WESTERWELLE-Interview für den "Spiegel"
Berlin. Der FDP-Partei- und Fraktionsvorsitzende DR. GUIDO WESTERWELLE gab dem "Spiegel" (heutige Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten PETRA BORNHÖFT und JAN FLEISCHHAUER:
Frage: Herr Westerwelle, Sie kennen Angela Merkel seit Beginn ihrer politischen Karriere. Zusammen mit ihr waren Sie sieben Jahre lang in der Opposition, im vergangenen Jahr traten Sie mit einem gemeinsamen Regierungsprogramm gegen Rot-Grün an. Wenn Sie nun ihre ersten acht Monate als Bundeskanzlerin betrachten: Haben Sie sich in ihr getäuscht?
WESTERWELLE: Jedenfalls bin ich politisch enttäuscht. Die Angela Merkel aus den Oppositionszeiten hat mit der Bundeskanzlerin Merkel zu wenig gemein. Sie verantwortet eine Politik, die sozialdemokratischer ist als die Politik unter ihrem Vorgänger Gerhard Schröder: Mehr Steuern, mehr Abgaben, mehr Schulden, mehr Bürokratie. Sie hat dafür viele Entschuldigungen. Aber wer die mächtigste Regierung seit Gründung der Republik anführt, kann nicht laufend mit Ausreden kommen, warum das Gegenteil von dem gemacht wird, was als richtig erkannt wurde.
Frage: Übertreiben Sie nicht? Der Koalitionspartner SPD ist nahezu gleich stark, daran kann ein Regierungschef nicht vorbeisehen.
WESTERWELLE: Die bürokratischen Übertreibungen des Antidiskriminierungsgesetzes waren längst ad acta gelegt, so war es im Koalitionsvertrag vereinbart, aber jetzt leben sie wieder auf. Es ist leider auch so, daß man die Union zu dem planwirtschaftlichen Murks in der Gesundheitsreform nicht drängen mußte.
Frage: Warum gibt die Kanzlerin der SPD so viel Raum?
WESTERWELLE: Sie unterschätzt die Möglichkeiten, die ihr das Amt bietet. Sie hat nach der Verfassung eine enorm starke Stellung, niemand kann sie aus dem Amt jagen, solange sie eine Mehrheit im Parlament hat. Sie bleibt sogar im Amt, wenn die Regierung zerbricht. Dann werden die SPD-Minister entlassen, aber nicht die Regierungschefin. Das wissen auch die sozialdemokratischen Bundesminister, die jetzt der schwarz-roten Regierung angehören, und dennoch setzen sie politisch mehr durch. Das kann einen
schon fassungslos machen.
Frage: Angela Merkel war bisher nicht bekannt dafür, zu weich und zu großherzig zu sein.
WESTERWELLE: Ich glaube, daß die Union nach der Bundestagswahl eine völlig falsche Schlußfolgerung aus ihrem Einbruch gezogen hat. Sie meint, sie sei im Wahlkampf zu ehrlich gewesen und hätte zu viele Reformen verlangt - alles Unsinn. Die Union hat die Wahl verloren, weil sie den Deutschen mit der Ankündigung einer höheren Mehrwertsteuer das Gefühl gegeben hat, es ginge mit dem Abkassieren weiter wie unter Rot-Grün. Sie hat sich von Paul Kirchhof distanziert, kaum war er nominiert, und damit ihren eigenen Finanzexperten zum Abschuß freigegeben. Dazu kam dann noch eine
anhaltende, verletzende Wählerbeschimpfung der Ostdeutschen durch den CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber. Aber diese Analyse ist tabu, bis heute darf nicht über die wahren Gründe für das Wahldesaster geredet werden. Statt dessen folgt die Union der selbstgefälligen Parole: Wir hatten Recht, aber Deutschland ist nicht reif für den Politikwechsel.
Frage: Vielleicht verändert sich der Blick auf die Wirklichkeit, wenn man im Kanzleramt angekommen ist.
