FDPStreitgespräch zum Brexit

Briten sind wichtige Stimme für Marktwirtschaft und Demokratie

Alexander Graf LambsdorffAlexander Graf Lambsdorff befürwortet einen Verbleib der Briten in der EU
21.06.2016

Im "Focus"-Streitgespräch debattieren Alexander Graf Lambsdorff, Vizepräsident des EU-Parlaments, und Lord Nigel Lawson, ehemaliger Schatzkanzler Großbritanniens, über die Brexit-Frage. Lambsdorff hebt die Vorteile der EU hervor und wirbt für einen Verbleib der Briten. Lawsons Verweis auf die "globale Sicht" der Briten und ihren Einsatz für die Freiheit des Kapitalverkehrs zeigt für Lambsdorff, wie wichtig es wäre, dass Großbritannien Mitglied bleibe. "Deutschland braucht Großbritannien als Verbündeten – wenn es um das Aufbrechen von Monopolen geht, fairen Wettbewerb, Freihandelsabkommen. Deshalb wollen wir, dass Sie bleiben", unterstreicht der Freidemokrat.

Darüber hinaus seien die europäischen Volkswirtschaften inzwischen so vernetzt, dass es unmöglich sei, alleine zu arbeiten, ohne schwere Konsequenzen in Kauf zu nehmen, gibt Lambsdorff zu bedenken. Er erläutert: "Der europäische Binnenmarkt ist der größte Markt der Welt. Für Großbritannien wäre es fast Selbstmord, den Zugang zu diesem Markt aufzugeben. Wenn Großbritannien aussteigt, wird jeder in Oxford produzierte Mini zehn Prozent teurer, weil es einen Zoll auf in den Binnenmarkt importierte Autos gibt. Banken in London würden den Pass verlieren, den Ausweis, dass ihre Geschäftstätigkeit auch auf dem Kontinent zulässig ist."

"Auch ich missbillige die Bürokratie, die durch die Europäische Kommission entstanden ist", macht der Freidemokrat klar. Die EU sei allerdings lernfähig und schon demokratischer geworden. "Die Institutionen hören besser zu, es gibt weniger Regulierungen", erklärt er. Außerdem sei die EU viel mehr als eine Institution: "Sie ist eine absolut einzigartige Form der Kooperation zwischen Völkern und Nationen. Auf diesem Kontinent, über Jahrhunderte von Kriegen zerrissen, wollten wir eine Organisation haben, in der wir mit unseren Interessenkonflikten umgehen können."

Lesen Sie hier das gesamte Streitgespräch.

Lord Lawson, Sie sind einer der vehementesten Verfechter des Brexit. Warum glauben Sie, sollte Großbritannien aus der EU austreten?

LAWSON: Es geht nicht darum, ob man Europa mag oder ob man Freunde auf der anderen Seite des Kanals hat. Ich selbst lebe seit einiger Zeit in Frankreich, bin dort zu Hause. Es geht auch nicht darum, ob man isolationistisch ist oder nicht. Es gibt kein Land auf der Welt, das stärker nach außen orientiert ist als Großbritannien. Aber es geht um eine Institution, die Europäische Union, die das Ziel einer immer engeren politischen Union verfolgt. Das ist nicht unehrenhaft. Aber es ist kein Ziel, das die britische Bevölkerung oder die britischen Parteien teilen, nicht einmal die jetzige Regierung. Wollen wir Teil einer Institution sein, deren Zweck wir ablehnen? Das macht absolut keinen Sinn, zumal man dafür auch noch Autonomie und Demokratie opfern muss.

LAMBSDORFF: Europa wäre aber mit Großbritannien stärker, gerade weil Ihr Land ein solches Vorbild für Demokratie ist. Und was heißt denn „wir“? Vor allem die jüngeren Briten wollen doch Teil der EU sein. Da sehe ich einen großen Generationenkonflikt. Und weder in Schottland noch in Wales noch in Nordirland hört man so viel Euroskeptizismus. Das ist eine sehr englische Diskussion. Im Übrigen ist die EU viel mehr als eine Institution. Sie ist eine absolut einzigartige Form der Kooperation zwischen Völkern und Nationen. Auf diesem Kontinent, über Jahrhunderte von Kriegen zerrissen, wollten wir eine Organisation haben, in der wir mit unseren Interessenkonflikten umgehen können. Ich glaube, der Friedensnobelpreis dafür war hochverdient.

