FDPEU-Gipfel

Cameron und die EU stehen vor der Quadratur des Kreises

Britische FlaggeDie EU und Großbritannien müssen sich einigen
18.02.2016

Die Staats- und Regierungschefs der EU sitzen in Brüssel zwar an einem Tisch – von Gemeinsamkeiten ist allerdings nicht viel zu spüren. Der angedrohte Brexit ist eines der Streitthemen. FDP-Präsidiumsmitglied Alexander Graf Lambsdorff über die Quadratur des Kreises. Im Gastbeitrag für "Focus Online" kritisierte er, dass das Vereinigte Königreich dem Rest der EU "eine Diskussion über britische Befindlichkeiten" aufzwinge, die Zeit und Energie von der Bewältigung echter Krisen abziehe.

Nach der fast sechsjährigen Amtszeit Camerons liege die EU-Politik in Scherben, konstatierte der Vizepräsident des EU-Parlaments. "Geradezu tragisch dabei ist, dass viele britische Forderungen auf tatsächlich notwendige Reformen abzielen. Die Vollendung des Binnenmarktes ist längst überfällig, scheitert aber allzu oft an nationalen Egoismen. Nur durch die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit wird es gelingen, das Versprechen auf beste Lebenschancen auch in Zukunft einlösen", gab Lambsdorff zu bedenken. Auch die Vorschläge zum Verhältnis zwischen Euro- und Nicht-Euro-Ländern seien sinnvoll.

Notbremse mit den Liberalen nicht zu machen

"Echten Sprengstoff enthält der Vorschlag, Arbeitnehmern aus anderen EU-Ländern erst nach vierjähriger Beschäftigung die Vergünstigungen zu gewähren, die ihren britischen Kollegen zustehen", betonte der Freidemokrat. Die 'Migrations-Notbremse' richte sich nämlich nicht zuerst gegen arbeitslose Einwanderer, die ohne Vorleistungen das britische Sozialsystem in Anspruch nehmen wollten, sondern vielmehr gegen Menschen in Lohn und Brot, die dieselben Steuern und Abgaben zahlten wie Briten im gleichen Arbeitsverhältnis. Lambsdorff stellte klar: "Das ist Diskriminierung und daher mit EU-Recht unvereinbar."

Politisch wäre eine entsprechende Entscheidung des Rates ebenso widersprüchliche wie fatal. "Widersprüchlich, denn die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine der vier Säulen des europäischen Binnenmarktes, den Cameron ja gerade vollenden will. Fatal, weil Zugeständnisse in diesem Bereich die Büchse der Pandora öffnen würden", warnte der Freidemokrat.

Lesen Sie hier den vollständigen Gastbeitrag

David Cameron beteuert gerne, keine romantische Beziehung zur EU zu unterhalten. Das würde auf dem Kontinent auch niemand von ihm verlangen. Dass aber die britische EU-Politik nach seiner fast sechsjährigen Amtszeit in Scherben liegt, ist etwas Anderes.

Mit dem Countdown zu einem Referendum, das Cameron selber nicht wollte, zu dem ihn vielmehr die Euroskeptiker inner- und außerhalb seiner Partei gezwungen haben, bricht vielleicht das letzte Kapitel einer komplizierten Zweckehe an.

Zum EU-Gipfel in dieser Woche liegen Londoner Reformforderungen vor, gentlemanlike als Vorschläge bezeichnet. Das Timing könnte kaum schlechter sein. Wirtschafts- und Finanzkrise, Gefechte in der Ost-Ukraine, Syrien in Flammen und seit letztem Jahr die größte Flüchtlingsbewegung seit Ende des Zweiten Weltkrieges: Die Gemeinschaft hat nach innen wie außen die schwerste Bewährungsprobe ihrer Geschichte zu bewältigen.

Welchen Beitrag leistet dabei jetzt das Vereinigte Königreich? Es zwingt dem Rest der EU eine Diskussion über britische Befindlichkeiten auf, die Zeit und Energie von der Bewältigung echter Krisen abzieht.

