01.03.2024FDPDigitalisierung

WISSING-Interview: Eine Tarifauseinandersetzung darf nicht zum öffentlichen Sicherheitsrisiko werden. 

FDP-Präsidiumsmitglied und Bundesminister für Digitales und Verkehr Dr. Volker Wissing gab dem „Focus Magazin“ und „Focus online“ das folgende Interview. Die Fragen stellten Felix Heck und Christian Masengarb:

Frage: Herr Wissing, bald stehen wohl wieder viele Züge wegen eines Streiks still: Am Sonntag, 3. März, endet die Friedenspflicht zwischen Bahn und Lokführergewerkschaft GDL. Bekommen wir rechtzeitig eine Einigung? 

Wissing: Ich bin der Auffassung, dass jetzt alle verantwortungsvoll dafür sorgen sollten, eine Lösung zu finden. Ohne Logistik und Mobilität kommen wir nicht aus der Wachstumsschwäche raus. 

Frage: Sollte notfalls der Gesetzgeber aktiv werden und den Streik unterbinden?

Wissing: Die Tarifautonomie ist ein hohes Gut. Das bedeutet aber nicht, dass jeder machen kann, was er will. In der öffentlichen Debatte wird bei diesem Thema kaum unterschieden zwischen dem, was die Regierung tun kann und was nicht. Unsere Zuständigkeit ist es nicht, Tarifverhandlungen zu begleiten oder mit Gesetzesänderungen zu drohen.

Frage: Die politische Dimension bekommt der Tarifstreit, weil er eine kritische Infrastruktur betrifft. Müsste man Tarifauseinandersetzungen dort anders regeln? 

Wissing: Ursprünglich hatte die Bahn Beamte, weil man sicherstellen wollte, dass dort nicht gestreikt wird. Heute sind die Anforderungen an sicherheitsrelevante Infrastrukturen wieder massiv gestiegen. Wir haben Krieg in Europa. Deswegen muss man auch die Handlungsfähigkeit der Bahn im Auge behalten. Fest steht: Eine Tarifauseinandersetzung darf nicht zum öffentlichen Sicherheitsrisiko werden. 

Frage: Also wird es eine Gesetzesdiskussion geben?

Wissing: In laufende Tarifauseinandersetzungen mit der Androhung einer Gesetzesänderung einzugreifen, verbietet sich. Deswegen habe ich mich an dieser Stelle zurückgehalten – bis zu dem Punkt, an dem ich daran erinnert habe, dass man eine Tarifauseinandersetzung nur lösen kann, wenn man sich am Verhandlungstisch befindet. Zu sagen „Wir streiken und eskalieren einen Tarifkonflikt, aber wir reden nicht miteinander“, ist angesichts der Belastung für unbeteiligte Dritte nicht akzeptabel. 

Frage: Sie haben versprochen, dass wir die Uhr bald wieder nach der Bahn stellen können. Was kostet das jeden Einzelnen von uns und wäre es nicht sinnvoller, wir stellen unsere Uhren über das Internet? 

Wissing: Nein, das ist hier keine Lösung, denn es geht ja um die Bahn. Pünktlich und zuverlässig – das ist der Anspruch, dem sie wieder gerecht werden muss. 

Frage: Und kostet nach Berechnungen der Bahn bis ins Jahr 2027 40 bis 45 Milliarden Euro zusätzlich zu dem, was ohnehin im Haushalt steht. 

Wissing: Wovon wir allein in diesem Haushaltsverfahren 31,5 Milliarden Euro gesichert haben. Jetzt bleiben drei weitere Haushalte, um noch mehr Mittel zu bekommen.

Frage: Sie haben einmal versprochen, ab dem Jahr 2030 fahre die Bahn pünktlich. Stehen Sie zu dieser Aussage? 

Wissing: Das ist, als wenn man den Arzt fragt: „Wenn ich operiert bin, bin ich dann für immer gesund?“ 

Frage: Natürlich frage ich meinen Arzt vor einer OP nach meinen Heilungschancen. 

Wissing: Also, bis 2030 wird die Bahn immer gesünder und ist spätestens dann richtig gut, weil sie dann modernste Technik hat. Die Bahn fährt dann zuverlässiger und das Netz kann mehr Kapazitäten aufnehmen. Außerdem werden viele Automatisierungen bei Service und Wartung das Fahren wieder angenehmer machen. Mit funktionierenden Toiletten und gefüllten Speisewagen.

Frage: Im Januar 2024 kamen nur 63 Prozent aller Fernverkehrszüge mit weniger als sechs Minuten Verspätung an. Welches Ziel wollen Sie erreichen? 

