WESTERWELLE: Die plumpen Vorurteile Naomi Kleins
Berlin. Der FDP-Partei- und -Fraktionsvorsitzende DR. GUIDO WESTERWELLE schrieb für die "Literarische Welt" (heutige Ausgabe) als Gastbeitrag die folgende Rezension des Buches "Die Schock-Strategie" von Naomi Klein:
"Von Brasilien bis China, von Sri Lanka bis Irak, von Russland bis Israel, von Polen bis Chile, von Südafrika bis in die USA: Naomi Klein galoppiert durch die Welt. Ihr Pferd heißt Vorurteil.
Gleich zu Beginn ihres neuen Buches ist die Autorin schon entsetzt. Sie ist nach Louisiana gereist, kurz nachdem der Hurrikan "Katrina" 2005 dort gewütet hat. Sie trifft Menschen, die Hilfe brauchen. Und was hört Naomi Klein? Unternehmer, die den Neuanfang auch als Chance begreifen. Entwickler, die maroden sozialen Wohnungsbau durch Eigentumswohnungen ersetzen wollen. Bildungspolitiker, die wüste Verwahranstalten in den überfluteten Schwarzen-Ghettos durch bessere Schulen mit mehr elterlicher Wahlfreiheit ersetzen möchten.
Im Süden der USA wütete das Wetter. Global ist es der 2006 gestorbene Milton Friedman, "der Oberguru des skrupellosen Kapitalismus und der Mann, der das Regelwerk für die gegenwärtige, hypermobile Weltwirtschaft verfasste", wie die 1970 geborene kanadische Publizistin und Globalisierungskritikerin schreibt. Sie sieht Friedmans "Kerndogma" ("Nur eine Krise - eine tatsächliche oder empfundene - führt zu echtem Wandel") als universell angewendetes Rezept mit grausigen Ergebnissen. Der freie Markt hängt von der Macht des Schocks ab: So lautet Naomi Kleins Kernthese.
Die spätestens durch ihr Buch "No Logo!" bekannt gewordene Schriftstellerin nimmt dieses starre Motiv und dekliniert es für verschiedene Länder durch. Das Motiv hat einen einfachen Namen: Verrat. Kleins immer wiederkehrende Argumentation lautet, es habe jeweils in einem Land eine Umbruchsituation gegeben, die die Chance zur Neuverteilung des gesellschaftlichen Wohlstands geboten habe, doch stattdessen seien die Interessen des Volkes verraten worden, indem der internationale Kapitalismus, kurz: die Chicago-Schule der neoklassischen Volkswirtschaft, sich mit brutalsten Mitteln des jeweiligen Landes bemächtigt habe.
Dieses Muster tauft sie "Katastrophen-Kapitalismus". Dessen Aufstieg hebt sie in den Untertitel ihres Buches. So sei es Polen nach der Danziger Solidarnosz-Revolution ergangen, dies habe China nach dem Tienanmen-Massaker erlebt, Südafrika nach der Apartheid, Russland nach der Implosion der Sowjet-Macht, Chile nach Allende, und in jüngster Zeit die USA nach dem 11. September, der amerikanische Süden nach "Katrina", Südostasien nach dem Tsunami und der Nahe Osten nach dem Irak- und dem Afghanistan-Krieg.
Die Kriegsgewinnler raffen erst zusammen, was nur zu bekommen ist, und schotten sich dann, so Naomi Klein, mit Mauern und Stacheldraht ab. Sie errichten Hochsicherheitszellen und nennen jene, die draußen bleiben müssen und meutern, eben "Terroristen". Als wichtigsten Profiteur dieser Entwicklung identifiziert sie ausgerechnet Israel. Die gesunde Wirtschaft Israels gehe "zu einem großen Teil auf das Konto der cleveren Strategie, sich als so etwas wie ein Einkaufszentrum für Sicherheitslösungen zu positionieren". Daraus folgert die Autorin, dass im Heiligen Land niemand mehr ein Interesse an einem wirklichen Frieden haben könne: "Israel stellt einen Extremfall dar, doch die Art von Gesellschaft, die dort geschaffen wird, wird möglicherweise kein Einzelfall bleiben. Der Katastrophen-Kapitalismus-Komplex gedeiht unter den Bedingungen des permanenten, auf kleiner Flamme kochenden Konflikts." An anderer Stelle sagt sie noch deutlicher: "Offenkundig hat die israelische Wirtschaft keinen Grund mehr, Kriege zu fürchten." Dies ist ein unglaublicher Zynismus angesichts des Umstands, dass der Staat Israel sich Nachbarn gegenüber sieht, von denen etliche sein Existenzrecht bestreiten.
