WESTERWELLE und GENSCHER im Interview für "Bild"
Berlin. Der FDP-Partei- und -Fraktionsvorsitzende DR. GUIDO WESTERWELLE und der FDP-Ehrenvorsitzende und Bundesaußenminister a.D. HANS-DIETRICH GENSCHER gaben der "Bild" (Montag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten NIKOLAUS BLOME und JAN W. SCHÄFER:
Frage: Herr Genscher, Herr Westerwelle, das Foto zeigt Sie auf dem FDP-Parteitag in Hannover, Mai 1986. Wissen Sie noch, über was Sie sich da gerade amüsieren?
GENSCHER: Wir haben uns seitdem so oft amüsiert, dass ich es im Einzelnen nicht mehr sagen kann...
WESTERWELLE: ...da steckte ich gerade in den Vorbereitungen für mein Examen. Vielleicht gucke ich deshalb so fröhlich.
Frage: Das Bild hat etwas von Vater und Sohn. Herr Westerwelle, wie viel Genscher steckt politisch in Ihnen?
WESTERWELLE: Ich bewundere Hans-Dietrich Genscher und es liegt mir fern, mich mit ihm, dem Architekten der deutschen Einheit, zu vergleichen. Ich bin als 18jähriger in die FDP eingetreten - unter dem Eindruck einer Kundgebung mit ihm in Bonn. Wenig später hatte eine Jugendfreundin ihren Geburtstag und Herr Genscher kam am Nachmittag zu Erdbeerkuchen mit Schlagsahne über den Zaun in den Garten der Eltern meiner Bekannten geklettert. Ich war platt.
Frage: Kam der Außenminister Genscher etwa in kurzer Hose?
WESTERWELLE: In Freizeitkleidung, würde ich sagen.
Frage: Wenn man Sie so in Erinnerung schwelgen hört - waren Sie beide immer so harmonisch miteinander?
GENSCHER: Wir könnten doch gar nicht Mitglied in der FDP sein, wenn wir immer einer Meinung gewesen wären. Liberale sind selbständige Persönlichkeiten. Natürlich gab es Punkte, an denen ich vielleicht anders gehandelt hätte. Darüber spricht man aber untereinander und nicht öffentlich. Wichtig ist die Grundorientierung und da stimmen wir überein.
Frage: Sind Sie stolz auf Guido Westerwelle?
GENSCHER: Ja. Ich bin seit 63 Jahren in der FDP, und es geht ihr so gut wie selten zuvor. Guido Westerwelle hat großen Erfolg und ist der richtige Mann zur richtigen Zeit.
Frage: Herr Westerwelle, wären Sie gern Vorsitzender der FDP zu Zeiten von Hans Dietrich Genscher gewesen - der ja immer auch Bundesminister war.
WESTERWELLE: Jeder lebt in seiner Zeit. Aber vielleicht werde auch ich noch Bewährungsproben erleben...
GENSCHER: ... bestimmt...
WESTERWELLE: ..., die ich dann hoffentlich so überzeugend für Deutschland meistern werde wie Hans-Dietrich Genscher.
Frage: Herr Genscher, wie wichtig ist ein Regierungsamt für einen FDP-Chef?
Genscher: Ich bewundere, wie sehr Guido Westerwelle an sich gearbeitet hat. Er ist an den Aufgaben gewachsen, weil er sich ihnen voll verschreibt. Und natürlich will er jetzt auch Regierungspolitik gestalten.
WESTERWELLE: In den 23 Jahren seit dem Foto habe ich sehr viel von der Leichtigkeit des Seins verloren. Ich bin gereift und denke, dass ich im 9. Jahr als Parteivorsitzender manches besser kann als im ersten.
GENSCHER: Er wird noch meinen Rekord von elf Jahren als Parteichef brechen.
Frage: Wenn es für eine schwarz-gelbe Mehrheit reicht, muss Guido Westerwelle dann Außenminister werden? Oder wäre ein anderes Ministerium nicht wichtiger?
WESTERWELLE: Vorweg: Wir reden nicht vor der Wahl über Posten. Wahr ist aber auch, dass die Regierung diese teutonische Arroganz im Umgang mit den kleinen Partnern in Europa wieder ablegen muss. Dafür wird die FDP sorgen.
