08.12.2002FDP

WESTERWELLE-Interview für die "Welt am Sonntag"

Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende DR. GUIDO WESTERWELLE gab der "Welt am Sonntag" das folgende Interview. Die Fragen stellten ULRICH PORWOLLIK und MATTHIAS WULFF:

Frage: Herr Westerwelle, müssen Sie froh sein, dass Ihr Projekt 18 Plus scheiterte und Sie angesichts der Horrordaten aus der Wirtschaft nicht auf der Regierungsbank sitzen müssen?

WESTERWELLE: Im Gegenteil. Es wäre besser für Deutschland, wenn die FDP mitregieren würde. Rot/Grün ist die schlechteste Regierung, die wir im Nachkriegsdeutschland hatten. Man kann nicht froh sein, wenn Probleme verschleppt werden.

Frage: Reden Sie jetzt von der neuen Rot/Grünen Regierung oder der Alten?

WESTERWELLE: Die Bundesregierung kommt aus einer Legislaturperiode, die zu Recht unter dem Stichwort "ruhige Hand" aufgefallen war. Jetzt regiert eine "chaotische Hand", ohne jede politische Linie und ohne Ehrgeiz. Die von der SPD in dieser Woche als "Blut-, Schweiß- und Tränen-Rede" angekündigte Regierungserklärung vom Kanzler war doch nicht mehr als ein Sammelsurium der eingestandenen Hilflosigkeit. Von einem Bundeskanzler erwarte ich, dass er angesichts der dramatischen Krise auf die dieses Land zumarschiert, sagt: Das sind unsere Ziele und das sind die Maßnahmen, die wir dazu ergreifen wollen. Das muss ich dann noch nicht gut finden. Aber kein Konzept zu haben, ist ungenügend. Die Regierung hat keinen Faden, nicht einmal einen Rot/Grünen.

Frage: Sie sehen schwarz. Mäkeln rum. Glauben Sie nicht, dass das zu wenig ist. Und deshalb nur schadet?

WESTERWELLE: Die Zeit der Schönwetterreden ist vorbei. Ich will mir jedenfalls später nicht nachsagen lassen, ich hätte nicht vor der Entwicklung gewarnt.

Frage: Haben Sie einen gelben Faden?

WESTERWELLE: Wir haben ein klares ordnungspolitisches Konzept. Das heißt: Weniger Staat, mehr Freiheit im Sinne der Schule von Ludwig Erhard und Otto Graf Lambsdorff. Deutschland steht vor einer Krise, wie sie Großbritannien vor der Thatcher-Ära erlebte. Und wir werden Deutschland mit nicht identischen, aber ähnlich revolutionären Veränderungen umbauen müssen, wie es damals Margret Thatcher in Großbritannien tat. Denn wir laufen Gefahr, dass durch die Wirtschaftskrise das Vertrauen in unsere demokratischen Entscheidungsprozesse verloren geht. Es gibt doch in Deutschland mittlerweile eine ganze Generation von Jugendlichen, für die Massenarbeitslosigkeit selbstverständlich geworden ist. Da wird ein Samen gesät, der die Bundesrepublik in ein ganz gefährliches Fahrwasser bringen kann.

Frage: Sie wollen die Revolution. Wo fangen Sie an? Bei den Lobbyisten, dem Föderalismus, den Gewerkschaften?

WESTERWELLE: Das politische System wird nicht dadurch schlecht, dass wir eine schlechte Regierung haben. Aber das politische System muss an Haupt und Gliedern erneuert werden, damit die demokratischen Findungs-, Entscheidungs- und Verantwortungsprozesse neu sortiert werden können. Nehmen Sie den Föderalismus: Die vor Jahrzehnten angelegte Finanzverfassung ist immer mehr zu einer totalen Vermischung der verschiedenen staatlichen Ebenen mutiert. Wir haben keine klaren Verantwortlichkeiten mehr. Es ist für einen Bürger in Deutschland nicht mehr nachvollziehbar, wer ihm in welcher konkreten Situation welche finanzielle Belastung eingebrockt hat. Da brauchen wir eine klare Trennung " das ist übrigens ein Bekenntnis zu einem echten Wettbewerbsföderalismus. Die Mischfinanzierung würde ich dabei als erstes angehen wollen.

Frage: Verlangen Sie nicht ein bisschen viel. Immerhin hatten die Liberalen 16 Jahre Zeit. Solche reformerischen Großprojekte werden seit 20 Jahren diskutiert, ohne das eine Partei den Durchsetzungswillen gehabt hätte.

