07.01.2020FDPFDP

TEUTEBERG: Ein Liberalismus, der zugleich sensibel und robust ist, wird sich bewähren

Die FDP-Generalsekretärin Linda Teuteberg hielt auf dem Dreikönigstreffen der Liberalen in Stuttgart folgende Rede:

„Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freie Demokraten, liebe Freunde der Freiheit hier im Saal und alle, die uns hier folgen.

Auch von meiner Seite Ihnen und Ihren Familien alles Gute für ein gesundes, gesegnetes neues Jahr. Erlauben Sie mir die Bemerkung, dass es mich mit Freude, mit Stolz, mit Dankbarkeit erfüllt, heute hier sprechen zu dürfen. Mit Dankbarkeit für das Vertrauen, das mir entgegengebracht wird, mit Dankbarkeit aber auch für die Gastfreundschaft der baden-württembergischen Freien Demokraten hier.

Und Michael, Du weißt, auch als Preußin bin ich immer gern in Baden-Württemberg. Ich finde, hier spürt man die Tradition: eine deutsche Freiheitstradition  und natürlich die unserer politischen Heimat, der Freien Demokraten. Und dass das gar nicht so selbstverständlich ist, heute hier sprechen zu dürfen, hat ja noch einen anderen Grund. Als vor 30 Jahren am 6. Januar 1990 Hans Hans-Dietrich Genscher hier sprach, da sprach er von den Deutschen in der DDR, die europäische Freiheitsgeschichte gestalten. Daran gilt es auch heute zu erinnern. Das hat mit beigetragen dazu, dass wir uns heute hier sehen. Und ich finde, das ist ein guter Grund, mit Zuversicht in dieses Jahr zu gehen und an diese Geschichte zu denken, meine Damen und Herren. ((Applaus))

Und das zeigt zugleich unabhängig von allen Diskussion, die manche jetzt anfachen, wann numerisch ein neues Jahrzehnt beginnt: Wir spüren doch alle ganz unabhängig davon, dass eine Zeitenwende da ist. Dass die Freiheit unter Druck steht, dass dieses Jahrzehnt, wann immer es beginnt, besondere Herausforderungen für uns bereithält, dass die Freiheit von innen und außen bedroht wird, dass viele da sind, die sich gelenkte Demokratie, gelenkte Wirtschaft oder gelenkte Biografien wünschen. Und da haben wir eine ganz besondere Aufgabe.

Und wir haben hier das Motto: ,Bleiben wir frei. Denken wir groß.' Das bedeutet auch, dass es darum geht, Freiheit zu verteidigen. Aber nicht nur im Sinne einer sozusagen progressiven Nostalgie nur Errungenschaften zu verteidigen, – das ist auch wichtig, denn wir haben was zu verteidigen und wir haben Errungenschaften in dieser Bundesrepublik - sondern auch nach vorne gerichtet den Mut zu haben, groß zu denken, um die Handlungsfähigkeit und die Glaubwürdigkeit dieser liberalen Demokratie unter Beweis zu stellen. Das fordert uns in diesem Jahrzehnt ganz besonders heraus. Ich bin überzeugt, dass ein Liberalismus, der diese Bewährungsprobe bestehen will, dass der sensibel und robust zugleich sein muss. Er muss sensibel sein dafür, verschiedene Arten von Gefährdung zu erkennen und zu unterscheiden. Und er muss auch robust darin sein, klar zu benennen, was eine Gefährdung der Freiheit ist oder nicht – unabhängig davon, dass diese unterschiedlich geartet sein können. Und er muss robust in dem Sinne sein, dass er zu klaren Antworten fähig ist, zu Handlungsfähigkeit. Lassen Sie mich das an drei Feldern mit aktuellen Beispielen untermauern.

Das eine ist für uns ganz wichtig; die gesellschaftliche und politische Freiheit, die Liberalität im Inneren. Und da haben wir in diesen Tagen sehr viel Anlass zu sprechen über den Stil der Debatten in unserem Land, über die Frage des staatlichen Gewaltmonopols und über Meinungsfreiheit. Und es wurde ja angesprochen, meine Kollegin, Judith Skudelny wird mit einer feigen Morddrohung hier bedroht, es gibt Anschläge auf Journalisten, auf Politiker. Es gibt Angriffe auf Polizisten. Und ich finde, da ist es ganz klar gerade für eine liberale Bürgerrechtspartei zu sagen, wir müssen das Gewaltmonopol des liberalen Rechtsstaates verteidigen. Niemand hat das Recht, mit der Begründung einer tatsächlich oder vermeintlich höheren Moral das Recht in die eigenen Hände zu nehmen und mit Gewalt durchzusetzen, was seine oder ihre Argumente nicht vermögen. ((Applaus))

Und das ist in diesen Tagen leider nicht so selbstverständlich und muss gesagt werden. Und das ist übrigens auch ein wichtiges Thema, gerade für eine Bürgerrechtspartei, denn wir brauchen für freie Debatten, in denen sich die liberale Demokratie bewährt.