GENSCHER: Deutschland muss international wieder Ideengeber und Akteur werden. Das waren wir einmal, trotz Teilung. Nato und EU zum Beispiel wären ohne uns nicht geworden, was sie sind. Und ohne unsere Ostverträge und die KSZE gäbe es keine deutsche und europäische Einheit.
Frage: Soll also der "Genscherismus" wiederkehren?
WESTERWELLE: Kooperation statt Konfrontation, Ausgleich durch Verhandlung, den Gesprächsfaden nie abreißen lassen - alles davon gilt auch heute, das ist "Genscherismus". Und was viele vergessen haben: Das musste Hans-Dietrich Genscher mehr als einmal mit viel Mut durchkämpfen. Als die neue Ostpolitik gemacht wurde, wurden er und Walter Scheel noch als "Vaterlandsverräter" beschimpft.
GENSCHER: Auch "Genscherismus" war am Anfang ein Schimpfwort. Ich sagte damals, man müsse Gorbatschow als neuen starken Mann der Sowjetunion ernst und beim Wort nehmen. Man dürfe eine historische Chance nicht versäumen. Manche hielten das für blauäugig und kritiklos. Aber die Geschichte hat mir recht gegeben.
Frage: Sie sprechen von der liberalen Außenpolitik. Aber in einem Wahlkampf in der Wirtschaftskrise scheint vor allem das Wirtschaftsprofil der FDP zu zählen.
WESTERWELLE: Noch vor einem Jahr hieß es, die FDP sei ja nur eine Klientelpartei für den Mittelstand. Heute sehen alle, wie wichtig der Mittelstand ist; wie gut man daran getan hätte, mehr für den Mittelstand zu tun. Da haften die Eigentümer nämlich selbst, während viele Großkonzerne sich ihr verantwortungsloses Abfindungs-Unwesen leisten. Der Kompass der FDP war von Anfang an der richtige.
Frage: Herr Genscher, wie sehen Sie den gegenwärtigen Wahlkampf, nicht nur den der FDP?
GENSCHER: In diesem Wahlkampf wird über das Wichtigste gar nicht geredet - Bildung. Bei Bildung entscheidet der familiäre Hintergrund, der Geldbeutel der Eltern, viel zu sehr über die Lebenschancen. Das ist eine schreiende Gerechtigkeitslücke.
WESTERWELLE: Ich hatte das Glück, von der Realschule nach der mittleren Reife auf das Gymnasium wechseln zu dürfen. Das ging nur dank der Öffnung der Bildungschancen für alle in den 70er Jahren. In den vergangenen elf Jahren ist Deutschland da wieder zurückgefallen.
Frage: Die Bundesregierung hat gerade die letzten Zuständigkeiten für Bildung an die Länder abgetreten...
WESTERWELLE: Wir wollen diese Kompetenzen wieder zum Bund zurückholen.
GENSCHER: Bildung entscheidet über die Zukunft dieses Landes. Das kann man doch nicht allein der stagnierenden Kultusministerkonferenz der Länder überlassen!
Frage: Bei so viel Engagement, Herr Genscher. Wollen Sie noch einmal ins Kabinett?
GENSCHER: Nein. Alles hat seine Zeit. Die liberale Sache ist bei Westerwelle in guten Händen.
Frage: Werden Sie auch in eine schwarz-gelbe Bundesregierung eintreten, die ohne Überhangmandate keine Mehrheit im Bundestag hätte?
WESTERWELLE: Sie werden sehen: Die Mehrheit wird größer sein, weil die Bürger die große Koalition beenden werden, und weil sie keine Linksregierung wollen.
Frage: In anderen Parteien würden sich zwei Politiker, die so viel Harmonie an den Tag legen, längst duzen. Sie tun es nicht, warum?
WESTERWELLE: Das Siezen ist Ausdruck meines größten Respektes für Hans-Dietrich Genscher.
Frage: Und Sie, Herr Genscher?
GENSCHER: Ich bin ein Schwer-Duzer.