WESTERWELLE: Die einzige Erblast, mit der Rot/Grün im Augenblick zu kämpfen hat, ist die Erblast von Schröder an Schröder. Dass auch in der alten Koalition davor Fehlentscheidungen getroffen worden sind, versteht sich von selbst.

Frage: Welche Grausamkeiten hätte die FDP im Giftschrank?

WESTERWELLE: Unser Projekt für den Fall der Regierungsbeteiligung hieß: Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft. Wir haben vorgerechnet, wie man eine umfassende Steuerreform zwischenfinanzieren kann mit einem Volumen von knapp 30 Mrd. Euro ohne Selbstfinanzierungseffekte. Das setzt einiges voraus. Dass in Deutschland mehr für Subventionen ausgegeben wird als für Bildung ist doch eine Schieflage zwischen Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsgestaltung. Deshalb muss man die Subventionen kürzen. Der Bund hat ein Subventionsvolumen von rund 55 Mrd. Euro. Ich möchte, dass diese Subventionen teils wie die Steinkohlesubventionen komplett eingestellt und teils linear gekürzt sowie degressiv gestaltet werden, damit man den Zeitpunkt ihres Auslaufens kennt. Vorübergehenden Nothilfen dürfen keine Dauersubventionen sein, die ganze Wirtschaftszweige zu Süchtigen machen.
Dazu kommt: Es ist ein Unfug, dass der Staat Unternehmen ohne hoheitlichen Sinn betreibt, die defizitär wirtschaften und in Wahrheit auf den Markt gebracht werden müssten. Wir reden über eine nationale Erbsenreserve oder Anteile an Reisebüros im Ausland. Der Beteiligungsbericht des Bundes enthält fast 400 Unternehmensbeteiligungen. Wenn es Herr Eichel nicht kann, dann soll er einen Unternehmensberater beauftragen, der ihm einen klaren Plazierungsfahrplan der Beteiligungen aufstellt.

Frage: Was noch? Streichung der Eigenheimzulage?

WESTERWELLE: Überhaupt nicht.

Frage: Warum nicht?

WESTERWELLE: Ich bin sehr dafür, die Bemessungsgrundlage zu verbreitern, aber nicht, um die mangelnde Haushaltsdisziplin der Politik zu kompensieren. Wenn Sie an die steuerlichen Ausnahmetatbestände herangehen bis hin zur Steuerbefreiung von Nachtzuschlägen, darf das insgesamt nicht zu einer Steuererhöhung für die Betroffenen führen. Statt dessen sollte der Spielraum genutzt werden, die Steuertarife insgesamt zu senken.

Frage: Das würde auch die Kilometerpauschale betreffen ...

WESTERWELLE: ... um daraus zum Beispiel eine verkehrsmittel unabhängige Entfernungspauschale zu machen. Wir sind als einzige Partei bereit, an die steuerlichen Ausnahmentatbestände heranzugehen, aber eben nur, wenn die Steuertarife insgesamt gesenkt werden. Wenn Herr Eichel mit dem sogenannten Steuervergünstigungsabbaugesetz - was ja eine Sprachverwirrung ist, um das Wort "Verarschung" zu vermeiden " jetzt schon all das verfrühstückt, was wir brauchen, um die Steuertarife insgesamt zu senken, bindet er nicht nur seine unfähige Regierung, sondern auch die nächste, denn da damit wird eine weiter reichende Steuerreform noch schwieriger.

Frage: Und die Gewerkschaften auf den Scheiterhaufen?

WESTERWELLE: Dieses Land wird nicht auf die Beine kommen, wenn die Politik nicht bereit ist, sich auch gegen gut organisierte Interessensgruppen durchzusetzen. Frau Thatcher hatte Herrn Scargill, und Herr Schröder müsste sich eben mit Herrn Bsirske auseinandersetzen. Die Gewerkschaftsfunktionäre müssen in Deutschland, was ihren politischen Einfluss angeht, entmachtet werden. Wenn 75 Prozent der SPD-Abgeordneten zugleich einen Gewerkschaftsausweis haben, kann der im Grundgesetz vorgesehene Interessenausgleich nicht mehr fair stattfinden. Ich bin nicht gegen Gewerkschaften, im Gegenteil. Aber wenn sich beispielsweise in einem Betrieb 75 Prozent der Belegschaft mit der Unternehmensführung auf ein zukunftsgerechtes Lohnmodell verständigen, dann darf ein Gewerkschaftsfunktionär das nicht verhindern können.

Frage: Über eine Reform des Betriebsverfassungsgesetzes wird seit ewiger Zeit gestritten. Wie wollen Sie die dafür notwendige zwei Drittel Mehrheit im Bundestag finden?

