will ich gar nicht. In meinem Büro stand zum Beispiel lange keine Fahne.

Frage: Dann mal der Reihe nach: Ihr Lieblingssänger heißt Udo Jürgens. Ihre Zwillinge tauften Sie auf die Namen Grietje und Gesche. Sie sind im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken. Und dann verpflichten Sie sich freiwillig bei der Bundeswehr. Sie sind kein Deutscher, sie sind ein Musterdeutscher.

RÖSLER: Dann mal die Gegenrede: Richtig ist, dass ich glühender Udo-Jürgens-Fan bin. Aber gewiss nicht, weil er deutsch singt. Ich verrate Ihnen, dass bei uns zu Hause keine Deutschlandfahne hängt. Zudem fahre ich privat ein französisches Auto - aus sehr praktischen Gründen. Nur in dieses Auto passt ein Zwillingskinderwagen aufrecht rein. Jetzt zu den Kindernamen: Meine Frau hat bei unserer Hochzeit meinen Nachnamen angenommen - das ist ja heutzutage alles andere als selbstverständlich. Wir hatten vereinbart, dass sie Rösler heißt und dafür die Namen unserer Kinder bestimmen darf. Ich konnte Wünsche anmelden, aber entscheiden durfte meine Frau. Grietje ist zudem eher niederländisch, Gesche eher friesisch.

Frage: Würden Sie sagen: Es gibt eine deutsche Leitkultur?

RÖSLER: Den Begriff haben andere geprägt. Aber natürlich gibt es eine Kultur, auf die man sich verständigen kann. Die schwankt irgendwo zwischen Grünkohlkönig und Moderne.

Frage: Ach ja, Glückwunsch noch mal! Sie wurden in diesem Jahr zum Oldenburger Grünkohlkönig gewählt.

RÖSLER: Zu dieser Grünkohlkönig-Tradition gehören durchaus ernsthafte Werte: Dass man sich untereinander stützt und unterstützt und für eine Region kämpft. Ich hab ja lange Zeit Vorträge zum Thema "Heimat" gehalten. Ich finde, dass Heimat nicht spießig, brav oder langweilig ist.

Frage: Wann haben Sie zum ersten Mal gemerkt, dass Asiaten ein Enzym zum Abbau von Alkohol fehlt?

RÖSLER: In der Pubertät - wenn es gemeinhin die ersten Berührungspunkte gibt.

Frage: Waren Sie schlimm betrunken?

RÖSLER: Nein. Bei Alkohol ist es ja so: Er wird bei den meisten Menschen erst zu Aldehyd umgewandelt und dann zu Essigsäure. Das ist bei mir anders, mit einer unschönen Folge: Bei mir gibt es keinen Rausch, nur den Kater.

Frage: Klingt ja furchtbar. Sie trinken also gar nichts?

RÖSLER: Doch. Würde ich nie Alkohol trinken, reichten ganz geringe Mengen und mir wäre schlecht. Wenn ich aber regelmäßig wenig Alkohol trinke, bilden sich Enzyme, die beim Abbau von Alkohol behilflich sind.

Frage: Wie viel vertragen Sie?

RÖSLER: Ein Glas Wein geht.

Frage: Wie kann man als Politiker in Niedersachsen überleben, wenn einem nach drei Korn übel ist?

RÖSLER: Vielleicht haben Sie zu drastische Klischees von meiner Heimat im Kopf. Niedersachsen ist ein freies Land. Man muss ja nicht mittrinken. Ich glaube sowieso: Die Zeit, in der man meinte, politisch nur Karriere machen zu können, wenn man wahnsinnig viel mittrank, die ist vorbei.

Frage: Sind sie ein Vorbild für Ausländer in Deutschland?

RÖSLER: Ich werde von einigen als Vorbild wahrgenommen. Als ich gerade Bundesminister werden sollte, gab es eine Sitzung im Restaurant des Bundestags. Da kam irgendwann ein Farbiger auf mich zu, er arbeitete im Service der Catering-Firma. Und wissen Sie, was der sagte: "Ich finde es ganz toll, dass einer von uns es bis ganz nach oben geschafft hat."

Frage: Haben Sie sich gefreut?

RÖSLER: Ja, weil es ehrlich war und von Herzen kam.

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