Wir müssen Einschüchterung entgegentreten. Das tun wir als freie Demokraten in den klassischen Bürgerrechtsthemen, wenn Sie daran denken, dass im Volkszählungsurteil das Bundesverfassungsgericht genau damit argumentiert hat, dass durch zu viel Überwachung und Datensammlung kein Einschüchterungseffekt entstehen darf wie Bürger sich verhalten, was sie noch tun. Das machen wir zum Thema, wenn wir heute den Vorschlägen der Bundesjustiz-Ministerin entgegentreten, Passwörter offenzulegen und damit die Privatsphäre der Bürger zu gefährden. Aber das muss eben nicht nur im Netz gelten, da unbedingt, auch auf den öffentlichen Plätzen unseres Landes oder in den Universitäten, wo Meinungsaustausch stattfinden muss. Auch da müssen wir dafür sorgen. Auch da stehen wir Freien Demokraten dafür, dass die Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren gilt, auch nicht das Recht des Lauteren oder des Gewaltbereiteren.

Und die Debatten der letzten Tage haben übrigens auch gezeigt, wenn es um manche missglückte Satire, um Tweets geht, wo wir ganz andere Herausforderungen zu meistern haben: Wir brauchen auch Bürger, die Debatten so führen, dass man andere Meinungen aushält, ohne sie zu diffamieren, nur weil andere sie auch vertreten, die man für unappetitlich hält. Wo man für alle Meinungen, die auf dem Boden des Grundgesetztes stehen, auch Toleranz aufbringt und wo man Satire- und Meinungsfreiheit und Respekt allen gleichermaßen zugesteht, meine Damen und Herren. ((Applaus))

Nur so werden wir auch wieder Debatten erleben, an deren Ende nicht nur Verlierer stehen wie bei der Debatte, die hier über die Feiertage stattfand über Generationen und vermeintliche und tatsächliche Satire, sondern Debatten, die wieder dazu führen, dass demokratische Entscheidungen Akzeptanz finden, dass sie legitimiert sind.

Und wir stehen wie keine andere politische Kraft dafür, dass diese gesellschaftliche und politische Freiheit für uns untrennbar mit der wirtschaftlichen Freiheit verbunden ist. Andere wollen das trennen. Wir erleben eine ganz ernste Kampfansage an die Soziale Marktwirtschaft. Michael Theurer hat es gerade richtig angesprochen; nicht nur durch Kevin Kühnert oder auch Robert Habeck, der mit Enteignungen liebäugelt, sondern das alles fällt ja auf einen Resonanzboden. Warum gibt es dagegen relativ wenig Widerspruch? Warum gibt es eine Faszination, ja geradezu eine Erotik offenbar dieser radikalen Vorschläge, die so wenig zu tun haben mit der freiheitlichen Ordnung unseres Grundgesetzes. Das muss uns als Freunde der Sozialen Marktwirtschaft doch umtreiben. Und wir sehen durchaus Probleme und Herausforderungen. Wir sehen, dass es ein unhaltbarer Zustand ist, wenn immer noch das Elternhaus mehr über den Bildungserfolg junger Menschen entscheidet, über ihren Bildungsweg als eigene Leistung. Das wollen wir angehen, liebe Freunde. ((Applaus))

Und ((Applaus)) wir sehen auch, dass es für viele Menschen zu schwierig ist in unserem Land, sich ein eigenes Vermögen, Eigentum aufzubauen zum Beispiel. Aber wir ziehen völlig andere Schlüsse daraus als Kevin aus Westberlin und andere. Wir haben nicht nur aus der Geschichte gelernt, wir sind schon immer für Marktwirtschaft. Wir wollen wirklich Freiheit und Verantwortung. Und da muss man nicht bis in die DDR schauen, auch das wäre gut bei dem Thema. Man kann nach Venezuela und anderswo schauen, und man sieht Sozialismus, der macht nicht frei und der macht nicht sexy, der macht arm. ((Applaus))