WESTERWELLE: Wir werden demnächst einen entsprechenden Antrag im Bundestag einbringen. Und nachdem sogar Helmut Schmidt den Seinen die Leviten gelesen hat, bin ich sehr optimistisch, dass auch in den anderen Parteien diesbezüglich eine Bewegung in Gang gekommen ist.

Frage: Wo bleibt der Aufschrei der FDP angesichts der Vermögensteuerpläne?

WESTERWELLE: Ich kenne nur eine Partei, die sich schon vor der Wahl glasklar gegen die Vermögensteuer ausgesprochen hat. Dass Herr Schröder in dieser Woche morgens im Bundestag eine Stunde vor seinen Genossen redet, ohne die Vermögensteuer anzusprechen, er sich abends im Fernsehen gegen die Vermögensteuer wendet, und Herr Müntefering am nächsten Tag den Kanzler wieder uminterpretiert, zeigt das Klassenkampfdenken von Rot/Grün. Die Vermögensteuer ist eine Neidsteuer gegen wirtschaftliche Vernunft, gegen Arbeitsplätze und gegen den Standort. Erstens ist die 1997 vom
Bundesverfassungsgericht aufgehobene Vermögensteuer ja durch die Erhöhung der Grunderwerbssteuer und Erbschaftssteuer kompensiert worden. Zweitens war sie zu zwei Dritteln eine betriebliche Vermögensteuer, es ist immer falsch, die Substanz anstelle des wirtschaftlichen Erfolgs eines Unternehmens zu besteuern. Und drittens müssten für den privaten Teil der Vermögensteuer etliche neue Beamte eingestellt werden, die wenn überhaupt dann besser im Bereich von Bildung, Ausbildung und Forschung benötigt würden.

Frage: Sie werden im Bundesrat dagegen stimmen?

WESTERWELLE: Das werden wir tun. Übrigens mache ich nach Herrn Schröders Aussage, er wolle die Vermögensteuer nicht haben, folgenden Vorschlag: Streichen wir doch im Bundesrecht die Vermögensteuer; dann haben die Länder nach dem Prinzip der konkurrierenden Gesetzgebung die Möglichkeit, selbst eine Vermögensteuer zu erheben " beispielsweise durch Herrn Gabriel in Niedersachsen, oder Herr Bökel schlägt in Hessen eine vor. Dann können zuerst die Wähler und dann die Menschen durch die Wahl ihres Wohnortes darüber abstimmen.

Frage: Über Herrn Stoiber sagten sie immer Sommer, wenn es heikel wird, schweigt der lieber. Wie ist ihr Urteil über Frau Merkel?

WESTERWELLE: Ich will die Union hier nicht bewerten. Aber ich glaube, dass der Etatismus auch in der Union noch viele Anhänger hat und dass hier auch ein liberales Korrektiv nötig ist. Für einen Liberalen ist Frau Merkels Profil noch nicht klar und nicht entschieden genug. Aber ich bemerke, dass ihre Reden im Deutschen Bundestag ein erfreuliches Maß an liberalem Erkenntnisgewinn enthalten haben. Das muss man anerkennen. Das, was vor wenigen Jahren auch bei vielen Sozialdemokraten in der Union noch als Turbokapitalismus galt, wird nicht nur vom versammelten wirtschaftlichen Sachverstand in Deutschland unterstützt, sondern hat mittlerweile auch Teile von Union und SPD ins Nachdenken gebracht. Dass es eine Herkulesaufgabe ist, eine große Volkspartei in Sachen Ordnungspolitik auf Kurs zu bringen, versteht sich von selbst. Aber dass es in einer Regierung mit der FDP wirtschaftspolitisch vernünftiger zugeht als ohne FDP, behaupte ich in aller Bescheidenheit schon.

Frage: Wenn es anstatt zu Rot/Grün zu Schwarz/Gelb gekommen wäre, hätten wird jetzt eine Steuersenkungsdebatte, eine Debatte über die Gesundheitsreform, würde die Rente revolutioniert, Deutschland wäre auf dem besten Wege, wirtschaftliches Wachstum zu erlangen?

WESTERWELLE: Mit Sicherheit ja, wobei Sie mindestens noch ein Programm für Bürokratieabbau, Vorschläge für ein wettbewerbliches Bildungssystem vergessen haben.

Frage: Und der, der diese Verheißung verhindert hat, heißt Jürgen W. Möllemann?

WESTERWELLE: Jedenfalls war das Ergebnis so knapp, dass wir ohne diese Illoyalität heute wahrscheinlich regieren würden. Umso wichtiger ist es, dass die FDP kenntlich wird als eine Partei, deren Programm nie so notwendig war wie jetzt.

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