LAWSON: Der war in etwa so verdient wie der für Präsident Obama neun Monate nach seinem Amtsantritt ... Wir alle sind das Ergebnis unserer Geschichte. Wir Briten rennen nicht vor unserer Geschichte davon, wie es Deutschland glaubt tun zu müssen. Ich denke, Deutschland wird nicht in den Militarismus zurückfallen. Deshalb halte ich die Idee, mit Hilfe der EU einen Käfig um den deutschen Tiger zu bauen, nicht mehr für richtig. Das Experiment mag auch manchen früheren Satelliten der Sowjetunion geholfen haben, sich zu emanzipieren. Aber das ist alles Vergangenheit.

Die EU wirkt derzeit aber nicht sehr friedlich. Schauen Sie sich die nationalistischen Strömungen in vielen europäischen Ländern an.

LAMBSDORFF: Spannungen will ich nicht in Abrede stellen. Aber in früheren Jahrhunderten hätten sie zu Chauvinismus, Aggression, Aufrüstung, Missverständnissen geführt. Heute sitzen wir bei langweiligen Treffen in Konferenzräumen. Das ist deutlich besser, als sich im Schützengraben zu treffen. Es war übrigens die Nato, von der man sagte, es gebe sie, um „die Amerikaner drinnen, die Russen draußen, Deutschland unten“ zu halten. Die Vorstellung, Interessenkonflikte am Konferenztisch zu lösen, hat ihre Stärken. Das ist besser als Alleingänge souveräner Staaten.

LAWSON: Man kann sich sehr gut zu Konferenzen treffen und trotzdem souverän bleiben! Die Nato ist tatsächlich wichtig, damit sich die USA weiter in Europa engagieren. Deshalb macht mir der Plan für eine europäische Armee große Sorgen – ist ja wohl vor allem ein französischer Wunsch.

LAMBSDORFF: Alle Parteien in Deutschland mit Ausnahme der Linken sind damit einverstanden.

LAWSON: Die USA stellen die Finanzierung der Nato zu 75 Prozent. Wenn wir diese lächerliche Idee einer europäischen Armee verfolgen, werden die Amerikaner sagen: „Vielen Dank, dann macht das mal alles schön selber. Wir gehen.“ Auch ich war bei diesen langweiligen Treffen im Ecofin-Rat während meiner Ministerzeit. Es gab darin eine Obsession für die europäische Sicht. Wir in Großbritannien haben aber eine globale Sicht, instinktiv, wegen unserer Verbindungen mit dem Commonwealth und dem Rest der englischsprachigen Welt. Ich erinnere mich noch, als es um die Freiheit des Kapitalverkehrs ging. Die Einzigen, die damals darauf drängten, waren Gerhard Stoltenberg und ich. Die Franzosen waren kaum in der Lage, die globale Dimension zu begreifen.

LAMBSDORFF: Ihre Argumentation zeigt doch, wie wichtig es wäre, dass Großbritannien Mitglied bleibt. Deutschland braucht Großbritannien als Verbündeten – wenn es um das Aufbrechen von Monopolen geht, fairen Wettbewerb, Freihandelsabkommen. Deshalb wollen wir, dass Sie bleiben! Im Übrigen sind wir alle keine großen Länder mehr. Großbritannien nicht und Deutschland nicht. Unsere Volkswirtschaften sind so vernetzt, dass es unmöglich ist, alleine zu arbeiten, ohne schwere Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Und der europäische Binnenmarkt ist der größte Markt der Welt. Für Großbritannien wäre es fast Selbstmord, den Zugang zu diesem Markt aufzugeben.

LAWSON: Wir müssen entscheiden, was für uns wichtig ist. Unser Einfluss hat sich, wenn man realistisch ist, deutlich verringert durch die Entscheidung, halb auszusteigen und nicht in der Euro-Zone zu sein. Die Gemeinschaftswährung ist allerdings eine Katastrophe ...

LAMBSDORFF: ... der deutsche Mittelstand sieht das anders.