Und deshalb ((Applaus)) gehen wir an diese wichtigen Themen und auch an soziale Fragen mit sozialer Sensibilität, aber eben auch mit dem Wissen darum, was praktikable Lösungen sind. Und das, was die Sozialdemokraten – und ich würde es nicht ansprechen, wenn es nicht für die Herausforderung der Freiheit so wichtig wäre, denn die Situation ist ja tragisch bei denen - was die vorschlagen, das ist ja von einem kapitulierenden Menschenbild geprägt. Wenn ich Ungerechtigkeiten feststelle, wenn ich sage, es muss mehr Durchlässigkeit, mehr Aufstiegschancen geben – für uns ein ganz wichtiges Thema – oder mehr Chancen zur Eigentums-, Vermögensbildung, dann muss ich doch diese Chancen schaffen, statt zu resignieren und zu sagen, es gibt eh keine Gerechtigkeit, keine Leistungsgerechtigkeit, da muss ich nur noch umverteilen.

Wir wollen Bildung als Bürgerrecht durchsetzen. Und der Geist, der 1969 dieses Aufstiegsversprechen und diese Idee, Bildung zu fördern für Alle, beflügelt hat, der war eben ein optimistischer Geist. Dass nämlich mit besseren Rahmenbedingungen jeder und jede sich entfalten kann und aus ihren Talenten etwas machen kann und nicht, dass umverteilt wird. ((Applaus)) Und ((Applaus)) sehr geehrte Damen und Herren, das machen wir zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, da, wo wir Verantwortung tragen, wo in der Bildungspolitik mit Talentschulen auch in schwierigen Situationen Talente gefördert werden sollen oder – ist mir auch sehr sympathisch – Schreiben nach Gehör abzuschaffen.

Das klingt erstmal altmodisch, aber ((Applaus)) gerade die ganz basalen, die Grundfähigkeiten, die Kulturtechniken, die in der Grundschule vermittelt werden, die sind wichtig für einen chancengerechten Start. Dafür, dass alle Kinder Lesen, Schreiben, Rechnen können, dann Inhalte, die sie interessieren, sich erschließen können, das ist der wichtige Start. Darum geht es für uns. Und das endet nicht mit der Grundschule, ((Applaus)) sondern wir nehmen die Herausforderung der Digitalisierung auch da an, indem wir sagen, auch im mittleren und höheren Alter muss eine zweite Ausbildung, ein zweites Studium bei uns förderfähig sein. Deshalb schlagen wir das Midlife-BAföG vor. Denn wir wollen, dass keine Biografie eine Sackgasse ist; dass jeder und jede sich mit Einsatz, Bereitschaft und gutem Willen aus schwierigen Situationen wieder herausarbeiten kann, liebe Freunde. ((Applaus))

Der zweite Teil dieses Themas neben der Durchlässigkeit, den Bildungschancen, ist die Frage: Haben bei uns viele Menschen die Möglichkeit, Eigentum zu bilden, Vermögen zu bilden, aus ihrem selbstverdienten Geld mehr Netto vom Brutto zu haben und sich etwas aufzubauen? Und da gibt es viel zu tun. Das betrifft natürlich die Grunderwerbsteuer, wo wir vorschlagen, für die erste selbstgenutzte Immobilie einen Freibetrag zu haben. Das betrifft die Frage, Altersvorsorge endlich zu ermöglichen, zum einen nicht durch eine unsinnige Finanztransaktionssteuer Kleinanleger zu bestrafen, aber auch nicht eine Finanzpolitik zu machen, die diese Staatsschuldenkrise verlängert und die Nullzinspolitik und die Enteignung der Sparer weitertreibt. ((Applaus))

Und schließlich ist Wohnungsnot ein wirklich, wirklich ernstes Thema und ein Problem für Menschen, die ihr Leben gestalten wollen. Aber gerade wem es ernst ist, der muss doch nach echten Lösungen suchen. Und wenn ich mir das Tempelhofer Feld in Berlin ansehe, dort könnten sofort so viele Wohnungen gebaut werden wie es in Berlin leider im Moment auch zum Beispiel obdachlose Menschen gibt. Als Senat immer weniger Wohnungsbaugenehmigungen zu geben und solche Flächen unbebaut zu lassen, das ist unterlassene Hilfeleistung, liebe Freundinnen und Freunde. ((Applaus)) Denn Mietpreisdeckel und Mietpreisbremsen, die helfen bestenfalls, aber auch nicht wirklich denen, die schon eine Wohnung haben. Aber wer wirklich händeringend eine sucht, bekommt dadurch leider keine.