Wissing: Gefühlt ist die Verspätung heute die Regel und die Pünktlichkeit die Ausnahme. Das muss man umkehren. Diese Statistiken sind natürlich wichtig für die betriebliche Planung – es würde aber manchen erstaunen, wie unpünktlich andere Verkehrsträger sind. Man kann auch mit dem Auto in den Stau geraten. Pendler etwa planen ihn jeden Morgen ein.

Frage: Wie verbessern Sie die Pünktlichkeit konkret? Wir hören viel über Milliarden für die Infrastruktur. Im Jahr 2019 verschuldete die Infrastruktur aber nur 18 Prozent aller Verspätungen. Was tun Sie für die übrigen 82 Prozent aller Verbindungen, die wegen defekter Züge, Personen im Gleis oder anderer Ursachen unpünktlich fahren? 

Wissing: Wir gehen alle Probleme an. Die Bahn schafft neue Züge an. Zwölf Milliarden Euro investiert die DB bis 2030 in neue Fernverkehrszüge und wird so das Durchschnittsalter der Züge von derzeit 18 auf zwölf Jahre senken – und damit auch die Störanfälligkeit. Wir investieren in Digitalisierung und die Bahn selbst stellt um auf KI-gesteuerte Wartungssysteme. Es werden Roboter eingeführt, um Schmutz- und Brauchwasser auszutauschen. Wir machen alles, was man tun kann. Die Deutsche Bahn ist eines der innovativsten Eisenbahnunternehmen weltweit. Die Netzmodernisierung kann man nicht mit der Begründung hintenanstellen, dass es daneben auch andere Aufgaben gibt.

Frage: Sie sehen das Netz als größte Schwachstelle? 

Wissing: Wir haben ein marodes Netz, bei dem wir auf hoch belasteten Strecken täglich zu viele Störungen haben, manchmal mehrere in einem Korridor. Das verursacht Folgeverspätungen in ganz Deutschland. Gleichzeitig erlebt die Bahn einen enormen Zuspruch und verzeichnet so viele Fahrgäste wie nie. Das hat dazu geführt, dass wir das Netz nicht mehr unter dem rollenden Rad, also bei laufendem Verkehr, sanieren können und zur Hochleistungskorridor-Sanierung übergehen. 

Frage: Klappt die Sanierung durch die Hochleistungskorridor-Sanierung sicher schneller? 

Wissing: Die Strecken werden komplett gesperrt und alles auf einmal erneuert. Wenn wir zum Beispiel die Riedbahn zwischen Frankfurt und Mannheim sperren, ist der Aufwand so groß, dass es unverantwortlich wäre, nur das Gleisbett zu sanieren und ein Jahr später noch einmal zu sperren, damit die Oberleitung gemacht wird. Deswegen machen wir alles neu, unabhängig davon, ob es noch ein, zwei Jahre gut wäre oder nicht. Nach fünf Monaten hat man bei der Riedbahn eine nigelnagelneue Strecke mit der neusten Digitaltechnik.

Frage: Das macht kein anderes Land der Welt in dieser Form und Dichte. Wenn mir mein Arzt sagt „Wir probieren ein neues Operationsverfahren aus. Mal schauen, wie es klappt“, ist Skepsis angebracht. 

Wissing: Guter Punkt. Viele sagen auch, es sei sehr mutig. Aber wir haben schon eine Testoperation gemacht, denn es gab eine Testbaustelle auf der Riedbahn. Das ist sehr gut gelaufen. All die Bedenken sind nicht eingetreten. Schienenersatz, Geschwindigkeit, ausreichend Baufirmen – wir haben alles geschafft. 

Frage: Warum legen Sie den Fokus auf Sanierungen, obwohl dabei Sperrungen und Verzögerungen entstehen? Wäre es nicht einfacher, Zusatzstrecken zu bauen? 

Wissing: Wir können nicht beliebig das Netz ausbauen. Wenn Sie sich die Strecken anschauen am Mittelrhein oder in stark besiedelten Gebieten, dann ist da gar kein Raum für immer mehr. Da können sie nicht beliebig viele Trassen nebeneinander errichten. Also muss man auch fragen: Wie schaffen wir es, auf den vorhandenen Strecken mehr Kapazitäten zu erhalten? Das geht nur, indem man die alte Infrastruktur durch neue, hochmoderne Infrastruktur ersetzt.

Frage: Sie planen jetzt ein Verkehrsnetz, das erst in Jahrzehnten fertig sein wird. Stecken wir Milliarden in etwas, dass überholt sein wird, wenn es einmal steht?