Naomi Klein handelt nach der Devise: Besser irgendeine These als gar keine. Sie hält eine Welterklärung bereit, eine Version vom "Ende der Geschichte". Scheinbar fügt sich jedes Land und jede Umbruchsituation in ihr Muster. Die Schwäche dieses Musters ist natürlich eben dies: Dass es vorgibt, alles zu erklären. Derlei leisten nur Gedankengebäude, die hermetisch daherkommen, die Widersprüche aufsaugen und als Bestätigung der eigenen These begreifen: Widerrede ist Ketzerei. Kommunismus und Psychoanalyse funktionieren so, der globale Anti-Globalisierungsfeldzug auch. Naomi Kleins Verehrer dagegen wittern in ihrer 763-Seiten-Arbeit bereits eine Art Bibel.
Was ihre Arbeitsweise anbelangt, mischt Naomi Klein die Exegese von Studien und Statistiken, von Politik und Wirtschaftsgeschichte mit Zeitungsrecherche und persönlichen Eindrücken aus Gesprächen überall auf der Welt mit solchen Personen, die sich selbst als Sprecher der Entrechteten begreifen und eben deshalb von Frau Klein besucht und zitiert werden. Es treten also auf: Kronzeugen des Verrats, den die jeweils neuen Machthaber an ihrem Volk begangen haben sollen. Durch diese Passagen erhält Kleins Traktat etwas Reportagehaftes, Journalistisches. Ansonsten kommt es mit dem großen, schweren Hammer der Verdammnis daher. Brechungen, Leichtigkeit, gar Ironie - so etwas leistet sich die Autorin nicht. Die Welt, die sie beschreibt, ist im Kern finster und böse. Wer jede Gesellschaft des Globus in ein Raster pressen muss, hat keinen Spielraum für Zwischentöne.
Nehmen wir ihr Beispiel Südafrika. Die Autorin behauptet, aus einem Land "mit kalifornischem Lebensstandard für Weiße und kongolesischem Standard für Schwarze" sei ein ökonomisch noch viel zerrisseneres Land mit einer "Kluft zwischen Beverly Hills und Bagdad" entstanden. Die zentralen, praktischen Fehler während des Übergangs von der Apartheid zur politischen Demokratie seien gewesen, die Zentralbank nicht der neuen, schwarzen Regierung zu unterstellen und das Finanzministerium in weißer Hand zu belassen. Der meist weiße Privatbesitz sei zu sehr geschont worden; eine Landreform zugunsten armer Schwarzer sei so nahezu unmöglich geworden.
Der globale Kapitalismus habe sein Netz ausgeworfen, "das der neuen Regierung die Hände band". Die Privatisierung einstiger Staatsunternehmen sieht die Autorin als Raub von Aktivposten, als "moderne Form der Ausbeutung". Naomi Klein zeichnet Nelson Mandela als Verräter wider Willen und seinen Nachfolger Thabo Mbeki, den heutigen Präsidenten der Kap-Republik, als vom Thatcherismus infizierten Ober-Schurken - schließlich hatte Mbeki zur Zeit der "Eisernen Lady" in Großbritannien studiert.
"Von allen Einschränkungen, denen die neue Regierung unterworfen war, war der Markt die schlimmste", schreibt Naomi Klein. Sie schreibt es über Südafrika; sie könnte es über jedes Land behaupten. Hier - und in den Israel-Passagen - wird die Nähe ihrer Thesen zur globalen Verschwörungstheorie sichtbar.
Viele Seiten mit vielen Fußnoten sind noch kein Tiefgang. Dieses Buch belegt, dass man auch für eine krude Weltsicht mit viel fleißiger Arbeit Berge von Material zusammentragen kann. Es zeigt, dass jede Weltgegend in das Deutungsraster der Globalisierungskritiker hineingepresst werden kann. Es ist ein Zeugnis von grenzenlosem Misstrauen gegen den einzelnen Menschen, der hier nur eine einzige Rolle hat: die des ohnmächtigen Opfers.
Wäre dieses Buch weniger empirisch, müsste man es wohl ein Pamphlet nennen. So ist es ein zahlenreiches Dokument. Ein Dokument einer Weltsicht, die viel zu erklären vorgibt, sich aber letztlich nur empört. Ein Dokument einer Ideologie, die vorgibt, in romantischer Manier für die Unterdrückten und Entrechteten zu kämpfen, die aber kaum kaschieren kann, wie sehr sie von Verlustängsten geplagt wird.
Die Geschichte unserer Zeit ist nicht die Hegemonie der globalen Zentren, sondern der Aufstieg der einstigen Peripherie. Die Schwellenländer kommen, und niemand dort kümmert sich um altlinke oder neulinke Deutungsmuster von unbehausten Intellektuellen, die sich für andere empören wollen. Es ist ein merkwürdiges Wechselspiel, dass "der Westen" an Gewicht verliert - und einige seiner Intellektuellen dies zu kompensieren trachten, indem sie ihre Kritik an der bösen Hypermacht des Westens zu globalisieren versuchen. So, wie sich der Globus verändert, kommen den Naomi Kleins dieser Welt die Opfer abhanden. "Aber Ihr müsst Euch doch empören!", ruft sie zwischen den Zeilen. Diese Verlustangst übersetzt sich in drastische Wertungen.