Und nun ist es übrigens so: nicht nur bei den Sozialdemokraten ist die Soziale Marktwirtschaft nicht mehr in guten Händen. Man weiß ja gar nicht, wo man dort die Union noch suchen soll. Es reicht nicht wie Herr Altmaier es macht, einen Saal im Bundeswirtschaftsministerium nach Ludwig Erhard zu benennen. Die Dienstpflicht scheint jetzt der Phantomschmerz konservativer Profilbildung zu sein. Wenn der Wirtschaftsflügel der Union immer – ich sage mal die Stichworte Soli-Abbau, kalte Progression, Bürokratie-Abbau – wie ein Tiger startet und wie ein Bettvorleger landet in der Union, dann sucht man das jetzt zu kompensieren über so unsinnige Vorschläge wie eine Dienstpflicht für junge Menschen. Das löst kein Problem. Es stellt junge Menschen unter den Verdacht, sich nicht längst zivilgesellschaftlich sehr stark zu engagieren und es ist einfach ein untauglicher Vorschlag, der ablenkt davon, dass die Union kein Profil mehr hat, wo wir sie bräuchten bei der Marktwirtschaft, liebe Freundinnen und Freunde. ((Applaus))

Und die Grünen wiederum: Wenn Herr Habeck sagt, Verbote seien die Voraussetzung von Freiheit, dann sage ich dazu mal ganz gelassen Verbote gab es schon, bevor es die Grünen gab, auch die Straßenverkehrsordnung, die er gern zitiert, aber Verbote sind einfach eine Möglichkeit staatlicher Eingriffe, aber in den seltensten Fällen die beste und klügste. Und diesen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in unserem freiheitlichen Rechtsstaat, den gab es auch schon vor den Grünen. Insofern finde ich, können wir in diese Debatten sehr gelassen gehen, Verbote ohne Schaum vor dem Mund, aber mit guten Argumenten abzulehnen, liebe Freunde. ((Applaus))

Was ich spannend finde: die neue Unübersichtlichkeit. Diesen Begriff benutzen ja viele für die Weltordnung, für die politische Situation im Allgemeinen. Nach meinem Eindruck ist für unsere Kritiker zum Teil eine neue Unübersichtlichkeit ausgebrochen. Ich habe am Freitag im Morgenmagazin die Frage gestellt bekommen, man wisse gar nicht, für wen wir Politik machen. Die Facharbeiter, die Bauern oder vielleicht noch weitere Gruppen? Da muss ich sagen: Ja, wir machen Politik für alle, die Freiheit und Verantwortung schätzen, egal welchen Beruf sie haben, ((Applaus)) egal aus welcher Schicht sie kommen; für alle, die unser Lebensgefühl teilen, die Aufstieg wollen durch eigene Leistung, die sozialen Ausgleich wollen, aber nicht mit der Gießkanne, sondern würdewahrend und zielgenau. Die sind bei uns herzlich kommen.

Und wenn manch andere dabei immer noch Worte wählen, die aus der Zeit gefallen sind, ich sage nur Herr Walter-Borjans, was hat der für ein Bild von Arbeitnehmern, wenn er mit der Frage, Arbeitnehmer erreichen zu wollen, den Begriff  Arbeiterführer verbindet? Nach meinem Verständnis, und ich denke nach unserem Verständnis, sind Arbeitnehmer nicht auf der Suche nach einem Führer. Arbeitnehmer wollen Piloten und Unternehmer ihrer eigenen Biografie sein und auch dafür treten wir als Freie Demokraten ein, liebe Freunde. ((Applaus))

Schließlich gilt unser Verständnis von Freiheit, von Menschenrechten auch weltweit. Und ebenfalls vor 30 Jahren hat hier Hans-Dietrich Genscher gesagt, ein geeintes Deutschland, was damals noch nicht ganz klar war, aber schon auf der Agenda, das wird zu mehr und nicht zu weniger Stabilität für Europa führen. Ich finde, das sollte uns heute Verpflichtung sein. Die Bundesregierung, die will zwar ein stabiles Europa, sagt sie, aber sie erklärt nicht wie man sich dieses Europa vorzustellen hat. Sie antwortet nicht auf die Reformvorschläge anderer. Und das beunruhigt unsere Partner, unsere Verbündeten. Erwachsene Freiheit heißt Verantwortung. Das gilt auch für uns in Europa und in der Welt. Und liberale Außenpolitik, die zeichnet sich durch Berechenbarkeit aus, die will Dialog, die will Diplomatie. Sie weiß allerdings auch, dass Verteidigungsbereitschaft und Abschreckungsfähigkeit wichtig sind. All das sollten wir auch unseren Bündnispartnern bieten und verlässliche Partner sein. Darauf kommt es in nächster Zeit ganz besonders an, liebe Freundinnen und Freunde. ((Applaus))