Wissing: Nein. Wir behalten die technischen Entwicklungen permanent im Blick und planen ja auch nicht ins Blaue. Wir erstellen jedes Jahr eine Langfristprognose zur Verkehrsentwicklung. Insbesondere der Güterverkehr auf Schiene und Straße nimmt demnach massiv zu. Deswegen müssen wir auf den Straßen Engpässe beseitigen und die Schiene ausbauen. Versagen wir bei der Schiene, stehen Pendler auf den Straßen ständig hinter Lkws im Stau. Das macht weder glücklich noch wirtschaftlich erfolgreich. Auch jeder Autofahrer profitiert vom Bahnausbau. 

Frage: Wenn wir in 20 oder 30 Jahren alle mit grünem Strom geladene E-Autos fahren und E-LKWs unsere Pakete transportieren, sparen wir mit dem Umstieg von Straße auf Schiene kein CO2 mehr. Ist die Bahn also ein teurer Lückenfüller? 

Wissing: Nein. Die Bahn hat nicht nur in der Zeit der Transformation einen exorbitanten Vorteil gegenüber anderen Verkehrsträgern: Sie kann schon aus rein physikalischen Gesichtspunkten sehr energieeffizient Verkehre mit vorhandener Infrastruktur und Technik klimaneutral befördern. Auf der Straße haben wir dafür noch einen riesigen Prozess vor uns. Massen an LKW und Autos in die Klimaneutralität zu überführen, verursacht sehr hohe Kosten. Das relativiert auch die Höhe der Investitionen in die Schiene. 

Frage: Trotzdem nennen vier von fünf Deutschen das Auto als ihr liebstes Verkehrsmittel. Hat die Bahn so überhaupt eine Zukunft? Warum setzen wir nicht mehr auf Straße und Elektromobilität? 

Wissing: Das Auto ist zweifellos ein sehr attraktives Verkehrsmittel. Ich setze aber auf alle Verkehrsträger. Wir müssen wirklich wegkommen vom entweder oder, wenn wir in Zukunft auf eine leistungsfähige Infrastruktur zurückgreifen wollen. Denn gerade mit Blick auf den Güterverkehr hat auch die Straße keine ausreichende Kapazität.

Frage: Die Sie aber schaffen könnten. In Ihrem Koalitionsvertrag steht, Sie wollen sogar auf dem Land die Bahn zum Verkehrsmittel der Wahl machen. Ist das wirklich nötig? 

Wissing: Ich glaube nicht, dass wir künftig auf das Auto verzichten können. Dafür gibt es auch keinen Grund. Gerade auf dem Land kommt es eher darauf an, den Menschen zu ermöglichen, individuelle und öffentliche Verkehrsträger zu kombinieren. So wie es für jeden Einzelnen jeweils möglich und sinnvoll ist. Unsere Infrastruktur ist eine besondere Herausforderung, allein schon durch unsere geografische Lage als Drehkreuz für ganz Europa.  Aber darauf stützt sich auch ein Wettbewerbsvorteil als Industriestandort: Von Deutschland aus liefern Unternehmen ideal in alle Ecken Europas und lassen sich ideal mit Rohstoffen beliefern. Davon profitieren wir. Unternehmen verlassen unser Land, wenn eine marode Infrastruktur diesen Standortvorteil schmälert. Unternehmen brauchen die Straße und die Bahn. Und natürlich bauen wir sie auch für den Personenverkehr aus.

Frage: Und diese Unternehmen brauchen unbedingt die Bahn? 

Wissing: Ich komme aus Rheinland-Pfalz. Unternehmen wie BASF können die Massen an Rohstoffen, die dort benötigt werden, nicht auf der Straße transportieren. Deswegen brauchen die nicht nur die Schiene, die brauchen auch das Binnenschiff. Wir brauchen also nicht die Schiene statt der Straße und nicht die Straße statt der Schiene. Wir brauchen alle. Und wenn sich die Zeiten wandeln, müssen wir unsere Verkehrsinfrastrukturen auch alle anpassen. Die Schiene ist zudem Teil unserer Sicherheitsarchitektur, was uns seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine noch einmal schmerzlich vor Augen geführt wurde. Sie wird gebraucht, um Truppen und Material zu verlegen. Investitionen in die Schiene sind auch Investitionen in unsere Sicherheit. 

Frage: Sollten wir mehr in die Bahn investieren? Länder wie Österreich und die Schweiz stecken pro Einwohner deutlich mehr Geld in die Schiene. Und ihre Züge fahren pünktlicher. 

Wissing: Das tun wir ja. Man kann diese Dinge aber nicht einfach gleichsetzen. Schienenverkehr in Deutschland ist schon von der Größe des Gesamtnetzes her eine andere Herausforderung als in der Schweiz oder in Österreich und auch historisch anders gewachsen.

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