Die Wirtschaft ist quasi für alles Elend der Welt verantwortlich, für jedes Unrecht und für jeden Folterknecht. Bis auf die Pest ist eigentlich alles sonstige Übel vom Liberalismus gemacht - den die Autorin unwissenderweise als Neoliberalismus bezeichnet. Ihre krude Metapher für das Böse der Wirtschaft sind die Elektroschock-Versuche der CIA in den 50er Jahren.
Dies ist kein kluges Buch, sondern ein banales und, jenseits der vielen Zahlen, ein sehr simples. Beifall wird es bekommen. Oskar Lafontaine beispielsweise könnte es lesen und sich hernach ereifern: Da sehe man doch, da könne man es doch schwarz auf weiß lesen, wie dringlich er sei, der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", den er zusammen mit Fidel Castro und Hugo Chavez errichten will. Naomi Klein lobt in ihrem Schlusskapitel die neue Linke in Südamerika ausführlich und vergisst auch nicht, eine Umfrage zu zitieren, wonach 57 Prozent der Venezolaner mit der "Demokratie" in ihrem Land zufrieden seien.
Solche Leser, die sich daran ergötzen, dass die ganze Welt über einen Kamm geschert wird, werden sich auch nicht daran stören, dass zentrale Entwicklungen ausgeblendet werden. Die wichtigste: Die Globalisierung ist keine Ideologie, da mag die neue Linke noch so oft über den "Globalismus" schimpfen. Sie ist ein Faktum. Sie hat mehreren Hundert Millionen Menschen - vor allem in Asien, aber auch in Südamerika - neuen Wohlstand beschert. Und wir Deutsche werden dieser Herausforderung nur gerecht, wenn wir aufhören, die Globalisierung zu verteufeln.
Sie bietet Chancen, die jede Nation nutzen kann. Ihr wohnt auch ein ur-demokratischer Gedanke inne. Denn sie schafft zunehmend einheitliche Wettbewerbsbedingungen. Und sie setzt immer stärker auf einen Rohstoff, der nichts mit den Willkürlichkeiten fossiler oder mineralischer Ablagerungen zu tun hat. Der zentrale Rohstoff für die Welt von morgen heißt nämlich Bildung.
Weil die Globalisierung in atemberaubendem Tempo erfolgt, besteht das größte Risiko darin, den Anschluss zu verlieren. Hierin liegt die Aufgabe für Europa. Ihre Chance übersetzt sich ins Leben jedes Einzelnen. Die globalisierte Welt kann, beispielsweise durch freien und fairen Handel, mehr Weltbürgern als jemals zuvor Wohlstand bringen. Der größte Fehler wäre, auf Abschottung zu setzen. Einen Ordnungsrahmen braucht die Globalisierung ohne Frage. Dafür gibt es die Welthandelsorganisation, und vielleicht brauchen wir auch eine Art Weltkartellamt. Naomi Klein aber will uns einreden, die Globalisierung sei eine finstere Verschwörung - und die einzige Chance liege darin, die Macht anonymer Märkte zu brechen.
Dabei übersieht sie, jenseits des Ökonomischen, noch einen wesentlichen ideellen Aspekt. Die Globalisierung ist die Chance, auch westlich-demokratische Werte und Haltungen in die ganze Welt zu tragen. Das Prinzip "Wandel durch Handel" hat selbst bei der Auflösung des Ostblocks in den 80er Jahren und beim Aushöhlen des Mauer-Regimes der DDR einen wesentlichen Beitrag geleistet. Erstaunlicherweise hat dies gerade auch der chinesische Ministerpräsident gesagt: Dort sei der weitere wirtschaftliche Aufbau ohne demokratische politische Reformen undenkbar. Naomi Klein fällt leider weit hinter den Erkenntnisstand der chinesischen Kommunisten zurück.
An der KP in Peking soll man Kritik üben. Die Globalisierung muss man nicht lieben. Aber der von Naomi Klein empfohlene Kurs eines diffusen Widerstands führt, höchst real, zu mehr Armut für alle. Soziale Marktwirtschaft und Freiheit gehören zusammen. Naomi Klein dagegen versteht Freiheit als etwas, das nur gegeben sei, wenn die Marktwirtschaft durch etwas anderes ersetzt werde. Durch was - nicht einmal dies verrät sie.
Dies ist ein plumpes Buch gegen die Globalisierung. Ich sage ihm eine hohe Auflage voraus."