WESTERWELLE: Wenn man plötzlich mit den Großen der Welt verkehrt, beeindruckt das natürlich. Eine deutsche Bundeskanzlerin spielt in der Champions League aller Staats- und Regierungschefs, erst recht, wenn sie eine so sympathische Frau ist wie Angela Merkel. Das mag die drängenden innen- und wirtschaftspolitischen Probleme nicht ganz so drängend und vor allem kleiner erscheinen lassen. Ich halte das für gefährlich.
Frage: Kann es nicht sein, daß Politiker nun einmal am Erhalt der Macht mehr interessiert sind als an der Lösung der Probleme des Landes?
WESTERWELLE: Politiker ohne Willen zur Macht sollten zum Theater gehen. Der Sinn von Politik ist es ja, die Macht zu bekommen, das als richtig Erkannte auch durchzusetzen. Aber das Streben nach Macht muß Grenzen in der Loyalität gegenüber den eigenen Wählern haben. Auch derjenige, der zur Macht will, darf heilige Versprechen nicht so behandeln, als wären sie ein lästiges Kaugummi unter dem Absatz. Ich stand vor der Alternative, mit meiner Partei Regierungsmacht zu übernehmen; ich wurde am Wahlabend vor 13 Millionen Fernsehzuschauern eingeladen, mit Herrn Schröder und Herrn Fischer in eine Ampelkoalition zu gehen. Ich habe das abgelehnt, weil ich mich an meine Wahlaussagen gebunden fühle, und deshalb nehme ich mir das Recht heraus,
die beiden Regierungsparteien zu kritisieren, wenn sie zynisch sämtliche
Wahlversprechen brechen.
Frage: Erkennt man schon nach acht Monaten den Charakter einer Kanzlerschaft?
WESTERWELLE: Jedenfalls die Richtung einer Regierung. Was jetzt nicht auf den Weg gebracht ist, kommt auch nicht mehr, es sei denn, man ist als Kanzler ein solcher Selbsterfindungskünstler wie Herr Schröder. Daß die sogenannte Große Koalition noch auf den Weg der marktwirtschaftlichen Erneuerung findet, traue ich ihr nicht zu. Ich bin inzwischen davon überzeugt, daß sie nicht einmal den regulären Wahltermin im Jahre 2009 erreichen wird.
Frage: Das klingt nach Zweckoptimismus. Was begründet Ihre Einschätzung?
WESTERWELLE: Der Zerfallsprozeß schreitet in einer Geschwindigkeit voran, die selbst mich überrascht hat. Die Auseinandersetzung zwischen den Regierungsparteien geht inzwischen sehr ins Persönliche, das schüttelt man nicht einfach aus den Kleidern, wenn man sich dann am Koalitionstisch wieder gegenübersitzt.
Frage: Auch in sozial-liberaler Zeit und unter Rot-Grün ging es zum Teil ziemlich rüpelhaft zu, dennoch haben diese Koalitionen die erste Legislaturperiode überstanden.
WESTERWELLE: Wenn die Bundeskanzlerin von einem prominenten SPD-Abgeordneten öffentlich quasi als stinkender Fischkopf bezeichnet wird, dann ist das einmalig. Ich will nicht ausschließen, daß bei meiner Einschätzung eines vorzeitigen Endes der Regierung auch etwas der Wunsch Vater des Gedankens ist. Aber meine Erfahrung sagt mir: Diese Ausfälle hinterlassen Narben. Was ein Teil der SPD sich nicht gegenüber der Kanzlerin traut, bekommt jetzt stellvertretend der Herr Bundespräsident ab. Von der Regierungschefin muß man erwarten, daß sie sich unflätige Angriffe aus den Reihen der eigenen Koalition gegen das Staatsoberhaupt verbittet. Als ich das neulich im Bundestag angemahnt habe, konnte ich bei den Unionsabgeordneten viel Zustimmung sehen.
Frage: Wann rechnen Sie mit einem Bruch?
WESTERWELLE: Nicht in diesem Jahr, aber vielleicht schon 2007. Ich bekomme jedenfalls sehr genau mit, wie sie in beiden Lagern darüber nachdenken, wie sie aus dieser Notgemeinschaft der Wahlverlierer wieder rauskommen.
Frage: Worauf stellen Sie sich ein, auf vorgezogene Neuwahlen?
