FDPFlüchtlings- und Einwanderungspolitik

Deutschland muss wieder der Anwalt von Regeln werden

Christian LindnerChristian Lindner fordert europäische Flüchtlingspolitik ohne deutschen Sonderweg
17.03.2016

Unmittelbar vor dem EU-Gipfel ruft FDP-Chef Christian Lindner die Bundeskanzlerin dazu auf, nicht länger einen deutschen Sonderweg in Europa zu verfolgen, sondern wieder eine europäische Politik zu vertreten. Im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" übt er scharfe Kritik daran, dass Deutschland in der Flüchtlingskrise die europäischen Asylregeln nicht mehr angewandt habe. Er spricht außerdem über mögliche und unmögliche Ampel-Koalitionen, die Inhalte, die die FDP gern durchsetzen würde und über die AfD. Er warnt davor, die Wähler der AfD zu dämonisieren.

"Neben dem harten, reaktionären Kern ist die Partei offenbar auch für Menschen anziehend, die Protest wählen wollten und deshalb eine Partei ohne Personal und Programm vorgezogen haben", sagte Lindner der "Süddeutschen Zeitung". Die Aufgabe sei es nun, diesen Wählern eine Brücke zurück "in den Kreis der verantwortungsbewussten Kräfte" zu bauen. "Ich will einen Keil zwischen die Partei und ihre Wähler treiben", betonte Lindner. Um dies zu erreichen, könne man die Wähler fragen, ob sie, weil sie gegen die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel seien, tatsächlich eine Partei ins Parlament wählen wollten, die mehr Verständnis für Putin als für Obama habe, die eine völkisch-kollektivistische Partei sei und auf Abschottung und Ressentiments setze.

Europäische Flüchtlingspolitik ohne deutschen Sonderweg

Falsch sei es, den Wählern Vorwürfe zu machen. "Wir sollten nicht den Fehler anderer europäischer Länder wiederholen", warnte der FDP-Vorsitzende. "Dort hat man Bürgern vorgeworfen, Brandbeschleuniger zu wählen. So wurde in Frankreich der `Front National` immer stärker. " Die Alternativen Abschottung oder grenzenlose Aufnahmebereitschaft seien beide nicht überzeugend: "Nötig ist eine europäische Flüchtlingspolitik ohne deutschen Sonderweg. Wir brauchen eine Einwanderungspolitik, die zwei Fragen beantwortet: Wen laden wir in unseren Arbeitsmarkt ein? Und mit wem sind wir solidarisch?", wirbt Lindner für das FDP-Konzept.

Lesen Sie hier das vollständige Interview:

Frage: Herr Lindner, warum will die FDP in Baden-Württemberg nicht einmal sondieren, ob es für Koalitionsgespräche mit Grünen und SPD reicht?

LINDNER: Unsere Freunde in Stuttgart können doch eine abgewählte Regierung, die sie fünf Jahre lang parlamentarisch kritisiert haben, nun nicht mittragen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat einen grundlegenden Politikwechsel ausgeschlossen. Genau dafür aber haben wir im Wahlkampf geworben.

Frage: Nach der Wahl ist nach dem Wahlkampf. Warum nicht wenigstens mal sondieren?

LINDNER: Nach der Wahl muss gelten, was man vorher gesagt hat. Wir befinden uns nicht im Staatsnotstand. Denn es gibt ja eine tragfähige Regierungsoption: Grün-Schwarz. Es ist unrealistisch, als kleinster, dritter Partner in eine langjährige Regierung einzutreten und seine Forderungen dort so durchzusetzen, dass man für seine Wähler noch erkennbar ist. Der Anspruch wäre auch anmaßend.

Die einen meinen, wegen der NRW-Wahl sei die Bundespartei strikt gegen Koalitionen und erst recht gegen Ampeln. Die FAZ...

Posted by Christian Lindner on Mittwoch, 16. März 2016

Meine Kollegen sind gesprächsbereit

Frage: Gemessen an all dem dürften Sie in Rheinland-Pfalz auch keine Ampel erwägen.