Geradezu tragisch dabei ist, dass viele britische Forderungen auf tatsächlich notwendige Reformen abzielen. Die Vollendung des Binnenmarktes ist längst überfällig, scheitert aber allzu oft an nationalen Egoismen. Nur durch die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit wird es gelingen, das Versprechen auf beste Lebenschancen auch in Zukunft einlösen.

Die Vorschläge zum Verhältnis zwischen Euro- und Nicht-Euro-Ländern sind ebenfalls sinnvoll: Aus liberaler Sicht ist es selbstverständlich, dass die Eurozone ihre Regeln den anderen nicht aufzwingen oder sie zur Haftung heranziehen darf. Umgekehrt muss ausgeschlossen sein, dass Nicht-Euro-Länder ein faktisches Veto-Recht über Entscheidungen im gemeinsamen Währungsraum erhalten.

Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten ermöglicht politischen Fortschritt, zeitliche Flexibilität und Rücksichtnahme auf nationale Gegebenheiten. Ein Veto-Recht für nationale Parlamente aber ist unsinnig, da die Zahl der Veto-Akteure im EU-Gesetzgebungsverfahren schon heute viel zu hoch ist. Nationale Parlamente müssen entscheiden, wie eng sie ihre jeweilige Regierung an die Kandare nehmen wollen, für eine direkte Beeinflussung von Prozessen auf EU-Ebene fehlt es ihnen an Kenntnissen und Kompetenz – und den einzelnen Abgeordneten oft auch einfach an Zeit.

Echten Sprengstoff enthält der Vorschlag, Arbeitnehmern aus anderen EU-Ländern erst nach vierjähriger Beschäftigung die Vergünstigungen zu gewähren, die ihren britischen Kollegen zustehen. Die „Migrations-Notbremse“ richtet sich nämlich nicht zuerst gegen arbeitslose Einwanderer, die ohne Vorleistungen das britische Sozialsystem in Anspruch nehmen wollen. Sie wendet sich vielmehr gegen Menschen in Lohn und Brot, die dieselben Steuern und Abgaben zahlen wie Briten im gleichen Arbeitsverhältnis. Das ist Diskriminierung und daher mit EU-Recht unvereinbar.

Politisch wäre ein solcher Beschluss des Rates ein ebenso widersprüchliches wie fatales Signal. Widersprüchlich, denn die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine der vier Säulen des europäischen Binnenmarktes, den Cameron ja gerade vollenden will.

Fatal, weil Zugeständnisse in diesem Bereich die Büchse der Pandora öffnen würden. Polen könnte vielleicht eine Notbremse gegen deutsche Handelsunternehmen verlangen, die von der Dienstleistungsfreiheit im Binnenmarkt profitieren. Frankreich sieht den freien Kapitalverkehr ohnehin skeptisch, und Italien könnte den freien Warenverkehr einschränken wollen mit einer Notbremse gegen Autoimporte. Der Binnenmarkt, eine der wichtigsten Quellen des Wohlstands in Deutschland und Europa, wäre am Ende.

Cameron und die EU stehen somit vor der Quadratur des Kreises. Als Liberale wollen wir das Mutterland des Liberalismus in der EU halten – aber nicht um den Preis der Zerstörung des Binnenmarktes. Die Abkehr von der Arbeitnehmerfreizügigkeit wäre so folgenschwer, dass der Rest der EU, Deutschland zumal, ihr nicht zustimmen kann.

Zugleich geht selbst diese Idee den anti-europäischen Hardlinern auf der Insel nicht weit genug. Die britische Presse verhöhnt den Forderungskatalog bereits als „Farce“ und „Witz“. Dennoch sollten die anderen Europäer alles daran setzen, die Briten vom Verbleib zu überzeugen. Mit Großbritannien in der EU schlägt der Kompass marktwirtschaftlicher aus, die europäische Stimme in den internationalen Beziehungen hat mehr Gewicht, der Freihandel einen starken Anwalt.

Wie auch immer sich die Briten am Ende entscheiden, die Arbeit an einer flexibleren Union mehrerer Geschwindigkeiten wird immer dringender. Eine solche EU, in der Franzosen, Deutsche und Belgier sich genau so wiederfinden wie Briten, Tschechen und Dänen, strahlt kaum Romantik aus, aber viel Pragmatismus – das sollte auch nach dem Gusto von David Cameron sein.

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