LAWSON: Viele Leute würden mir aber zustimmen. In Südeuropa zum Beispiel. Die Gemeinschaftswährung ist zuallererst ein politisches Projekt – rein wirtschaftlich macht sie keinen Sinn. Und was den Binnenmarkt angeht: Amerikaner, Australier, Kanadier haben seit seiner Einführung mehr Geschäfte mit den Ländern des EU-Binnenmarkts gemacht als Großbritannien – jedenfalls war das Wachstum größer. Das zeigt, dass es keine echten Hürden gibt. Wir sind in der Welthandelsorganisation – damit kommen wir sehr gut zurecht. Wir brauchen keine Handelsabkommen. Wir müssen kein Teil des Binnenmarkts sein, um Geschäfte zu machen.

LAMBSDORFF: Wenn Großbritannien aussteigt, wird jeder in Oxford produzierte Mini zehn Prozent teurer, weil es einen Zoll auf in den Binnenmarkt importierte Autos gibt. Banken in London würden den Pass verlieren, den Ausweis, dass ihre Geschäftstätigkeit auch auf dem Kontinent zulässig ist. Absolut essenziell ist die Freizügigkeit von Arbeitnehmern. Da sind die Staats- und Regierungschefs David Cameron zu weit entgegengekommen. Er will in Großbritannien Menschen diskriminieren, die ehrlich arbeiten. Das werde ich im Europäischen Parlament ablehnen. Denn der Deal könnte zu unschönen Konsequenzen führen: Die Italiener zum Beispiel könnten sagen, Fiat geht es schlecht, also wollen wir einen Schutz gegen den freien Warenverkehr für Autos.

LAWSON: Die Zuwanderungsrate aus der EU ist jetzt höher als aus dem Rest der Welt. Dies hier ist eine kleine, überfüllte Insel. Die Leute mögen nicht, dass derart viele Menschen neu ins Land kommen. Cameron hat grundlegende Reformen gefordert. Sie sollten in Vertragsänderungen festgehalten werden. Nichts davon hat er bekommen. Nur triviale, kurzfristige Arrangements.

LAMBSDORFF: Die schon gefährlich genug sind ...

LAWSON: Aber Sie sorgen dafür, dass es nicht einmal dazu kommt! Wir bekommen also nicht nur nichts, sondern die Quadratwurzel von nichts. Überraschend war das allerdings nicht, denn die EU ist nicht reformierbar.

Warum tun Sie sich nicht mit Deutschland zusammen, um gemeinsam an Reformen zu arbeiten?

LAWSON: Es ist sehr schwierig, sich unter all den Mitgliedsstaaten zu einigen. Und die EU hat nicht nur ein Demokratiedefizit, sondern auch einen Bürokratieüberschuss. Die europäischen Regulierungen kann man aber nicht loswerden, die wachsen immer weiter. Wenn wir aussteigen, haben wir außerdem einen wirtschaftlichen Vorteil: Wir müssen nicht mehr unsere jährliche „Abonnementgebühr“ bezahlen. Deutschland und Großbritannien sind zwei Länder, die in die Kassen der EU deutlich mehr einzahlen, als sie bekommen.

Warum glauben Sie, Graf Lambsdorff, dass London und Berlin künftig erreichen könnten, was bisher an Reformen nicht gelungen ist?

LAMBSDORFF: Auch ich missbillige die Bürokratie, die durch die Europäische Kommission entstanden ist. Ein Beispiel ist ja die Glühbirne, die inzwischen verboten ist. Es gab eine Mehrheit aus Sozialisten und Grünen und ein paar Konservativen, die dafür gestimmt haben. Aber die EU ist lernfähig und schon demokratischer geworden. Die Institutionen hören besser zu, es gibt weniger Regulierungen. Und egal, wie das Referendum ausgeht: Wir müssen danach über Änderungen an den europäischen Verträgen diskutieren.

Das Referendum als Weckruf?

LAMBSDORFF: Ja, auch wenn Großbritannien bleibt, zwingt das die EU zu Reformen. Meine Hoffnung ist natürlich, dass sie sich auf liberale Weise reformiert und nicht nur auf bürokratische, also toll klingende Programme schreibt, die niemand umsetzt. Übrigens muss ich noch widersprechen: Der Euro ist keine Katastrophe, aber er hat die strukturellen Schwächen von Ländern wie Frankreich oder Spanien bloßgelegt.