LINDNER: Die Lage ist dort anders, sodass meine Kollegen gesprächsbereit sind. Das ist schon allein eine Stilfrage, weil wir mit der SPD erfolgreich zwischen 1991 und 2006 regiert haben. Zudem wäre die FDP nicht der kleinste Partner, sondern das wären die um zehn Prozent abgestürzten Grünen. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir unsere Inhalte durchsetzen können, ist dort größer.

Frage: Und damit die FDP am Ende mit Anstand und erhobenen Hauptes...

LINDNER: ...nee, bitte nicht!

Frage: Bitte was nicht?

LINDNER: Ich ahne doch, was kommt.

Frage: Nämlich?

LINDNER: „Was muss denn erreicht werden, damit die FDP sagen kann: Das ist der Politikwechsel?“

Frage: Wir dachten, Sie wollten vielleicht über Inhalte reden.

LINDNER: Aber nicht so. Sie laden mich gerade ein, Anfängerfehler zu machen. Es gibt noch nicht mal Sondierungsgespräche, und der Parteivorsitzende soll den Leuten aus Mainz sagen, unter welchen Bedingungen sie eine Koalition eingehen können. Sie würden sich freuen und zugleich wundern, wenn ich diese Frage beantwortete.

Frage: Dann vielleicht so: Was würde die FDP derzeit gern durchsetzen?

LINDNER: Erstens brauchen wir eine umfassende Modernisierung des Bildungssystems, auch mit digitalen Methoden. Das schaffen die Länder nicht allein, weshalb ich für eine Reform des Bildungsföderalismus plädiere. Zweitens wünsche ich mir einen Staat, der einen starken Rahmen setzt, aber nicht jeden Zipfel Leben bürokratisiert oder uns bespitzelt. Zugleich harte Regeln zur Marktordnung, damit Banken nicht mehr vom Staat gerettet werden, die Googles der Welt Steuern zahlen und Facebook uns nicht unsere Privatheit rauben kann. Drittens ist Digitalisierung eine großartige Chance, aber wir nehmen sie noch nicht wahr. Die Bundesregierung setzt zum Beispiel für die letzten Meter vor einem Anschluss auf die Telekom – und die auf das veraltete Kupferkabel.

AfD ist Partei ohne Personal und Programm

Frage: Es gibt nun links Die Linke und rechts die AfD. Heißt das, dass es für Schwarz-Gelb nirgendwo mehr reichen wird?

LINDNER: Niemand weiß, wohin sich das Parteiensystem entwickeln wird. Das wird jetzt durch die richtigen Entscheidungen bestimmt. Ich rate davon ab, die Wähler der AfD zu dämonisieren. Neben dem harten, reaktionären Kern ist die Partei offenbar auch für Menschen anziehend, die Protest wählen wollten und deshalb eine Partei ohne Personal und Programm vorgezogen haben.

Frage: Niemandem hier geht es so schlecht, dass er zum Brandbeschleuniger greifen muss.

LINDNER: Eine solche Metapher bringt nur unnötig Schärfe in die Debatte. Die Aufgabe ist doch, diesen Wählern eine Brücke zurück in den Kreis der verantwortungsbewussten Kräfte zu bauen. Ich will einen Keil zwischen die Partei und ihre Wähler treiben.

Frage: Wie?

LINDNER: Man kann einem AfD-Wähler doch sagen: Du bist nicht einverstanden mit der Flüchtlingspolitik von Frau Merkel. Okay. Aber bist du deshalb bereit, eine Partei ins Parlament zu wählen, die mehr Verständnis für Putin als für Obama hat, die völkisch-kollektivistisch ist, die Abschottung will und Ressentiments pflegt? Gibt es für dich wirklich keine besseren Optionen? Wir sollten nicht die Fehler anderer europäischer Länder wiederholen. Dort hat man Bürgern vorgeworfen, Brandbeschleuniger zu wählen. So wurde in Frankreich der Front National immer stärker.

Merkel muss ihre Politik korrigieren

Frage: Und welche inhaltliche Alternative bietet man ihnen?