WESTERWELLE: Wenn diese Regierung auseinander geht, dann gibt es entweder Neuwahlen, wofür ich immer wäre, weil ein klarer Schnitt und ein neues Votum der Bürger die sauberste Lösung ist. Es kann aber auch sehr gut sein, daß der Bundespräsident noch einmal in die Verfassung guckt und die Bundeskanzlerin dann auffordert, sich im Bundestag eine neue Mehrheit zu suchen. Und ich vermute, daß die Union und allen voran Frau Merkel ein massives Interesse hätten, zumindest zu sondieren, ob sie eine neue Mehrheit zustande bringen könnten.
Frage: Womit die FDP wieder im Spiel wäre. Was böte sich aus Ihrer Sicht an?
WESTERWELLE: Da anzuknüpfen, wo wir im Herbst vergangenen Jahres aufgehört haben. Angela Merkel und ich hätten nach der Bundestagswahl eine Jamaika-Koalition, also ein Bündnis aus FDP, Union und Grünen, ernsthaft sondiert. Entgegen allen Gerüchten, die anschließend verbreitet wurden, ist der Grund, daß es nicht soweit kam, nicht die traditionelle Unverträglichkeit zwischen mir und Herrn Fischer. Daß wir nie zu
ernsthaften Gesprächen kamen, lag an den Grünen und der CSU, die einen
solchen Kultursprung der eigenen Anhängerschaft nicht erklären mochten.
Frage: Die Lage ist heute anders als im September 2005?
WESTERWELLE: Ich beobachte mit Interesse, wie bei den Grünen eine völlig neue Diskussion in Gang gekommen ist, ausgelöst durch einen scheinbar belanglosen Satz von Joschka Fischer in seinem politischen Abschiedsgespräch im SPIEGEL, wo er einfach die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag benannte, die eben nicht nur eine Große Koalition zulassen. Dieser Hinweis war natürlich alles andere als belanglos, weil Fischer, das Orakel aus Princeton, genau wußte, was er damit lostrat. Viele bei den Grünen spüren deutlich, daß ihre Partei als Ein-Generationen-Projekt enden kann. Bei ihnen setzt sich die Erkenntnis durch, daß es ohne Macht und ohne Fischer sehr schwer wird.
Frage: Spitzengrüne wie der Parteivorsitzende Reinhard Bütikofer und der ehemalige Umweltminister Jürgen Trittin haben eine Koalition mit Ihnen gleich wieder ausgeschlossen. Es ist von Verrat die Rede.
WESTERWELLE: Das war zu erwarten. Wir sollten abwarten, in welche Richtung sich das entwickelt.
Frage: Sie glauben ernsthaft, eine Jamaika-Koalition wäre besser für das Land als eine Große Koalition?
WESTERWELLE: Das Beste wären beim Bruch der Koalition Neuwahlen. Ich bin
allerdings auch überzeugt, daß Schwarz-Rot, nach einem rot-rot-grünen Bündnis, die denkbar schlechteste Variante ist. Das sehen ja nicht wenige Bürger inzwischen genauso, wenn ich die jüngsten Umfragen richtig deute. Viele Bürger haben noch vor einem Jahr geglaubt, eine große Mehrheit im Bundestag werde auch Großes bewirken. Da ist jetzt Ernüchterung eingekehrt.
Frage: Schon das Wort Jamaika klingt nicht sehr vertrauenerweckend.
WESTERWELLE: Jamaika ist doch ein interessantes Land. Ich glaube auch, keiner bringt meine Person mit Rasta, Reggae und Kiffen in Verbindung.
Frage: Können Sie mal ein Beispiel nennen, wo FDP und Grüne in einem zentralen Politikfeld übereinstimmen?
WESTERWELLE: Eine echte Unternehmensteuerreform ist möglicherweise in einem
Kreis von Union, FDP und Grünen leichter zu erreichen als in einer Regierung, in der pausenlos der Klassenkampf ausgelebt wird.
Frage: Zählen Sie die Grünen inzwischen zum bürgerlichen Lager?