Und schließlich in diesem Jahr, was wir jetzt beginnen, sind wir auch in dem Jahr 30 Jahre nach dem ganz turbulenten Jahr zwischen Mauerfall und deutscher Wiedervereinigung. Und ich finde, wir sollten das zum Anlass nehmen, zum einen über das viele Gelungene zu sprechen, denn es ist so viel mehr gelungen in diesem Prozess, für den es kein Vorbild, keine Blaupause, kein Lehrbuch gab, – insofern auch interessant für die Herausforderungen, die jetzt vor uns stehen – in dem sehr, sehr viel gelungen ist. Und zugleich nicht manche Fehler der letzten 30 Jahre wiederholen. Vielleicht auch manchmal Fehler, die die Kommunisten und Karl Marx gemacht haben, wenn es hieß: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Da mag was dran sein, aber wenn ich mir ansehe, wie manche Stimmung heute in unserem Land ist, trotz guter persönlicher Lebenssituation, dann bestimmt auch das Bewusstsein das Sein. Und wir sollten in diesem dreißigsten Jahr der Deutschen Einheit nicht mehr nur über Geld, Fördermittel, Infrastruktur, die alle wichtig und richtig sind für unsere ganze Republik sprechen, sondern auch darüber: Was verbindet uns, was macht uns aus und was ist eine gemeinsame Identität? Ein zeitgemäßer Patriotismus, der uns auch gemeinsam Kraft gibt, unsere liberale Demokratie zu verteidigen! ((Applaus))

Und eine Sache finde ich dabei wirklich, für diesen gesamtdeutschen Dialog auf Augenhöhe wichtig. Ich habe in einer Dokumentation in diesen Tagen über dieses spannende Jahr 1990 – flapsig und nett gemeint, aber doch bezeichnend – die Bemerkung gehört, dass bei manchen schwierigen Situationen in den letzten 30 Jahren man sich fragte, wen haben wir uns da angelacht mit den Ostdeutschen. Nun mag sich das mancher gefragt haben. Vielleicht mancher auch bei mir. Aber diese Haltung, Reinhold Maier, Hans-Dietrich Genscher und andere, die wussten noch, man hat sich damals nicht jemanden angelacht, sondern das waren Deutsche, die ohne eigenes Verschulden, denn es war weder Verdienst noch Schuld einzelner, in welchem Teil der Republik und in welcher Besatzungszone sie zur Welt gekommen sind, erst später zum Geltungsbereich des Grundgesetzes kommen konnten. Und wir sollten deshalb ohne eine Arroganz von oben herab, wer schon länger Bundesbürger sei oder nicht, in diesen Dialog treten.

Und ich finde, wir haben trotz der großen Schwierigkeiten übrigens großen Grund zur Zuversicht für diese Herausforderung für die liberale Demokratie. Wenn wir nicht wie das Kaninchen vor der Schlange als Westen insgesamt, als Liberale vor diesen Herausforderungen stehen. Denn es gibt so viel Grund zur Zuversicht. Dass in den letzten zwei Jahren so viele Bücher und Aufsätze über den vermeintlichen Tod des Liberalismus erschienen sind, ist eigentlich schon wieder ein Zeichen, wie sehr er lebt. Denn das unterscheidet uns von autoritären Systemen, dass die Probleme, die Krisen, die Verwundbarkeit dieses besten Systems, das wir jemals hatten, offen diskutiert werden. Haben Sie in den 80er Jahren in autoritären Staaten des Kommunismus Bücher über den Niedergang des Kommunismus in der Buchhandlung gefunden?

Das zeigt aber unsere Herausforderung. Dass wir mit dieser Verwundbarkeit des Liberalen, der Demokratie, verantwortungsvoll umgehen. Dass wir die Krisen annehmen, dass wir Lösungsvorschläge machen, dieses System nicht selber schlecht reden, sondern positiv fortentwickeln als selbstkritische Kämpfer. Lasst uns das tun und alle Bürgerinnen und Bürger dazu einladen, die es mit uns tun wollen. Am besten mit Gestaltungsmacht, aber immer mit klarem Kompass. Vielen Dank. ((Applaus)) “

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