LINDNER: Die Alternativen Abschottung oder grenzenlose Aufnahmebereitschaft sind beide nicht überzeugend. Nötig ist eine europäische Flüchtlingspolitik ohne deutschen Sonderweg. Wir brauchen eine Einwanderungspolitik, die zwei Fragen beantwortet: Wen laden wir in unseren Arbeitsmarkt ein? Und mit wem sind wir solidarisch? Die Bundesregierung hat aus unserem Asylrecht dagegen einen allgemeinen Einwanderungsparagrafen gemacht; das hat zu Chaos geführt. Frau Merkel muss ihre Politik korrigieren. Seit Monaten verweigert sie sich auch einer gemeinsamen, europäischen Kontrolle der EU-Außengrenze. Die brauchen wir aber, denn die Griechen schaffen das alleine nicht. Stattdessen hat sie Europa in die Hand des türkischen Präsidenten Erdogan gegeben.

Frage: Wen wollen Sie denn noch hereinlassen?

LINDNER: Es gibt im europäischen Recht den vorübergehenden humanitären Schutz. Das wollen wir in Deutschland anwenden. Dann müssten die Flüchtlinge nicht mehr das Asylverfahren durchlaufen, sondern sie erhielten von der örtlichen Ausländerbehörde ein Aufenthaltsrecht, das gebunden ist an die Situation in der alten Heimat. Sie können arbeiten und bekommen eine Förderung. Dieser Status erlischt, sobald es daheim wieder stabil ist. Dann können sie sich entweder um eine legale Bleibeperspektive bewerben, oder sie müssen ausreisen, was die Regel sein wird. Dieser Vorschlag hätte einen dreifachen Nutzen: Die Flüchtlinge müssen hier nicht warten, sondern können direkt loslegen. Die Behördenwege würden deutlich kürzer. Und dadurch würde unseren Bürgern und vor allem den Flüchtlingen gezeigt, dass das Asylrecht nicht faktisch ein Einwanderungsrecht ist.

Frage: Das ist besser als der „subsidiäre Schutz“, den Syrer und Iraker nun erhalten?

LINDNER: Diese Menschen müssen durch das Asylverfahren, was Monate dauert. Währenddessen müssen sie warten, können nicht arbeiten und haben am Ende keine legale Bleibechance, die sie sich mit Fleiß und Integration erarbeiten können.

Frage: Was soll es für eine Lösung geben, wenn viele EU-Staaten sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen?

LINDNER: Viele Länder kommen zu anderen ethischen Überlegungen als wir. Schweden, Dänen, Franzosen, Österreicher. Das sind nicht alles Unmenschen. Ich spreche bewusst nicht von Polen und Ungarn, wie Sie merken. EU-Mitglieder, die sich der Solidarität entziehen, müssen das auch spüren, etwa durch eine Verrechnung mit Fördermitteln. Deutschland muss wieder der Anwalt von Regeln werden. Das ist übrigens auch der Unterschied zwischen Euro- und Flüchtlingskrise. In der Euro-Krise hat Deutschland die Stabilitätsregeln verteidigt. In der Flüchtlingskrise hat Deutschland die europäischen Asylregeln einfach nicht mehr angewandt. Ich verstehe ja die ethische Abwägung von Frau Merkel. Aber von einer Kanzlerin erwarte ich, dass sie die Folgen ihres Handelns bedenkt. Die Grenzöffnung hat bei vielen Flüchtlingen falsche Erwartungen geweckt und für ganz Europa den Druck erhöht.

Frage: Wollen Sie nicht doch lieber in Stuttgart in die Regierung gehen? Dann könnten Sie über den Bundesrat sogar etwas von Ihrer Flüchtlingspolitik durchsetzen.

LINDNER: Wir hätten auch noch weitere Gründe. Wir haben eben über Digitalisierung, Bildung und Steuern gesprochen. Natürlich würde ich gern Verantwortung übernehmen, ist doch klar.

Frage: Just do it.

LINDNER: Wenn’s möglich ist – gerne.

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