WESTERWELLE: In der grünen Partei herrscht nach wie vor ein deutlicher Hang zu Kollektivismus, Technologiefeindlichkeit und Staatsgläubigkeit. Was das Milieu angeht, aus dem sich die Grünen speisen, gibt es sicherlich auch Schnittmengen mit den Liberalen. Bei den Jungwählern sind wir heute erfolgreicher als die Grünen, das wäre vor fünf Jahren noch undenkbar gewesen.
Frage: Dürfen wir daran erinnern, daß Sie noch vor wenigen Monaten die Grünen als Schutzmacht der "Windrädchen" und "Feldhamster" verspottet haben?
WESTERWELLE: Damit wir uns nicht mißverstehen: Die Grünen bleiben der politische Gegner der FDP, sie werden nicht plötzlich zum strategischen Partner. Aber ich muß doch aus realpolitischer Notwendigkeit darauf hinweisen dürfen, was nach unserer Verfassungslage passiert, wenn diese Regierung platzen sollte.
Frage: Müßte der FDP-Chef nicht auch über eine Regierungskonstellation ohne Union nachdenken, die ja nach den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen ebenfalls möglich wäre?
WESTERWELLE: Alle anderen Varianten hängen von der SPD ab, und ich sehe mich im Augenblick nicht im Stande, den Weg der Sozialdemokratie vorauszusagen. Es bleibt abzuwarten, ob Kurt Beck den Kurs der Bundes-SPD verändert, ob ihm Korrekturen gelingen und er die wirtschaftsfeindliche Linke zurückdrängt.
Frage: Sie trauen ihm einen solchen Kraftakt zu?
WESTERWELLE: In den fünf Jahren als FDP-Vorsitzender habe ich jetzt vier Parteichefs der SPD erlebt, was mich etwas zurückhaltend sein läßt mit Prognosen über SPD-Vorsitzende. Aber es bleibt festzuhalten, daß Herr Beck, zusammen mit der FDP, Rheinland-Pfalz zu einem der erfolgreichsten Bundesländer gemacht hat. Anders als die Linken, die in der SPD die Backen aufblasen, hat er es geschafft, die Linkspartei aus dem Landtag herauszuhalten und die Grünen hinaus zu befördern. Das leichte Urteil über ihn - gemütlich, sympathisch, provinziell und Hauptsache, ordentlich was auf dem Teller - ist eine skurrile Unterschätzung.
Frage: Neben einem Bündnis mit der Union eröffnet sich mit Beck also für die FDP möglicherweise eine weitere Machtoption?
WESTERWELLE: Eine SPD à la Andrea Nahles ist für die FDP eine No-Go-Area. Ich muß aber zur Kenntnis nehmen, daß die Union in einem atemberaubenden Tempo einen völligen Agendawechsel vollzogen hat. Sie macht in weiten Teilen das Gegenteil von dem, was wir uns gemeinsam bis zur Bundestagswahl vorgenommen haben. Daraus ziehe ich die Lehre: FDP, gehe deinen eigenen Weg! Meine Partei muß den Ehrgeiz haben, dauerhaft zweistellige Ergebnisse zu erzielen, damit bei schrumpfenden Volksparteien stabile Zweierbündnisse möglich bleiben, wie in Niedersachsen, NRW und Baden-Württemberg. Wir werden unseren Standort nicht nach der Entwicklung der andern Parteien bestimmen, sondern Kurs halten mit dem Ziel des Politikwechsels und mit der nötigen Portion Pragmatismus, wenn es dann darum geht, den auch
parlamentarisch durchzusetzen.
Frage: Die FDP war zweimal an einem Machtwechsel in Deutschland beteiligt, einmal zu Willy Brandt 1969 und 1982 dann am Wechsel zu Helmut Kohl. Läßt sich daraus etwas lernen?
WESTERWELLE: Es gibt eine Konsequenz, die mir von den damaligen Akteuren, unseren Ehrenvorsitzenden Hans-Dietrich Genscher, Walter Scheel und Otto Graf Lambsdorff, immer wieder als Jüngerem nahegelegt wird: Nie das Ziel aus den Augen verlieren, und das heißt Politikwechsel durch einen Regierungswechsel. Die Gesprächsfähigkeit gehört in der Demokratie dazu.