LAWSON: Graf Lambsdorff ist ein Idealist und ein Optimist. Ich bin Realist. Frankreich ist nicht mehr das wichtigste Land in der EU, aber es kann immer noch Dinge verhindern. Und glauben Sie mir: Paris wird das tun. Es gibt in Europa eine wachsende, gefährliche Spaltung – zwischen den Bevölkerungen und den Eliten. Die Eliten wollen die Vereinigten Staaten von Europa. Das gilt mit Sicherheit für die französischen Eliten, aber es ist kein Wunsch der französischen Bürger. Und meine Freunde in Deutschland haben mir gesagt, dass die Ernüchterung über die EU im Volk weit über diejenigen hinausgeht, die AfD wählen.

LAMBSDORFF: Ich denke, auch Lord Lawson ist ein Optimist und ein Idealist. Denn er ist optimistisch, dass Großbritannien in der Lage sein wird, allein zu überleben ...

LAWSON: Natürlich können wir das. Wir sind ein großes Land wie Sie. Könnte Deutschland allein überleben?

LAMBSDORFF: Nein. Absolut nicht. Wir brauchen Weltmärkte.

LAWSON: Das hat nichts damit zu tun, ob man Märkte braucht. Jedes Land treibt heute Handel mit jedem Land auf der Welt, das bedeutet ja Globalisierung.

LAMBSDORFF: Ich bin auf lange Sicht eher der Realist. Das Aufkommen des Nationalismus in Europa beweist, dass wir eine starke Union brauchen, in der wir unsere Differenzen bearbeiten können. Deutschland allein, isoliert, Deutschland auf sich gestellt – wir würden Verbündete brauchen.

LAWSON: Wir sprechen nicht davon, keine Verbündete oder Allianzen zu haben. Die Geheimdienst-Kooperation mit den USA ist das wichtigste Beispiel für die Beziehungen zwischen Großbritannien und den USA.

LAMBSDORFF: Lassen Sie es mich deutlich sagen: Ich möchte, dass Großbritannien Mitglied der EU bleibt. Aber ich kann mir ohne Weiteres eine EU ohne Großbritannien vorstellen. 16 Jahre lang hat die Union mit Frankreich und Deutschland als den zentralen Bestandteilen existiert. Ein Brexit wäre nicht das Ende des europäischen Projekts.

Und wie sieht es mit Nachahmern aus?

LAMBSDORFF: Das glaube ich nicht. Es gibt nur ein Land, das in einer ähnlichen Lage ist wie Großbritannien, ein großer Netto-Beitragszahler mit einer überwiegend euroskeptischen Bevölkerung, nämlich Dänemark. Alle anderen, die die EU ständig kritisieren, etwa Ungarn oder die gegenwärtige polnische Regierung, würden nicht einmal im Traum an einen Austritt denken, weil sie Netto-Empfängerstaaten sind.

Was passiert, wenn das Ergebnis des Referendums sehr knapp ausfällt, nach dieser oder jener Seite? Das Parlament ist ja nicht verpflichtet, dem Votum zu folgen.

LAWSON: Wenn das Parlament versuchen würde, sich dem Willen des Volkes zu widersetzen – ob der nun auf einen Brexit hinausläuft oder nicht –, dann würde es eine riesige Verfassungskrise geben.

Sie, Graf Lambsdorff, kandidieren 2017 für den Bundestag, und Sie, Lord Lawson, werden nach Frankreich zurückgehen. Für den Schlamassel nach dem 23. Juni werden Sie also beide nicht mehr verantwortlich sein.

LAWSON: Na, in meinem Alter habe ich das Recht, das Leben auf dem Land zu genießen. Aber wenn die Regierung sagt: Du wolltest diesen Brexit, also komm in die Regierung und hilf uns, damit zurechtzukommen, dann würde ich nicht nein sagen.

LAMBSDORFF: Wenn sich Großbritannien für Bleiben entscheidet, werde ich für die legislativen Teile des Deals von Cameron mitverantwortlich sein. Ansonsten haben Sie Recht: Ich habe jetzt zwölf Jahre lang in unterschiedlichen Funktionen für die EU gearbeitet ...

LAWSON: ... Da wollen Sie endlich mal in ein richtiges Parlament ...

LAMBSDORFF: Nein, ich möchte helfen, wieder eine starke liberale Fraktion im Bundestag aufzubauen. Wir werden 2017 hoffentlich einen Neustart haben, und ich möchte Teil dieses Prozesses sein.

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